Titelbild: stacheliges Thema
Christophe Eisenring geht in der NZZ der Frage nach, was denn einer Renaissance der Kernkraft in Europa entgegensteht.
Der Artikel beginnt mit der Feststellung: ”Der Bau neuer Kernkraftwerke ist in Europa unattraktiv. Dies hat mit dem Ausstiegsentscheid diverser Länder zu tun – aber auch damit, dass die Zuverlässigkeit der Stromproduktion kaum honoriert wird.” Es folgt eine Aufzählung von Gründen, weshalb heute kaum neue Projekte für den Bau von neuen Kernkraftwerken bestehen:
- Hohe Baukosten, und v.a. riesige Kostenüberschreitungen im Vergleich zu den ursprünglichen Projekten.
- Zunehmende Sicherheitsanforderungen, welche die Kosten treiben.
- Zusammenbruch der europäischen Lieferkette, nachdem Siemens, der ehemalige deutsche Partner der französischen EdF mangels Aufträgen aus der Nukleartechnologie ausgestiegen ist.
- Schlechte Vergütung der Systemleistungen, also etwa der Entschädigung für die Überbrückung von Produktionslücken der Produzenten erneuerbarer Energie (Wind, Sonne).
All dem ist kaum etwas entgegenzusetzen. Aber die Argumentation ist unvollständig. Hier einige Ergänzungen:
- Die in England (Hinkley Point) Finland (Olkiluoto) und Frankreich (Flamanville) im Bau stehenden EPR-Reaktoren der sogenannten dritten Generation bringen bzgl. der Frage der radioaktiven Abfälle gegenüber den heute betriebenen Reaktoren der zweiten Generation keinen Fortschritt. Und da eben diese Abfälle der zweiten Generation noch immer (und für weitere Jahrzehnte) auf Entsorgung warten, ist schwer an neue Reaktoren zu denken.
- Von «Zuverlässigkeit» kann für die laufenden oder seit Jahren im Bau befindenden EPR-Reaktoren nicht die Rede sein! Sei es, dass die französischen Konstruktoren die Reaktoren nicht auf Schiene bringen (siehe oben), sei es, dass der Reaktor schwere Funktionsstörungen zeigt (Taishan in China).
- Reaktoren der «Vierten Generation» werden von einschlägigen Kreisen seit Jahren als Lösung all dieser Probleme gepriesen. Nur kommt auch die nach Jahrzehnten des Stillstands wieder aufgenommene Forschung und Entwicklung an diesen Reaktoren nur sehr langsam voran, und mit industrieller Reife dürfte nicht vor Jahrzehnten gerechnet werden, wenn es überhaupt je soweit kommen sollte.
- Im Gegensatz zum Betrieb von Sonnenpannels verlangt der Betrieb eines Kernkraftwerkes hoch qualifiziertes Personal. Dieses Personal kann heute in der Schweiz nur noch mit Mühe durch die Betreiber selbst ausgebildet werden. Reaktortechnologie und -sicherheit ist in technischen Hochschulen kaum mehr ein Thema, geschweige denn bei Studenten.
- Soll neue Kernkraft einen wesentlichen Beitrag zur Energiewende leisten, so muss sie in Kürze zur Verfügung stehen. Dies ist aber heute nicht denkbar, müsste doch für die Realisierung eines neuen Werkes mit einer Frist von mehr als 25 Jahren gerechnet werden. Selbst bei einer erneuerten Änderung des Kernenergiegesetzes wäre also ein Kernkraftwerk der dritten Generation (falls sie dann einmal wirklich laufen) nicht vor den 2050-er Jahren einsatzbereit. Und bis dann dürften die Preise für Photovoltaik weiter sinken und sich die Technologie für Energiespeicherung weiter entwickeln.
In Kenntnis dieser Sachlage muss man sich auch fragen, worauf die seit einigen Wochen beobachtete Presseaktivität um die Laufzeitverlängerung der bestehenden und den Bau neuer Kernkraftwerke abzielt. Dabei kann man wohl die Vorschläge der SVP (Martullo-Blocher in der NZZ vom 22.07.21 und Albert Rösti im Tagi vom 28.07.21) ausklammern, kurz nach dem (fahrlässigen und von der Partei gelobten) Verhandlungsabbruch mit der EU. Handelt es sich um eine richtige Sachdiskussion, oder geht es einzig um Stimmungsmache? Jedenfalls: die in etlichen Ländern seit längerem feststellbare Diskussion um neue Atomkraftwerke wird nun auch in der Schweiz wieder geführt – von den gleichen Strippenziehern, mit den gleichen Interessen und mit den gleichen Argumenten (siehe Artikel der preisgekrönten Schriftstellerin Joyce Nelson, www.joycenelson.ca).
Und: Den Nagel fast auf den Kopf getroffen hats der Tagi:
https://www.tagesanzeiger.ch/die-diskussion-ueber-ein-neues-akw-ist-eine-scheindebatte-601327430426
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