Revision N° 1
Titelbild: Bözberg, Rang 1 der betrachteten Standorte
Einführung
In unserem Blog-Beitrag vom 22. Oktober 2023 [1] beschrieben wir die Geschichte der Standortsuche für ein geologisches Tiefenlager für radioaktive Abfälle seit 1969, dem Jahr, in dem das Kernkraftwerk Beznau 1 ans Netz ging. Der letzte Zyklus dieser Standortwahl, der am 12. September zur Bezeichnung des Lagerstandorts Nördlich Lägern durch die Nagra führte, verlief wie folgt:
Im Jahr 2008 publizierte der Bund den «Sachplan geologische Tiefenlager», welcher die Standortsuche für ein geologisches Tiefenlager neu in drei Etappen gemäss Raumplanungsgesetz organisiert[2]. In Anlehnung an diesen Plan präsentierte die Nagra im selben Jahr sechs Standorte für schwach- und mittel- (SMA), sowie für hoch radioaktive Abfälle (HAA) vor[3]: Südranden, Zürich Nordost (Weinland), Nördlich Lägern, Jura Ost (Bözberg), Jura Südfuss und Wellenberg. In Etappe 2 sollte diese Liste gemäss Sachplan im Rahmen eines komplexen partizipativen Prozesses auf mindestens zwei Standorte reduziert werden. Am Ende der Etappe 2 schlug die Nagra für alle Abfallkategorien folgende in Etappe 3 weiter zu untersuchenden Standortregionen vor[4]:
- Zürich Nordost (ZH, TG) mit dem Standortareal ZNO-6b und
- Jura Ost (AG) mit dem Standortareal JO-3+
Der Standort Nördlich Lägern fiel aus dem Rennen, v.a. weil es gemäss Nagra nicht möglich sei, ein Lager in einer Tiefe von mehr als 700 m sicher zu bauen und zu betreiben. Ein Gutachten, welches das ENSI beim Geologiebüro von Moos, Zürich, bestellt hatte und dessen Ergebnisse am 9. September 2015 anlässlich einer Pressekonferenz des BFE der Öffentlichkeit vorgestellt wurden, widersprach dieser These der Nagra.
Am 16. Januar 2016 erschien der «Fachbericht vom 11. Januar 2016, 2017 zum 2×2-Vorschlag der Nagra» der Kantonalen Expertengruppen «Arbeitsgruppe Sicherheit Kantone (AG SiKa)» und «Kantonale Expertengruppe Sicherheit (KES)». In ihrem Bericht folgten die Experten dem oben genannten Gutachten und empfahlen Nördlich Lägern dem Zweiervorschlag Zürich Nordost und Jura Ost beizufügen. Die Aufsichtsbehörde, d.h. das Eidgenössischen Nuklearen Sicherheitsinspektorats (ENSI), doppelte im April 2017 im Sinne der kantonalen Expertengruppe AG SiKa/KES nach[5].
Damit war der Fall neu entschieden: Neben Zürich Nordost und Jura Ost gesellte sich Nördlich Läger» zu den in Etappe 3 weiter zu untersuchenden potenziellen Lagerstandorten. Die in Etappe 3 folgenden Arbeiten der Nagra zur Festlegung des definitiven Standortes umfassten namentlich ein 3D-Seismik Programm in den drei Standortregionen, sowie weitere Tiefbohrungen und Quartärbohrungen in den drei Standortregionen.
Die Etappe 3 des Sachplans fand am 12. September 2022 einen vorläufigen Abschluss mit der Erklärung des CEO der NAGRA «die Geologie hat gesprochen», um den erkorenen Standort für die Oberflächenanlagen eines geologischen Tiefenlagers für radioaktive Abfälle in der Region Nördlich Lägern, im Haberstal (Gemeinde Stadel, ZH) anzukündigen[6]. Die Endkonditionierung der zu lagernden Abfälle soll in Würenlingen (Kanton Aargau) erfolgen.
Die Begründung für die Auswahl des Standortes «Nördlich Lägern» fiel mager aus. Gemäss Nagra seien es folgende Gründe, die zu dieser Wahl geführt hätten:
«In Nördlich Lägern ist die Langzeitstabilität der geologischen Barriere am grössten. Der Schutz der Barriere vor künftiger Erosion ist aufgrund der grössten Tiefenlage und durch über dem Wirtgestein liegende erosionsresistente Gesteine in diesem Gebiet am besten.»
«In Nördlich Lägern ist der geeignete Bereich und damit die Flexibilität bei der Anordnung des Lagers am grössten.»
«Im Gebiet Nördlich Lägern gibt es den grössten zusammenhängenden Bereich ohne Hinweise auf Störungen. In diesem Gebiet ist die Flexibilität für die Anordnung des Lagers deshalb am grössten.»
Diese drei Gründe der Nagra für die Standortwahl entsprechen allerdings in keiner Weise der breiten Palette der im Sachplan festgehaltenen Kriterien. Ausserdem scheinen sie – teilweise schon auf den ersten Blick – im Gegensatz zu allgemein bekannten Fakten zu stehen.
Standortwahlkriterien und ihre Gewichtung
Die aus früheren Untersuchungen, sowie der 3D-Seismik und den Tiefbohrungen (Abb. 1) vorliegenden Daten[7] aus Etappe 3 erlauben heute einen auf Fakten beruhenden Vergleich relevanter Aspekte der Standortwahl in den drei Standortgebieten Jura Ost, Nördlich Lägern und Zürich Nordost. Dies möchten wir hier kurz versuchen.
Abbildung 1: In Tabelle 1 kompilierte Daten aus Tiefbohrungen und 3D-Seismik der Etappe 3 des Sachplans geologische Tiefenlager.
Tabelle 1 bietet eine Übersicht über für die nukleare Sicherheit eines geologischen Tiefenlagers relevante Daten. Folgende Standortwahlkriterien werden dabei für die Tiefbohrstandorte der Etappe 3 betrachtet:
Tabelle 1: Standortwahl für ein geologisches Tiefenlager, Kompilation der Werte ausgewählter Kriterien an den Standorten der geologischen Tiefbohrungen (Referenzen siehe Text).
a) Einschluss der radioaktiven Abfälle
- Mächtigkeit des Wirtgesteins Opalinuston (m) in den Tiefbohrungen. Der sogenannte «Einschlusswirksame Gebirgsbereich», d.h. die Mächtigkeit allfälliger tonig-mergeliger Schichten über und unter dem Wirtgestein ist wegen lückenhaften Informationen zur Durchlässigkeit der Gesteinsschichten auf Tabelle 1 nicht aufgeführt.
- Durchlässigkeitsbeiwert im Opalinuston (in m/sec).
b) Glazialerosion
- Lagertiefe (Zentrum Opalinuston in m).
- Distanz des Bohrstandortes zur Gletscherfront anlässlich der letzten Eiszeit (in km)[8]. Negative Werte bedeuten, dass der Standort zu dieser Zeit durch Gletschereis bedeckt war.
c) Tiefengrundwasser: Transport freigesetzter radioaktiver Abfälle im Untergrund, Risikofaktor während Bau und Betrieb des Tiefenlagers; Grundwasserdruck auf dem Lagerniveau aufgrund des aus Aquiferen im Schacht zufliessenden Wassers (in Bar). Andere Faktoren, wie etwa die Auswirkungen der Grundwasserchemie (z.B. Förderung der Karstbildung) konnten wegen fehlender Daten nicht in die Bewertung einbezogen werden.
d) Verfügbarer Raum zur optimalen Anordnung der Lagerkavernen, Zonen ohne tektonische Störungen, Lineamente oder Erdwärmesonden (in km2)[9].
e) Ressourcenkonflikt: Nutzungspotential der Geothermie und wichtige Kohlewasserstoffvorkommen (Kohle, Erdöl, Erdgas) im Permokarbontrog. Heute ist die Situation einzig aus den Bohrung Weiach (Nördlich Lägern)[10] und Benken (Zürich Nordost)[11], sowie aus Seismikdaten bekannt. Eine definitive Abwägung des Risikos für die Integrität des geologischen Tiefenlagers ist damit nicht möglich. (Klassierung des Risikos in Tabelle 1: Klein, Mittel, Gross).
f) Transportrisiko von der Konditionierungsanlage in Würenlingen zum Tiefenlager (hier: Bohrstandort, in km).
Die in Tabelle 1 aufgelisteten Werte erlauben einen Vergleich für Lagerstandorte im näheren Umfeld der Tiefbohrungen.
Tabelle 2 zeigt eine Hierarchisierung der erwähnten Bohrstandorte (ein «Ranking») bezüglich ihrer eventuellen Eignung als Lagerstandort, basierend auf den Werten in Tabelle 1. Dabei wird jedem Standort für jedes Kriterium ein Platz zwischen 1 und 6 zugeordnet. Die auf diese Weise erzielten Punkte werden sodann summiert, woraus eine Rangliste der eventuellen Eignung resultiert, mit einem Minimum von Punkten für Platz 1 und einem Maximum für Platz 6.
Tabelle 2: Hierarchisierung («Ranking») der Bohrstandorte anhand der für die Standortkriterien ermittelten Werte (Tabelle 1).
- Einschluss: Die Mächtigkeit des Opalinustons ergibt ein eindeutiges Ergebnis, mit dem grössten Wert in Bözberg und der kleinsten Mächtigkeit in Bülach 1-1 und Stadel 2-1. Kein eindeutiges Ergebnis zeigt sich hingegen bei den Durchlässigkeitswerten, weshalb für diesen Parameter keine Hierarchisierung vorgeschlagen wird.
- Glazialerosion: Die Diskussion dreht sich hier um die Frage, welcher Faktor eine bessere Garantie darstellt: Ist es die Lagertiefe (Platz 1 für Bülach, Platz 2 für Trüllikon), oder die Distanz, welche ein Gletscher vor einer eventuellen Beschädigung eines Tiefen Lagers zurücklegen muss (Platz 1 für Bözberg).
- Tiefengrundwasser: Wie wir in unserem Blogbeitrag vom 12. Oktober 2023 darstellten, halten wir die Anlage und den Betrieb eines geologischen Tiefenlagers unter hohem Wasserdruck für riskant. Bözberg (Jura Ost) und Marthalen (Zürich Nordost) schneiden diesbezüglich relativ gut ab; Stadel, d.h. der Nordteil der Region Nördlich Lägern, steht schlecht da. Ergänzende Informationen, wie etwa solche zur Grundwasserchemie, könnten diese Bewertung dereinst beeinflussen.
- Verfügbarer Raum: Wir vergleichen für diesem Parameter nicht die einzelnen Bohrstandorte, sondern die drei Standortregionen. Wie in unserem Blogbeitrag vom 27. Februar 2023 bereits dargestellt[12], bietet Jura Ost (Gebiet nördlich der Schuppenzone im Vorfeld der Hauptüberschiebung) bei weitem das grösste Platzangebot, während dem die Verhältnisse Nördlich Lägern äusserst prekär sind.
- Ressourcenkonflikt: Wie oben dargestellt, verfügen wir heute für eine definitive Beurteilung über zu wenig Informationen. Wir haben uns daher auf eine vereinfachte Hierarchisierung festgelegt, in welcher die tiefsten Teile des Permokarbontrogs, mit dem grössten geothermischen Potential und eventuellen Vorkommen von Kohle, Erdöl und Erdgas, am schlechtesten abschneiden.
- Transportrisiko: Heute ist uns noch kein klares Konzept zu Transportmitteln und Transportwegen der Abfälle von ihrer Konditionierung in Würenlingen zum Tiefenlagerstandort. Wir gehen daher vereinfachend davon aus, dass das Transportrisiko bzgl. Transportunfällen etwa proportional zur zurückzulegenden Distanz ist. In diesem Falle schneidet der Bözberg am besten, Trüllikon am schlechtesten ab.
Diskussion
Das Resultat des «Rankings» aus den oben dargestellten Daten ist klar: Bözberg (Jura Ost) schneidet mit Abstand am besten ab, gefolgt von Marthalen (Zürich Nordost) und den Bohrstandorten Nördlich Lägern. Dieses Resultat basiert auf einer gleichen Gewichtung aller ausgewählten Kriterien an allen Standorten.
Man kann sich natürlich fragen, ob diese Gleichbehandlung der sachlich korrekt ist. Tabelle 3 zeigt daher mögliche Varianten der Klassierung der Standorte:
- Hierarchisierung gemäss Tabelle 1.
- Hierarchisierung unter Auslassung des Kriteriums «Transportrisiko».
- Hierarchisierung unter Auslassung des Kriteriums «Transportrisiko» und doppelte Gewichtung für das Kriterium «Einschluss».
- Hierarchisierung unter Auslassung des Kriteriums «Transportrisiko» und doppelter Gewichtung für die Kriterien «Einschluss» und «Glazialerosion».
Tabelle 3: Varianten der Standorthierarchisierung. Ränge von 1 bis 6 für die jeweiligen Standortwahlkriterien an den sechs Tiefbohrstandorten.
Aus Tabelle 3 ergibt sich, dass sich der Standort Bözberg (Jura Ost) in jeder der vier betrachteten Varianten an erster Stelle qualifiziert, gefolgt von Marthalen (Zürich Nordost). Die Standorte Nördlich Lägern nehmen jeweils den dritten und letzten Platz ein. Die schlechte Klassierung des Standortes Trüllikon in Tabelle 1 erklärt sich durch die grosse Transportdistanz von Würenlingen bis zum Bohrstandort.
Generell stellen wir damit fest, dass hiermit die Aussagen der Nagra vom 12. September 2022 weitgehend widerlegt sind: Nördlich Lägern ist nicht der beste der drei Lagerstandorte, sondern offensichtlich eher der ungünstigste. Bözberg (Jura Ost) schneidet am besten ab.
Wäre damit die Standortwahl definitiv entschieden? Wohl kaum: Erst gilt es die noch immer offenen Fragen zu klären. Dazu gehören etwa die Zirkulationsverhältnisse und die Geochemie des Tiefengrundwassers im Umfeld des Lagerstandorts, die Frage der Rohstoffe im zentralen Permokarbontrog unter dem Bözberg und anderes mehr. So betrachtet, erfolgte die Erklärung der Nagra vom 12. September 2002 eindeutig verfrüht.
[1] https://www.nuclearwaste.info/standortwahl-noerdlich-laegern-wissenschaft-politik-und-mischeleien-teil-1/
[2] SR 732.1 – Kernenergiegesetz vom 21. März 2003 (KEG).
- Bundesamt für Energie BFE 2008 : Sachplan geologische Tiefenlager, Konzeptteil, BFE April 2008 (Revision vom 30. November 2011).
- EKRA, 2000: Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle. Schlussbericht im Auftrag des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, 31. Januar 2000.
[3] NAGRA 2008: Vorschlag geologischer Standortgebiete für das SMA- und das HAA-Lager. NTB 08-03, NTB 08-03.
[4] Nagra 2014 : SGT Etappe 2: Vorschlag weiter zu untersuchender geologischer Standortgebiete mit zugehörigen Standortarealen für die OberflächenanlageSicherheitstechnischer Bericht zu SGT Etappe 2; Sicherheitstechnischer Vergleich und Vorschlag der in Etappe 3 weiter zu untersuchenden geologischen Standortgebiete
[5] AG SiKa/KES 2016: Sachplan Geologische Tiefenlager, Etappe 2 Fachbericht der AG SiKa/KES vom 11.1.2016 zum 2×2-Vorschlag der Nagra. Zürich.
- AG SiKa/KES 2017 : Sachplan geologische Tiefenlager, Etappe 2, Fachbericht zu Etappe 2, August 2017.
Siehe auch unsern Blog-Beitrag: https://www.nuclearwaste.info/standortwahl-noerdlich-laegern-wissenschaft-politik-und-mischeleien-teil-1/.
[6] Nagra, 12. September 2022: Der Standort für das Tiefenlager. Der Vorschlag der Nagra. Wettingen, 68 S
[7] Nagra 2019 a: Preliminary horizon and structure mapping of the Nagra 3D seismics JO-15 (Jura Ost) in time domain. Arbeitsbericht NAB 18-34.
Nagra 2019 b: Preliminary horizon and structure mapping of the Nagra 3D seismics NL-16 (Nördlich Lägern) in time domain. Arbeitsbericht NAB 18-35.
Nagra 2019 c: Preliminary horizon and structure mapping of the Nagra 3D seismics ZNO-97/16 (Zürich Nordost) in time domain, Arbeitsbericht NAB 18-36.
Nagra 2021 a: TBO Bülach-1-1: Data Report, Arbeitsbericht NAB 20-08.
Nagra 2021 b: TBO Marthalen-1-1:Data Report, Arbeitsbericht NAB 21-20.
Nagra 2021 c: TBO Trüllikon-1-1: Data Report, Arbeitsbericht NAB 20-09.
Nagra 2022 : TBO Bözberg-2-1: Data Report, Arbeitsbericht NAB 21-22.
Nagra 2023 a: TBO Stadel-3-1: Data Report, Arbeitsbericht NAB 22-01.
Nagra 2023 b: TBO Stadel-2-1: Data Report Arbeitsbericht NAB 22-02.
[8] Swisstopo : https://map.geo.admin.ch/?topic=geol&lang=fr&bgLayer=ch.swisstopo.pixelkarte-grau&E=2624718.05&N=1266596.73&zoom=2&catalogNodes=1786,1787,1793&layers=ch.swisstopo.geologie-eiszeit-lgm-raster
[9] https://www.nuclearwaste.info/jo-nl-zno-ansatz-zu-einem-standortvergleich-1/
[10] Nagra 1989 : Sondierbohrung Weiach, Untersuchungsbericht, Technischer Bericht NTB 88-08.
[11] Nagra 2001 : Sondierbohrung Benken Untersuchungsbericht, Technischer Bericht NTB 00-01.
[12] https://www.nuclearwaste.info/jo-nl-zno-ansatz-zu-einem-standortvergleich-1/
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