Die letzten paar Wochen brachten wieder eine Vielzahl beunruhigender Nachrichten über den Atompfad:
- Mitte Juli erschien der Bericht „World Nuclear Industry Status Report 2015“[1], welcher jährlich die Entwicklung der Nuklearindustrie weltweit verfolgt. Er bestätigt einmal mehr die Trends der letzten Jahre: die Atomindustrie „ist auf Kurs“ und dieser Kurs führt konsequent und unerbittlich ins Aus, trotz den Zuwachsraten in den Märkten wie China und Indien. Derselbe Bericht bestätigt übrigens auch die Probleme und die Träumereien bei der Entwicklung der Reaktorlinien der dritten und vierten Generation.
- Das Trauerspiel um die EPR-Reaktoren in Olkiluoto und Flamanville (Areva-Projekte der dritten Generation) nimmt kein Ende, die industrielle Umsetzung verzögert sich seit vielen Jahren – 9 sind es inzwischen bei Olkiluoto und 6 bei Flamanville. Die Kosten steigen entsprechend an (Faktor 3 und mehr), die Anomalien beim Druckbehälter Flamanville könnten sogar das Aus für dieses Projekt bedeuten;
- In der Schweiz liefert vor allem Beznau negative Schlagzeilen[2], ein Werk, das Heinz Karrer, damals Axpo-Chef und heute Präsident von Economiesuisse, noch vor drei Jahren als „Weltklasse“ bezeichnet hatte[3]. Nach der Millionen-Panne mit dem neuen Deckel des Reaktordruckbehälters im letzten Mai, häufen sich die schlechten Nachrichten seit dem Sommer: Materialschwächen im Reaktordruckbehälter von Block 1, das Fehlen von wichtigen Dokumenten aus der Herstellungszeit, Zeitverzögerungen und Verschiebungen bei der Wiederinbetriebnahme, Kostenfolgen in der Grössenordnung von dutzenden von Millionen Franken. Auch die Platzierung der neuen Notstromaggregate in gebunkerten Gebäuden – aber unter dem Niveau eines Hochwassers[4] – dürfte noch Wellen reissen. Und nun hagelt es Kritiken wegen der Erdbebensicherheit eines Werkes, das direkt über einer grösseren Störungszone in der Nordostschweiz liegt[5]! Kaum erstaunlich darum, dass der Ruf nach Stilllegung des Werkes durch das Bündnis 90/die Grünen nun auch bereits aus dem fernen Berlin ertönt.
- Und wie schon üblich stolpert und stottert der Sachplan geologische Tiefenlager vor sich hin. Das Seilziehen hinter den Kulissen dreht sich zwar hauptsächlich um technische Fragen – etwa um die Qualität der Seismik, um Fragen der Stollen-Bewehrung und Lagertiefe, um die Qualität der Sicherheitsanalyse usw. Die Stimmung ist schlecht zwischen den verschiedenen Parteien und die Frustration wächst angesichts der Starrheit der verantwortlichen Entsorgungsinstitutionen. Wie immer wird dies auch wieder zu Zeitverlusten führen (siehe Blogbeitrag vom 20. März 2015 „60 Jahre plus …“). Und zu einer wachsenden Unruhe in den Standortgebieten. Undsoweiterundsofort …
Im Umgang mit den radioaktiven Abfällen ist festzustellen:
- Seit den 1970er Jahren behaupten die verantwortlichen Institutionen, die Entsorgung radioaktiver Abfälle sei technisch gelöst oder versprechen die „Gewähr für dauernde sichere Entsorgung und Endlagerung“ der radioaktiven Abfälle. Was aber effektiv geschieht, ist, dass die Abfälle in Zwischenlagern gestapelt werden;
- Die Befristung der Laufzeiten der fünf AKWs, welche vom UVEK auf das Jahr 1985 terminiert worden war, wurde fallen gelassen, obschon das Projekt „Gewähr“ erst 2006 vom Bundesrat akzeptiert wurde, also über 20 Jahre später und immer noch ohne Standort;
- Der Standort „Oberbauenstock“, an dem der GewährNachweis für schwach- und mittelaktive Abfälle geführt wurde, ist inzwischen stillschweigend aus dem Rennen gezogen worden: das Wirtgestein ist ungeeignet, der Platzbedarf nicht vorhanden, die logistischen Voraussetzungen (Zufahrt) für ein solches Projekt problematisch. Und während sich das Projekt „Gewähr“ in Luft auflöste hat das UVEK den Weiterbetrieb der Werke nicht mit weiteren Auflagen versehen. Alle Bundesbehörden wie auch das Ensi als Sicherheitsbehörde schweigen zu diesem Entscheid;
- Beim Entsorgungsnachweis für hochaktive Abfälle sind mit der massiven Verstärkung der Lagerstollen sicherheitsrelevante Veränderungen des Projektes vorgenommen worden, weil das ursprüngliche Projekt von einem stabilen Tongestein ausging. Hat dies etwa zu einer Überprüfung des Projektes geführt? Keineswegs. Das Ensi als Sicherheitsbehörde nimmt eine derartige Änderung kommentarlos hin.
- Inzwischen wurden die Laufzeiten der Werke in Etappen angehoben, zuerst von 30 auf 40 Jahre, dann von 40 auf 50 Jahre, nun ist schon von 60 Jahren die Rede oder sogar, dass keine Terminierung erforderlich sei;
- Nordostschweizer Kernkraftwerke (NOK), Energie de l’Ouest Suisse (EOS) und Berner Kraftwerke (BKW) wurden dafür alle in Holdings umgewandelt und geniessen den Status von Privatfirmen; zwar ist das Firmenkapital zum überwiegenden Teil öffentlich, aber die Entscheide werden der Atomindustrie überlassen. Und die öffentlichen Vertreter in den Verwaltungsräten nehmen diese Entwicklung wohlwollend hin;
- in den Parlamenten sind die Stimmen, die sich für die langfristigen Anliegen einsetzen, schwach; Entsorgungs-Fachleute und Universitäten schweigen mehrheitlich, weil sie ebenfalls Profit aus dieser Situation ziehen; die Bevölkerung interessiert sich nicht sonderlich für die radioaktiven Abfälle: zeitlich zu weit weg, das wird man ja wohl schon noch lösen …. ; undsoweiterundsofort …
Wer die gesamthafte Entwicklung in der nuklearen Entsorgung Schweiz betrachtet hat nicht den Eindruck, dass es den Verantwortlichen – also den Verursachern der Abfälle – tatsächlich um die Lösung dieses ernsthaften Problems geht. Man wird den Eindruck nicht los, dass es der Atomindustrie und ihrer Nagra um nichts anderes geht als um die papierne Rahmenbewilligung für die beiden Endlager für hochaktive beziehungsweise schwach- und mittelaktive Abfälle oder anders gesagt nur um einen Freipass für die endlose Laufzeit der Werke. Das war schon beim Projekt „Gewähr“ und den Kampagnen im kristallinen Grundgebirge das eigentliche Fernziel. Liegt die Rahmenbewilligung nämlich vor – was allerdings nicht vor dem Jahr 2030 sein dürfte – hat es die Atomindustrie geschafft, ihre Werke viereinhalb Jahrzehnte oder womöglich über 60 Jahre (Beznau) zu betreiben, ohne ein „Atomklosett“ zu bauen und einzurichten, geschweige denn für dessen Langzeitsicherheit zu sorgen. Zudem hält sie dann den Persilschein in Händen für einen Langzeitbetrieb der Werke ohne Ende und kann die Illusion von Viertgenerationwerken bewahren. Es mutet surreal an, dass unsere Sicherheitsbehörden und unsere politisch Verantwortlichen so eine Mogelpackung überhaupt zulassen. Kaum zu glauben auch, wie unsere heutige Gesellschaft die nächsten Generationen betrügt.
[1] https://www.worldnuclearreport.org
[2] https://energisch.ch
[3] https://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/unternehmen-und-konjunktur/Beznau-ist-Weltklasse/story/21797130?track
[4] https://www.youtube.com/watch?v=iYQmDSpGakw
[5] ENSI (2010): Gutachten des ENSI zum Rahmenbewilligungsgesuch der EKKB AG, Neubauprojekt Ersatzkernkraftwerk Beznau, S. 62
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