Download: KKL Ereignisse und Störfälle
lesen Sie auch: https://kotting-uhl.de/site/fessenheim-sorge-um-sicherheit-auf-deutscher-seite/
KKL- Störfälle 2019 siehe auch: https://www.ensi.ch/de/2019/05/12/schnellabschaltung-im-kkw-leibstadt-4/
KKL: 36. Betriebsjahr und noch immer nicht im Griff
Das Kernkraftwerk Leibstadt (KKL) ist das jüngste, grösste und teuerste Kernkraftwerk der Schweiz. In seinem 36. Betriebsjahr ist es allerdings bezüglich Betriebssicherheit noch immer nicht unter Kontrolle; so muss man es wohl als das unzuverlässigste schweizerische Kernkraftwerk mit den grössten nuklearen Risiken bezeichnen. In der Folge einer Reihe von neuen Störfällen und Unregelmässigkeiten ziehen wir Bilanz [1].
Das Kernkraftwerk Leibstadt (KKL) war im Jahr 1964 als 600-MW-Anlage mit Flusswasserkühlung geplant. Im Verlauf des Planungsprozesses kam in der Folge des Verbots der Flusswasserkühlung im Jahr 1971 ein Kühlturm hinzu, und die geplante Leistung wurde auf 900 MW erhöht. Auch der Preis erhöhte sich, nämlich von ursprünglich 2 Milliarden auf schlussendlich 4.8 Milliarden CHF. Damit war das Werk von Anfang an stark verschuldet. Am 15. Dezember 1984 nahm das KKL nach elf Baujahren den Betrieb auf.
Von 1984 bis 2012 erhöhte das KKL seine Leistung in 8 Schritten von 900 auf 1220 MW. In der Folge der «Dryout»-Störfälle (siehe unten), wurde die Leistung aber nach 2016 (in den Worten der Aufsichtsbehörde) wieder «leicht reduziert».
Eine bewegte Geschichte von Ereignissen und Störfällen
Die bewegte Geschichte des Kernkraftwerks Leibstadt liest sich als eine Liste von Ereignissen, Störfällen und Ausfällen [2]. Wir möchten an dieser Stelle an einige besonders markante nukleare und nicht nukleare Ereignisse erinnern [3]:
Brennstoffschäden durch Korrosion und Fretting
Schäden an Brennelementen sind insofern von Bedeutung, als sie den Strahlenschutz des Personals gefährden, zu grösseren radioaktiven Freisetzungen führen können und (schlimmer noch) Zweifel an der Integrität des Reaktorkerns wecken.
Brennelementschäden traten im KKL bereits in den 1990-er Jahren regelmässig auf [4]. 1995 ist in einem Bericht der Überwachungsbehörde folgender Eintrag zu finden: „Anlässlich der Präsentation des HVP” (Hochabbrand-Verifikationsprogramm) „erwähnte Westinghouse Atom Ende 1995, dass in einer ausländischen SWR-Anlage” (Siedewasseranlage) „bei einzelnen Hüllrohren die Oxidschicht im Bereich der Abstandhalter abgeblättert war, was auf eine erhöhte Korrosion in diesem Bereich hinwies.” [5]
Die Korrosion an Brennelementen wurde als sogenannte „Schattenkorrosion“ erklärt, „da sich die Struktur der Komponenten als ‚Schatten’ auf der Zirkaloyoberfläche abbildet.“ [6] Die HSK stellte damals fest: „Die Ursachen dieser Erscheinung sind noch nicht endgültig aufgeklärt.“ [7]
Ab dem Jahr 2000 ging die Erklärung für die Korrosionsphänomene in Richtung von „Fretting“ (Reibungsschäden), hervorgerufen durch Fremdkörper (Metallstücke, Schrauben, etc.) welche sich in den Abstandhaltern verklemmten. [8] Eine endgültige Erklärung hierfür blieb aber weiterhin aus.
Dryout 2012 – 2016
„Dryout“ (deutsch „Trockengehen der Wand beim Filmsieden “) ist ein Zustand im Reaktorkern, bei dem die Brennelemente stellenweise nicht mehr durch eine flüssige Phase gekühlt werden. „Dryout“ wird in der Literatur und auf elektronischen Plattformen zu Fragen der Kernenergie als gefährlicher Zustand eines Reaktors beschrieben[9]. Ein Reaktor, bei dem „Dryout“-Phänomene nachgewiesen werden, ist havariert. „Dryout“ kann bei raschem Ablauf degenerieren und bei ungünstigem Verlauf zu massivem Austritt von radioaktiven Substanzen ins Kühlwasser, beziehungsweise zu einem Schaden in der Geometrie der Brennstäbe und Brennelemente führen. „Dryout“ ist ein unkontrollierter Betriebszustand. Bei gestörter Geometrie ist die Möglichkeit den Reaktor abzuschalten gefährdet. Dann wird „Dryout“ zum Albtraum.
Die „Dryout“-Ereignisse im KKL in den Jahren 2012/2013 bis 2016 [10] sind – soweit bekannt – die schwersten Fälle dieser Art, die bis heute in der Geschichte der zivilen kommerziellen Nutzung der Kernenergie an Siedewasserreaktoren auftraten. Andere in der Literatur beschriebene Fälle [11] haben dieses Ausmass nicht erreicht.
Fehlende Kontrolle und Fälschung von Protokollen
Versagende Kontrolle: Durchbohrung des Primärcontainments im Jahr 2008 und deren Identifizierung 2014
Der «Vorkommensbearbeitungsbericht» des ENSI vom 27.10.2014 beschreibt das Ereignis wie folgt (Auszug): «Am 24. Juni 2014 wurde bei einer Begehung im Primärcontainment auf der Ebene +28 m festgestellt, dass die Halterungen für zwei Handfeuerlöscher mittels Bohrungen und Verschraubungen an der Stahlwand des Primärcontainments angebracht waren. Die Halterungen wurden umgehend entfernt und die durchgehenden Bohrungen provisorisch verschlossen.»
«Die insgesamt sechs Bohrungen waren wanddurchdringend und hatten einen Durchmesser von ca. 5.5 mm, wobei vier Bohrungen durch die eingedrehten Schrauben verschlossen waren. In einer Bohrung befand sich eine eingedrehte, aber am Schraubenkopf abgebrochene Schraube. Eine Bohrung war ohne Schraube, so dass eine durchgängige Öffnung mit einer lichten Weite von etwa 5.5 mm vom Primärcontainment in den Ringraum (Annulus) bestand. Bei den periodischen Begehungen des Primärcontainments blieben die Bohrungen unentdeckt, weil sie durch die Halterungen abgedeckt waren.»
Aus diesen Angaben kann man schliessen, dass aufgrund mangelnder Überwachung und Überprüfung von Unterhaltsarbeiten während rund sechs Jahren bei einem schweren Störfall radioaktive Stoffe durch die Wand des Primärcontainments des Reaktors in die Umwelt hätten gelangen können.
Zum Verständnis des heutigen Standes der (Un-)Sicherheit beim Betrieb des Kernkraftwerks Leibstadt, drängt sich die Erwähnung der Ereignisse der letzten Monate auf [12]:
- Kernkraftwerk Leibstadt: INES-1-Vorkommnis bei der Lagerung des Wasserabscheiders
«Im KKW Leibstadt ist es im September 2018 zu einer unerwarteten Erhöhung der Ortsdosisleistung am Abstellplatz des Wasserabscheiders gekommen. Dieses Vorkommnis wird vom ENSI der Stufe 1 auf der internationalen Ereignisskala INES zugeordnet.»
- Kernkraftwerk Leibstadt: Fälschung bei wiederkehrenden Funktionsprüfungen (Ereignis bereits oben erwähnt), 30. Januar 2019
«Ein Mitarbeiter des Kernkraftwerks Leibstadt hat seit 2016 Daten in Prüfprotokolle eingetragen ohne die Prüfung durchgeführt zu haben. Der Vorfall hatte keine unmittelbaren Auswirkungen auf den sicheren Betrieb des Kernkraftwerks. Weil es sich dabei aber um einen schweren Fall von menschlichem Fehlverhalten handelt, verlangt das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI jetzt eine tiefgreifende Überprüfung der Sicherheitskultur.»
- KKL: Eingeschränkte Verfügbarkeit von Sicherheitssystemen vom 4. Mai 2018
«Bei einem regelmässigen Test hat das Kernkraftwerk Leibstadt (KKL) am 4. Mai 2018 festgestellt, dass zwei Kühlwasserarmaturen im Notstandsystem SEHR (Special Emergency and Heat Removal System) fälschlicherweise geschlossen waren. Damit wäre im Bedarfsfall die Kühlung einer der beiden Hauptpumpen des Notstandsystems nicht gewährleistet gewesen. Die Armaturen waren seit dem vorhergehenden Test vom 23. Februar 2018 geschlossen.»
Aufsicht und nukleare Sicherheit
Dass die Betriebsleitung des KKL Mühe bezeugt, einen zuverlässigen und sicheren Betrieb zu garantieren, ist hinlänglich bekannt. Ebenso, dass das ENSI (und vorher die HSK) ebenfalls Mühe hat, dieses Kernkraftwerk effizient zu beaufsichtigen. Gründe dafür sind die Grundhaltung und die Aufsichtsmethoden der Sicherheitsbehörde.
Dies belegt einmal mehr der Jahresbericht 2018 des ENSI, wo geschrieben steht: «Rückblick auf 2018: Kernanlagen sind im letzten Jahr sicher betrieben worden». Will heissen: Was sind schon lückenhafte Kontrolle und die Fälschung von Protokollen? Wobei sich diese Feststellung nahtlos an das Motto des ENSI-Direktors anschliesst (Zitat)[13]: «Die Frage ist, welche Arbeitshypothese wir unserer Aufsichtsfunktion zugrunde legen. Zwei Varianten stehen zur Wahl: Entweder „Die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich sicher“ oder „die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich unsicher.“ Wir gehen, wie ich schon verschiedentlich dargelegt habe, von der ersten Arbeitshypothese aus, die wir in einem laufenden internen Prozess fortdauernd mit Daten und Fakten untermauern.»
(Sie haben richtig gelesen: «untermauern», nicht etwa «prüfen»).
Nach den jüngsten Ereignissen schreibt nun das ENSI[14]: «Leider gab es in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Vorfällen aufgrund menschlichen Fehlverhaltens im KKL“, sagt Georg Schwarz. „Das ENSI hat deshalb erste Massnahmen ergriffen, die gewährleisten, dass die Sicherheitskultur im KKL nachhaltig verbessert wird.“
«ENSI stellt zwei Forderungen:
Konkret zu diesem Vorkommnis stellt das ENSI zwei Forderungen an das KKL: Zum einen muss das KKL dieses Vorkommnis analysieren und darlegen, warum die bisher getroffenen Massnahmen keine Wirkung gezeigt haben. Gestützt auf diese Erkenntnisse muss es seine Massnahmen gegebenenfalls anpassen.
Zum anderen muss das KKL prüfen, warum ein Dosisleistungsmessgerät kein akustisches Warnsignal aufwies und welche Bedeutung das fehlende Signal für den Ablauf des Vorkommnisses hatte.»
Und[15]: «Zudem prüft das ENSI derzeit, ob zusätzlich auch eine internationale Überprüfung der operationellen Sicherheit, eine sogenannte OSART-Mission, angeordnet werden soll. Das Operational Safety Review Team (OSART) ist aus Experten ausländischer Kernanlagen, Aufsichtsbehörden und technisch-wissenschaftlichen Institutionen zusammengesetzt. Sie sind beauftragt, im Namen der IAEA die Sicherheit im Betrieb von Kernkraftwerken zu überprüfen. Die letzte OSART-Mission in der Schweiz fand 2012 in Mühleberg statt.»
Wobei zu ergänzen ist, dass diese OSART-Mission in erster Linie dazu diente, den Weiterbetrieb des Kernkraftwerks Mühleberg mit gerissenem Kernmantel zu decken.
Frage an Radio Eriwan[16]: Geht es auch hier darum, mit Hilfe von OSART das zu decken, was an sich nicht mehr zu verantworten ist? Will heissen: Gegenseitiges Schulterklopfen der nuklearen Sicherheitsbehörden.
Referenzen
[1] Siehe auch unser Beitrag : https://www.nuclearwaste.info/albtraum-dryout/; wir übernehmen hier auch Passagen aus diesem Beitrag.
[2] siehe beispielsweise https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Leibstadt ; vollständige Liste: Aufsichtsberichte des ENSI auf www.ensi.ch.
[3] Die folgenden Ausführungen sind in einer technisch nicht ganz einfachen Sprache geschrieben ; der Leser möge bitte diese etwas « pinggelige » Schreibweise verzeihen ! Sie scheint uns aber im gegebenen Fall angebracht.
[4] 1997: Presserohstoff zu Brennelementschäden im KKW Leibstadt
https://www.admin.ch/cp/d/33C65202.2171@gsesi.gseved.admin.ch.html
[5] HSK (2001): Erhöhte lokale Korrosion von SVEA-96-Brennelementen Abschlussbericht , HSK 12/744, 21. November 2001, S. 2, https://static.ensi.ch/1314203180/korrosion_svea-96-b.pdf
[6] HSK (1998): Stellungnahme zur erhöhten lokalen Korrosion an SVEA96-Brennelementen im Kernkraftwerk Leibstadt (KKL), Würenlingen Mai 1998 , S. 6, https://static.ensi.ch/1314203966/stellungnahme_elk_kkl.pdf
[7] HSK (1998): Stellungnahme zur erhöhten lokalen Korrosion an SVEA96-Brennelementen im Kernkraftwerk Leibstadt (KKL), Würenlingen Mai 1998 , S. 6, https://static.ensi.ch/1314203966/stellungnahme_elk_kkl.pdf
[8] HSK (1998): Stellungnahme zur erhöhten lokalen Korrosion an SVEA96-Brennelementen im Kernkraftwerk Leibstadt (KKL), Würenlingen Mai 1998
[9] https://www.euronuclear.org/e-news/e-news-19/icapp.htm
[10] ENSI (2017): „Ein Hüllrohrschaden stellt keine Gefahr für Mensch und Umwelt dar“, https://www.ensi.ch/de/2017/02/16/ein-huellrohrschaden-stellt-keine-gefahr-fuer-mensch-und-umwelt-dar/
[11] Becker, K.M., et al. (1990): Analysis of the Dryout-incident in the Oskarshamn 2 boiling water reactor, International Journal of Multiphase Flow, Volume 16, Issue 6, November-December 1990, pages 959-974, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/030193229090101N; Zu Dryout-Phänomenen in anderen Reaktor-Typen, siehe etwa Information zu Candu-Reaktoren in https://www.thermopedia.com/de/content/4547/; McGrath, M.A. et al (o.J.): Investigation oft he Impacts of In-Reactor Short-Term Dryouts Incidents on Fresh and Pre-Irradiated Fuel Cladding, OECD Halden Reactor Projects, Norway, https://www.nrc.gov/docs/ML0230/ML023050061.pdf; Dryout-Phänomene bei Flüssigmetall-Brütern siehe https://www.ans.org/pubs/journals/nse/a_17719; etc
[13] https://www.ensi.ch/de/2012/07/08/gegenseitiger-respekt-ist-dreh-und-angelpunkt-der-arbeit-des-Ensi/
[14] https://www.ensi.ch/de/2019/02/07/kernkraftwerk-leibstadt-ines-1-vorkommnis-bei-der-lagerung-des-wasserabscheiders/
[15] https://www.ensi.ch/de/2019/01/30/kernkraftwerk-leibstadt-faelschung-bei-wiederkehrenden-funktionspruefungen/
[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Radio_Eriwan Radio Eriwan (auch Sender Jerewan oder Radio Jerewan) ist ein fiktiver Radiosender, der unter dem sozialistisch-kommunistischen Sowjetregime Zuhörerfragen beantwortete. Dies entspricht einer Kategorie politischer, teils auch unmoralischer Witze, die in den sozialistischen Ländern des 20. Jahrhunderts „spielen“. In der DDR kursierten diese Witze mit der typischen Einleitung „Anfrage an den Sender Jerewan: …?“, in der Bundesrepublik mit „Frage an Radio Eriwan: …?“ Die Antworten auf die Fragen beginnen zumeist mit „Im Prinzip ja, aber …“
sfueglister
Danke für diesen Artikel. Die Rolle der Aufsicht müsste an dieser Stelle beispielhaft untersucht werden. Sie lehnt es ab eine polizeiliche Aufgabe darin zu sehen, sondern spielt – nach amerikanischem Modell – eine begleitende Schutztruppe. Die Sicherheit (-sgarantie) obliegt den Betreibern, die Verantwortung auch. Ergo ist es nicht Aufgabe Störungen technischer oder menschlicher Art als potentiell systemgefährdende Fehler zu betrachten und zu handeln, sondern es dem Betreiber zu überlassen wie er Mängel behebt – oder eben kaschiert (was sich u.U. bei den immer wiederkehrenden menschlichen Fehlverhalten manifestiert). Man muss immer wieder an Fukushima erinnern: dort wusste man um die mögliche Höhe des Tsunamis, die Pläne für eine höhere Schutzmauer liess man aber jahrelang schubladisiert. Eine zentrale Erkenntnis – die systematische Fehlkonstruktion der Aufsicht – wurde ignoriert.