Marcos Buser und Walter Wildi
Die Auswahl des Standorts Nördlich Lägern im Spätsommer 2022 hat viele Beobachter des Standortwahlprozesses überrascht, nachdem die Nagra während Jahrzehnten Nördlich Lägern als zweitrangigen Reservestandort bewertet hatte. Der vorliegende Artikel zeichnet in zwei Teilen die eigentümliche Auswahl des Standortes nach. Im ersten Teil wird das Hin- und Her bei der Wahl der Kriterien und der schlussendlichen Auswahl des Standorts (bei der allerdings die Hydrogeologie, d.h. das Tiefengrundwasser vergessen ging) betrachtet. Im zweiten Teil werden die Prozesse und die dahinterliegenden Strukturen analysiert und die Mechanismen dieser Fehlpanung dargelegt.
12. September 2022: «Die Geologie hat gesprochen»
Am 12. September 2022, 50 Jahre nach der Gründung Nagra, stand deren neuer CEO Matthias Braun mit dem Slogan vor der Presse «Die Geologie hat gesprochen», um den erkorenen Standort für die Oberflächenanlagen eines geologischen Tiefenlagers für radioaktive Abfälle in der Region Nördlich Lägern, im Haberstal (Gemeinde Stadel, ZH) anzukündigen. Gemäss Plan der Nagra soll die Endkonditionierung der Abfälle dereinst in Würenlingen, im Kanton Aargau, wo sich bereits das Zwischenlager ZWILAG befindet, vorgenommen werden.
Diese Ankündigung erschien als interessanter Schachzug, verteilte er doch die Last der nuklearen Entsorgung auf die beiden am meisten in der Kernenergie engagierten Kantone Aargau und Zürich, und obendrein im offensichtlichen Einverständnis mit den beiden Kantonsregierungen.
Ernüchternd war dann allerdings die Begründung für die Wahl des Standorts für das Tiefenlager. Hierzu liest man in der zu diesem Anlass veröffentlichten Broschüre der Nagra[1]:
- «In Nördlich Lägern ist die Langzeitstabilität der geologischen Barriere am grössten. Der Schutz der Barriere vor künftiger Erosion ist aufgrund der grössten Tiefenlage und durch über dem Wirtgestein liegende erosionsresistente Gesteine in diesem Gebiet am besten.»
- «In Nördlich Lägern ist der geeignete Bereich und damit die Flexibilität bei der Anordnung des Lagers am grössten.»
- «Im Gebiet Nördlich Lägern gibt es den grössten zusammenhängenden Bereich ohne Hinweise auf Störungen. In diesem Gebiet ist die Flexibilität für die Anordnung des Lagers deshalb am grössten.»
Am besten und am grössten. Denn schaut man genauer hin, so ist diese Argumentation, welche die Nagra bis heute nicht wissenschaftlich belegt hat, brüchig:
- Wie wir im Blog-Beitrag vom 27. Februar 2023 darlegten[2], sind die Eigenschaften des Opalinustons in allen drei aus der Etappe 2 des «Sachplans geologische Tiefenlager»[3] hervorgegangenen Standortregionen (Jura Ost, Nördlich Lägern, Zürich Nordost) etwa gleichwertig. Einzig die grössere Tiefe (800 – 900 m)[4] unter der Erdoberfläche kann eventuell als Argument für den Standort Nördlich Lägern gelten.
- Nördlich Lägern liegt gleich ausserhalb der äussersten Endmoräne der letzten Eiszeit. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Standort bei einer künftigen Vereisung unter Gletschereis gerät ist damit grösser, als etwa in der Region Jura Ost[5].
- Nördlich Lägern liegt über dem Permo-Karbon-Trog mit seinen Randstörungen, lehnt sich an eine tektonische Störungszone an und wird durch eine andere Störung gequert. Zudem ist das Gebiet gespickt mit Erdwärmesonden, welche in Tiefen bis 400 m abgeteuft wurden.[6] Nur ein kleines Gebiet von etwa 7 km2 ist weder durch tektonische Störungen, noch durch tiefe Erdwärmesonden betroffen.
- Ausserdem läge ein Tiefenlager Nördlich Lägern unter hohem Grundwasserdruck [7] und der ständigen Bedrohung eines Wassereinbruchs.
Immer noch alles am besten und am grössten? Man kommt nicht um die Frage herum: Aus welchen wirklichen Gründen wurde der Standort Nördlich Lägern den Standorten Zürich Nordost und Jura Ost vorgezogen? Und wie lief der Auswahlprozess? Diesen Fragen gehen wir in diesem (und dem folgenden) Beitrag nach.
Etappe 2 des Sachplans, Aktennotiz AN 11-711 und die Rückkehr von «Nördlich Lägern» in die Liste der potentiellen Entsorgungsstandorte
Der «Sachplan geologische Tiefenlager» aus dem Jahr 2008 (Revision 2011) beschreibt das Vorgehen bei der Suche nach Standorten für geologische Tiefenlager für radioaktive Abfälle in der Schweiz. In Anlehnung an diesen Plan schlug die Nagra bereits im Jahr 2008 sechs Standorte für schwach- und mittel-, sowie für hoch radioaktive Abfälle (SMA und HAA) vor [8]: Südranden, Zürich Nordost (Weinland), Nördlich Lägern, Jura Ost (Bözberg), Jura Südfuss und Wellenberg. In Etappe 2 sollte diese Liste gemäss Sachplan im Rahmen eines komplexen Prozesses auf mindestens zwei Standorte reduziert werden. Und hier beginnt die eigentliche Geschichte des Standortes Nördlich Lägern.
Noch während der Anlaufzeit der Etappe 2 wurde deren regulärer Ablauf durch die Nagra unterlaufen. Auf Grund einer Indiskretion publizierte die Sonntagszeitung vom 7. Oktober 2011 eine interne Notiz, die «Aktennotiz AN 11-711». Diese beschrieb, auf welche Weise die Nagra den Sachplan zu manipulieren gedachte, sodass sie schlussendlich die zwei Standorte Bözberg (Jura Ost) und Zürcher Weinland vorschlagen würde. Die Karten der Standortwahl waren also «gezinkt», auch wenn das Bundesamt für Energie versprach, die Nagra nach dieser Informationspanne «an die Kandare» zu nehmen und zu «coachen».
Nach Abschluss der Etappe 2 präsentierte die Nagra in ihrem Fachbericht NTB 14-001 die Standortauswahl für die Etappe 3 und der weiter zu untersuchenden geologischen Standortgebiete. Folgend Standorte machten das Rennen in Etappe 2 und wurden in Etappe 3 weiter untersucht (S. 364), und siehe da:
«Es sind dies für das SMA-Lager die geologischen Standortgebiete
- Zürich Nordost (ZH, TG) mit dem Standortareal ZNO-6b und
- Jura Ost (AG) mit dem Standortareal JO-3+
und für das HAA-Lager die Standortgebiete
- Zürich Nordost (ZH, TG) mit dem Standortareal ZNO-6b und
- Jura Ost (AG) mit dem Standortareal JO-3+.
In beiden Gebieten besteht das Potenzial, das SMA- und das HAA-Lager am selben Standort anzuordnen und dort ein sogenanntes Kombilager zu erstellen.»
Sodann: «Für das HAA-Lager wird aufgrund eindeutiger Nachteile beim Vergleich mit den vorgeschlagenen Standortgebieten das folgende Standortgebiet zurückgestellt:
- Nördlich Lägern (AG, ZH) mit den Standortarealen NL-2 und NL-6».
Die Standorte Jura Ost und Zürich Nordost waren damit, wie in der Aktennotiz AN 11-/11 vorgesehen, gesetzt. Die Nachteile des aus dem Rennen ausgeschiedenen Standortes Nördlich Lägern wurden im NTB 14-001 der Nagra wie folgt beschrieben:
SMA – Lager (S. 376)
«Nördlich Lägern: Das Standortgebiet wird wegen folgender eindeutiger Nachteile zurückgestellt: In diesem Standortgebiet besteht nur ein ungenügendes Platzangebot untertags im bevorzugten Tiefenbereich; es gibt deshalb keine Möglichkeit zur Anordnung des Lagers in einer bezüglich geotechnischer Bedingungen geeigneten Tiefenlage. Bei grösseren Tiefen wäre das Platzangebot untertags zwar etwas grösser, aber die geotechnischen Herausforderungen wären gross und können zu einer erheblichen Schädigung der Barrieren führen, welche klar ausserhalb des erwünschten Bereichs liegt.»
HAA – Lager (S. 379)
«Das Standortgebiet wird wegen folgender eindeutiger Nachteile zurückgestellt: In diesem Standortgebiet gibt es nur ein ungenügendes Platzangebot untertags im bevorzugten Tiefenbereich; es gibt deshalb keine Möglichkeit zur Anordnung des Lagers in bevorzugter Tiefenlage im Hinblick auf die bautechnische Machbarkeit. Bei grösseren Tiefen wäre das Platzangebot untertags zwar etwas grösser, aber die geotechnischen Herausforderungen wären gross und können zu einer erheblichen Schädigung des Barrierensystems führen, welche klar ausserhalb des erwünschten Bereichs liegt.»
Der Standort Nördlich Lägern fiel also aus dem Rennen, v.a. weil es gemäss Nagra nicht möglich sei, ein Lager in einer Tiefe von mehr als 700 m sicher zu bauen und zu betreiben.
Damit wurde der Vorentscheid der Nagra aus dem Jahr 2011 (Aktennotiz AN 11-711) in peinlicher Weise bestätigt, was wohl weder für die betroffenen Kantone, noch für das Bundesamt akzeptabel war. Die Antwort liess daher nicht lange auf sich warten.
Ein Gutachten, welches das ENSI beim Geologiebüro von Moos, Zürich, bestellt hatte und dessen Ergebnisse am 9. September 2015 anlässlich einer Pressekonferenz des BFE der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, widersprach der Nagra. Das ENSI teilte dazu an einer Medienveranstaltung vom 11. Januar 2016 folgendes mit: « Zu einem von 40 Indikatoren, nämlich ‘Tiefenlage im Hinblick auf bautechnische Machbarkeit, Nachforderungen an die Nagra zu stellen. Anfang November 2015 legte das ENSI seine konkrete Kritik vor, die von der Nagra eingereichten felsmechanischen Grundlagen, getroffenen Annahmen und gewählten Entwurfsindikatoren seien gemäss den Prüfergebnissen nicht ausreichend und nicht robust’ … Auch für das ENSI sind Auswirkungen der geforderten Nachlieferungen auf das Gesamtsystem möglich: ‘Wo immer eine Anpassung der Tiefenlage im Hinblick auf die bautechnische Machbarkeit notwendig ist, sind ggf. auch die Bewertungen weiterer sich am Lagerperimeter orientierender Indikatoren anzupassen’ (ebd., S. 8). Einen Monat später kündigte die Nagra an, die damit verbundenen Nachlieferungen von Daten ‘bis Mitte 2016» einzureichen (gemäss BFE 2015).» (S. 7)
Am 16. Januar 2016 erschien sodann der «Fachbericht vom 11. Januar 2016 zum 2×2-Vorschlag der Nagra» der Kantonalen Expertengruppen «Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone (AG SiKa)» und «Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES)». Die Stellungnahme hält namentlich fest (S.3)[9]:
- «Der Weiterzug der beiden Standortgebiete Zürich Nordost (ZNO) und Jura Ost (JO) in die Etappe 3 ist nachvollziehbar.
- Die Zurückstellung von Nördlich Lägern (NL) ist nicht gerechtfertigt. Das Argument eines zu geringen Platzangebots wegen Einschränkungen durch Tiefenlage und Tektonik hält einer näheren Überprüfung nicht stand.»
Diese Aussage, welche dem wichtigsten Argument der Nagra zum Ausschluss von Nördlich Lägern diametral widersprach, stützte sich auf ein Gutachten von Prof K. Kovari unter dem Titel: «Die bautechnische Machbarkeit der Lagerstollen. Einfluss der Tiefenlage auf die Langzeitsicherheit. Beurteilung der Untersuchungen der Nagra.» Mit dieser Beurteilung brach die kantonale Expertengruppe mit dem «2×2-Vorschlag» der Nagra und dem toxischen Erbe der Aktennotiz AN 11-711.
Die Aufsichtsbehörde, d.h. das Eidgenössischen Nuklearen Sicherheitsinspektorats (ENSI), doppelte im April 2017 im Sinne der kantonalen Arbeitsgruppe AG SiKa/KES nach:[10]
«Das Vorgehen der Nagra unter Einbezug überwiegend konservativer geomechanischer Grundlagen und vereinfachter Berechnungsannahmen bestätigt aus Sicht des ENSI grundsätzlich die bautechnische Machbarkeit in den Standortgebieten. Für die quantitative Beurteilung der Tiefenlage und den Nachweis eindeutiger Nachteile sind jedoch die geomechanischen Grundlagen nicht belastbar. Dies betrifft insbesondere die von der Nagra getroffenen Annahmen zu den geomechanischen Parametern und die fehlenden standortspezifischen Daten.
Aus Sicht des ENSI gibt es keine zwingenden bautechnischen Gründe, die eine Einschränkung der Tiefenlage in Etappe 2 SGT stützen würden. Daher stimmt das ENSI der Begrenzung der Tiefenlage für SMA- und HAA-Lager auf 600 bzw. 700 m u. T. durch die Nagra nicht zu und identifiziert für das Standortgebiet Nördlich Lägern keinen eindeutigen Nachteil.»
Damit war der Fall entschieden: Neben «Zürich Nordost» und «Jura Ost» gesellte sich «Nördlich Lägern» zu den in Etappe 3 weiter untersuchten potenziellen Lagerstandorten. Die darauffolgenden Arbeiten der Nagra in dieser letzten Etappe umfassten namentlich weitere Tiefbohrungen in den drei Standortregionen.
Die Bekanntgabe des gewählten Standorts «Nördlich Lägern» am 12. September 2022 erfolgte schliesslich mehr als ein Jahr vor der vollständigen Publikation der Resultate der zur Ergänzung der Kenntnisse abgeteuften Tiefbohrungen. Die Resultate dieser Tiefbohrungen wurden somit in weitgehend unverdauter Form in den Entscheid einbezogen. Andere als wissenschaftliche Argumente hatten folglich beim Standortentscheid mitgespielt. Dass der Standort Nördlich Lägern nach der negativen Argumentation der Nagra in ihrem Fachbericht NTB 14-001 den andern – besser benoteten – Standorten vorgezogen wurde, bestätigt diese Vermutung.
Auswahlkriterien
Der Konzeptteil des Sachplans enthält 12 Auswahlkriterien für den Standort eines geologischen Tiefenlagers. Diese wurden in der Etappen 1 zur Ersteinengung der Standorte angewendet[11]. Danach fällt auf, dass sich die Akteure offensichtlich nicht mehr bemühten, die Kriterien zur Festlegung des «am besten geeigneten Standort» streng anzuwenden. Ein gutes Beispiel hierfür betrifft das Verständnis des Tiefengrundwassers:
- Der Schlussbericht der Nagra zur Etappe 2 (NTB 14-001) erwähnt die Hydrogeologie und Tiefengrundwasser einzig im Zusammenhang mit Nutzungskonflikten (Kriterium 2.4, ein einziges Zitat). Die Frage der Druck- und Fliessverhältnisse werden nicht angesprochen. Etwa die Tatsache, dass das Tiefengrundwasser (und Thermalwasser) aus dem Muschelkalk das Tiefenlager aufgrund des artesischen Druckes beeinflussen könnte. Oder die Frage der Lokalisierung der Exfiltration von Tiefengrundwasser aus dem Lagerbereich südlich oder nördlich des Rheins (anders ausgedrückt: liegen die Quellen des Malm- und des Muschelkalk-Grundwasserstroms, welche das geologische Tiefenlager über- und unterfliessen, in der Schweiz oder in Deutschland ?). Selbst der eigene ausführliche Bericht zur regionalen Grundwassermodellierung NAB 13-23 wird nicht erwähnt.
- Bei der Beurteilung des Fachberichtes des Nagra beschränkt sich das ENSI (2017, 33/540, S. 60, 61) auf die Erwähnung der Oberflächengrundwässer und zitiert zur Frage des Tiefengrundwassers einzig eine alte Arbeit betreffend Exfiltrationsgebieten[12]. Die Grundwasserverhältnisse an in den drei potentiellen Lagergebieten der Nagra werden nicht betrachtet.
- Schlimmer noch: Im Bericht der Fachgruppe der Kantone AG SiKa/KES (11.012016) figuriert weder der Begriff “Hydrogeologie”, noch der Begriff “Grundwasser”. Die AG Sika fokussierte sich auf 4 Kriterien und stellte die Auswahl der Arbeitsschwerpunkte wie folgt dar: «Angesichts der Komplexität der Materie und infolge knapper eigener Mittel entschied die AG SiKa/KES, sich bei ihrer Beurteilung auf vier Schwerpunkte zu konzentrieren: Seismik und Tektonik (neuere 2D-Seismik-Daten aus Standortgebieten vorhanden), Geomechanik (Rolle der Tiefenlage), Erosion (minimale Tiefenanforderung) und Dosisberechnungen (wichtige Argumentationsstütze wegen behördlicher Vorgaben).» (S. 6) Eine Begründung für diese Auswahl fehlte.
- In ihrem ergänzenden Bericht aus dem Jahr 2017[13] (Kapitel 8) korrigiert die Arbeitsgruppe diesen Patzer mit einem strengen Kommentar zur fehlenden Analyse der Grundwasserverhältnisse durch die Nagra:
«Wasser ist ein wichtiges Transportmedium für radioaktive Stoffe, um aus dem geologischen Untergrund in die Umwelt zu gelangen. Kenntnisse der tiefen Hydrogeologie im Umfeld eines Tiefenlagers sind also unerlässlich, da der Transport der Radionuklide in die Biosphäre, sofern sie den einschlusswirksamen Gebirgsbereich verlassen haben, über die Tiefenaquifere stattfindet. Eine detaillierte Kenntnis des vorherrschenden Tiefenwasserregimes mit präferenziellen Fliesswegen in den Standortregionen und belegbaren Einzugsgebieten der Exfiltrationsbereiche
sind eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Standortgebiete (z. B. mittels Dosisberechnungen) und unabdingbar für die künftige Planung (Meidung von Nutzungskonflikten, geochemische Bedingungen, Monitoring usw.).
Die in Etappe 2 vorgelegten Dokumente, allen voran des zusammenfassenden NTB 14-02, Dossier V (Nagra 2014f), zeigen, dass (neben grundsätzlichen, weitgehend gesicherten Aussagen über die vertikalen hydraulischen Gradienten oberhalb und unterhalb des Opalinustons) im Bereich der Lagerperimeter die massgebenden Grundwasserfliessverhältnisse nicht konkret erfasst sind. Dies bezieht sich nicht nur auf die stockwerksbezogenen Grundwasserisohypsen und Fliesswege, sondern auch auf genauso wichtige Angaben zum Mengendurchsatz auf den jeweiligen Fliesswegen bei unterschiedlichen Ausbreitungsgeschwindigkeiten (unbekannte Durchlässigkeiten und Transmissiviäten).
Die regionalen Modellierungen beschränken sich bisher auf Fallstudien unter verschiedenen Annahmen der hydrogeologischen Wirksamkeit von Störungszonen, wobei das Aussagevermögen dieser Modellierungen auch durch noch so umfangreiche Kompilationsbemühungen aus dem äusseren Umfeld nicht in der erforderlichen Eindeutigkeit, das heisst mit konkreten Belegen, erreicht werden kann. Eine differenzierte Bewertung und Kritik wurde bereits im Expertenbericht zu den Karstphänomenen im Auftrag des ENSI (SISKA 2015, Kap. 3.1.1) vorgelegt. Auch die KNS hat Handlungsbedarf erkannt (KNS 2017, S. 18 und 37).
Die für Etappe 3 von der Nagra vorgesehenen Sondierbohrungen können nur partiell Hinweise auf das Tiefenwasserregime liefern, und eine zielgerichtete Erweiterung der Untersuchung der heute bekannten Gegebenheiten und der daraus ableitbaren Ungewissheiten ist nicht geplant. Keines der drei grossen Nagra-Programme – 3D-Seismik, Sondierbohrungen und Quartäruntersuchungen (Nagra 2014k, Nagra 2016a) – beinhaltet eine flächendeckende Untersuchung der hydrogeologischen Situation, wie sie für das Gesamtverständnis notwendig ist. Hierfür müssen weitere Kenntnisse insbesondere der Druckverhältnisse, der präferenziellen Fliesswege, der Verweilzeiten und der Exfiltrationszonen durch zielgerichtete Untersuchungen gewonnen werden.»
Damit anerkennt die kantonale Arbeitsgruppe die Wichtigkeit des Verständnisses der Grundwasserverhältnisse, die Tatsache, dass die Nagra gerade diese wichtige Frage bei der Standortfestlegung praktisch ausgeklammert hatte[14] und die diesbezüglichen Schwächen des Untersuchungsprogramms der Nagra in Etappe 3.
Zu dieser Problematik gehört auch jene der zahlreichen Erdwärmesonden Nördlich Lägern, welche die Hydrogeologie bis in eine Tiefe von 400 m unter dem Boden beeinflussen können. Diese Sonden werden durch die Nagra und das ENSI als Informationsquellen erwähnt, aber durch die AG SiKa/KES (2017) vollständig ignoriert.
Das Tiefengrundwasser ist nicht ein x-beliebiger Parameter der Sicherheit eines geologischen Tiefenlagers. Es spielt eine Schlüsselrolle beim Bau und Betrieb des Lagers und ist, im Falle eines Versagens der Lagerbarrieren, aus welchem Grund auch immer (Barrierenleck, Störfall, Unfall bei der Einlagerung oder während dem Lagerbetrieb), für den Transport der radioaktiven Stoffe in die Umwelt verantwortlich. Ohne eine gründliche Kenntnis der Grundwasserverhältnisse an einem Lagerstandort und in dessen Umgebung kann die Lagersicherheit nicht garantiert werden.
Schlussfolgerung
Wie aus den obigen Ausführungen hervorgeht, kann man die Auswahl des Entsorgungsstandortes Nördlich Lägern aus den bis anhin durch die Nagra publizierten Informationen und Argumentationen nicht nachvollziehen. Besonders schwer wiegt dabei, dass gewisse, für die Sicherheit eines geologischen Tiefenlagers absolut wichtige Auswahlkriterien, bei der Standortwahl in den Etappen 2 und/oder 3 schlicht ignoriert wurden. Damit lässt sich die Wahl von Nördlich Lägern zum Entsorgungsstandort wissenschaftlich nicht begründen. Es bleiben somit die Politik und die hässliche Art, wie dieser «Lausbubenstreich» zustande kam.
Dieser Prozess wird im zweiten Teil unseres Beitrags untersucht.
[1] Nagra, 12. September 2022: Der Standort für das Tiefenlager. Der Vorschlag der Nagra. Wettingen, 68 S.
[2] https://www.nuclearwaste.info/jo-nl-zno-ansatz-zu-einem-standortvergleich-1/
[3] BFE 2008/2011: Sachplan geologische Tiefenlager, Konzeptteil.
[4] https://www.nuclearwaste.info/jo-nl-zno-ansatz-zu-einem-standortvergleich-1/
[5] https://www.nuclearwaste.info/jo-nl-zno-ansatz-zu-einem-standortvergleich-2-gletschererosion/
[6] https://www.nuclearwaste.info/jo-nl-zno-ansatz-zu-einem-standortvergleich-2-gletschererosion/
[7] https://www.nuclearwaste.info/ein-geologisches-tiefenlager-in-gespanntem-grundwasser/
[8] NAGRA 2008: Vorschlag geologischer Standortgebiete für das SMA- und das HAA-Lager:
Begründung der Abfallzuteilung, der Barrierensysteme und der Anforderungen an die
Geologie Bericht zur Sicherheit und technischen Machbarkeit. Technischer Bericht NTB 08-
05, Wettingen.
[9] AG SiKa/KES 2016: Sachplan Geologische Tiefenlager, Etappe 2 Fachbericht der AG SiKa/KES vom 11.1.2016 zum 2×2-Vorschlag der Nagra. Zürich
[10] ENSI 2017 : Sicherheitstechnisches Gutachten zum Vorschlag der in Etappe 3 SGT weiter zu untersuchenden geologischen Standortgebiete. ENSI 33/540, Brugg, April 2017.
[11] Die « Affäre Aktennotiz AN11-711 » ausgenommen.
[12] Nagra 2014 : Charakteristische Dosisintervalle und Unterlagen zur Bewertung der Barrierensysteme. NTB 14-003
[13] AG SiKa/KES 2017 : Sachplan geologische Tiefenlager, Etappe 2, Fachbericht zu Etappe 2, August 2017
[14] Siehe dazu unseren Blogbeitrag : https://www.nuclearwaste.info/ein-geologisches-tiefenlager-in-gespanntem-grundwasser/.
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