Titelbild: Norwegischer Fjord, Zeuge der Gletschererosion
Einleitung
In unserer Gesellschaft herrscht heute vor allem Angst vor der Klimaerwärmung. Doch die grösste Klimakatastrophe die uns und unser Land über kurz oder lang (vermutlich in ein paar tausend Jahren) erwartet, ist die nächste Eiszeit. Die Schweiz und Österreich, Skandinavien, Schottland, Alaska, Kanada und die nördlichen USA werden dann, wie während früheren Eiszeiten, unbewohnbar sein.
Die Gletscher der Eiszeiten haben die Alpentäler und die Täler des Mittellandes gegraben. In den Alpen sind sie auch heute noch der wichtigste Erosionsfaktor, mit jährlichem Felsabtrag im mm-Bereich[1]. Und so nimmt man an, dass auch künftige Eiszeiten das Mittelland und eventuell einen Teil des Jura überfahren und weiter abtragen werden. Dies könnte zu einer Gefährdung geologischer Tiefenlager für radioaktive Abfälle führen, mit unliebsamen Folgen für die Bevölkerung, welche sich nach der Eiszeit wieder hier installieren wird: Sie würde auf ein verseuchtes Land treffen, mit allem, was der Industriemensch hinterlassen hat. Darunter auch – prominenterweise – radioaktive Abfälle.
Das Anliegen, radioaktive Abfälle an Stellen zu entsorgen, wo ihnen keine Gletschererosion droht, ist also nicht die Antwort auf eine imminente Gefahr, sondern entspricht grundlegend einem ethischen Anliegen für eine ferne Zukunft.
Verschiedene Methoden erlauben es, sich ein Bild einer eventuellen künftigen Vergletscherung und dem Erosionsvermögen ihrer Gletscher zu machen. Meist beruhen sie auf der Beobachtung der Effekte vergangener Vereisungen, wie etwa die Beobachtung der glazialen Erosion durch Übertiefung der Täler[2], oder die Beobachtung der Höhenunterschiede zwischen Schotterterrassen aus sich folgenden Eiszeiten. Hier ist es – was das schweizerische Entsorgungsprogramm anbelangt – von Interesse, die Ausdehnung der Gletscher im Verlauf der Eiszeiten des Pleistozäns der letzten 2 Millionen Jahre der Erdgeschichte in Verbindung mit der Felserosion in den drei Standortregionen Jura Ost (JO), Nördlich Lägern (NL) und Zürich Nordost (ZNO) zu vergleichen.
Ausdehnung der eiszeitlichen Gletscher und Erosion der Felstäler
Die Abb. 1 zeigt die Chronologie der Eiszeiten. Die ältesten Vereisungen, welche in der Ostschweiz durch Ablagerungen korrekt dokumentiert sind, wurden während der «Höheren Deckenschottereiszeit» und der «Tieferen Deckenschotter-Eiszeit» gebildet. Die Deckenschotter entsprechen den vor den Gletschern gebildeten Geschiebe- und Flussablagerungen. Deckenschotter finden sich auf den Geländekuppen vom untern Aaretal bis auf die Höhen um den Untersee (Bodenseee) und den Seerücken. Ihre Position zeigt, dass die Front des Rheingletschers die drei Standortregionen JO, NL und ZNO nicht erreichte (Abb. 2 und 3).
Abbildung 1: Quartärchronologie: marine Isotopenstratigraphie und Eiszeitstratigraphie in Norddeutschland, im Bayrischen Alpenvorland und in der Nordostschweiz (Norddeutschland – Bayrisches Alpenvorland: http://www.dandebat.dk/eng-klima5.htm, stratigraphische Tabelle Deutschlands 2016, Nordschweiz: Preusser et al. 2011[3], fig. 19, Schmincke et al. 2008[4], fig.20.20; Kompilation: Wildi 2020, Abb. A 30[5]).
Abbildung 2: Ausdehnung des Rheingletschers zur Zeit der Bildung der Höheren Deckenschotter (modifiziert nach Keller 2009[6]). Bei St. Gallen lag die Basis des Gletschers auf etwa 850 m Höhe (Karte: swisstopo).
Abbildung 3: Ausdehnung des Rheingletschers zur Zeit der Bildung der Tieferen Deckenschotter (modifiziert nach Keller 2009). Auf der Höhe des Überlinger Sees lag die Basis des Gletschers auf etwa 600 m Höhe (Karte: swisstopo).
Während der Möhlin-Eiszeit erlebten die Gletscher ihre grösste Ausdehnung und überfuhren alle drei Standortregionen. Die vereinten Rhone-, Aare- und Reussgletscher überquerten die Aargauer Jurapässe der Staffelegg und des Benken und flossen ins Fricktal über. Sodann überquerte der Gletscher, angereichert durch das Eis des Linth-Limmat- und des Rheingletschers, auch den Bözberg und erreichte seine Endposition in Möhlin, im Rheintal oberhalb Basel (Abb. 4). Während dieser Eiszeit wurden die Täler stark erodiert. Das genaue Mass ist allerdings auf Grund der Aktion der darauf folgenden letzten Eiszeit nicht bekannt. Wenig Erosion stellt man auf den Jurahöhen, inklusive auf dem Bözberg (Jura Ost) fest. Hier fuhr der Gletscher über die lockeren Glimmersande der Oberen Süsswassermolasse hinweg, ohne grosse Erosionsspuren zu hinterlassen.
Abbildung 4: Maximale Ausdehnung der alpinen Gletscher während dem Mittel- und dem Jungpleistozän. Mittelpleistozön (Gletscherfronten): Preusser et al. 2011, Penck & Brückner 1901/1909); Jungpleistozän (Reliefkarte): Bini et al. 2009[7] (Copyright swisstopo). Die Karte unterscheidet nicht zwischen den verschiedenen Kaltphasen der letzten Eiszeit (Birrfeld- Würmeiszei)t; Kompilation aus Wildi (2020). Standortregionen: JO Bözberg, NL Glattfelden, ZN: Marthalen.
Gefährdung der Standortregionen durch Gletschererosion
Am besten dokumentiert ist die Gletschererosion während der letzten Eiszeit, der Birrfeld-Würm-Eiszeit, vor 116’000 bis 11’700 Jahren (Abb. 4). Während dieser Eiszeit wurden die Alpentäler und die Täler des Mittellandes teils stark übertieft und sodann wieder teilweise mit Gletscher-, See- und Flussablagerungen aufgefüllt. Während der maximalen Ausdehnung der Gletscher, letztmals vor etwas mehr als 20’000 Jahren, lag Marthalen in der Standortregion Zürich Nordost tief unter Gletschereis. Zur selben Zeit lag Glattfelden (Nördlich Lägern) gleich vor der Gletscherfront. Bözberg (Jura Ost) war durch diese letzte Vergletscherung nicht betroffen.
Aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass die Standortregion Zürich Nordost (Weinland) einer kommenden Vergletscherung zuerst und am intensivsten ausgesetzt wäre, gefolgt von Nördlich Lägern und Jura Ost. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die genaue Platzierung des Tiefenlagers innerhalb der Region bzgl. potentieller Gletschererosion ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.
Abbildung 5: Topographie der Felsoberfläche Nördlich Lägern mit glazial übertieften Tälern (NAB 14-025, Fig 6-9, Screenshot, ergänzt). Brauner Rahmen : Zonen mit ruhiger Lagerung des Opalinustons, ohne in der 3D-Seismik erkennbare tektonische Störungen (NL Ost, NL West) Blauer Ramen: Zone ohne, oder bloss wenigen Erdwäremesonden.
So fällt in Nördlich Lägern (NL) etwa ins Gewicht, dass der verbleibende eventuelle Lagerperimeter in der Achse eines übertieften, während früheren Eiszeiten erodierten Felstal auf etwa 350 m Höhe liegt (Abb. 5). Es ist zu befürchten, dass der Linth-Limmat-Gletscher in einer künftigen Eiszeit der leicht erodierbaren ehemaligen Talachse folgen würde.
In Zürich Nordost (ZNO) ist die Situation ähnlich, wenn nicht noch kritischer: Der potentielle Lagerperimeter liegt in der Achse eines durch mächtige Lockergesteine gefüllten kaum sichtbaren Felstales (Abb. 6). Dieses zweigt vom Thurtal ab, das seinerseits bis auf eine Tiefe von etwa 50 m über Meer durch den Gletscher ausgeräumt wurde. (Zur Erinnerung: Im Rhein- und Rhonetal wurde der Felsuntergrund in der letzten Eiszeit bis auf – 200 m unter dem Meeresspiegel abgetragen).
Abbildung 6: Topographie der Felsoberfläche in der Standortregion Zürich Nordost (ZNO) mit glazial übertieften Tälern (NAB 14-025, Screenshot, ergänzt). Brauner Rahmen : Zonen mit ruhiger Lagerung des Opalinustons, ohne in der 3D-Seismik erkennbare tektonische Störungen (NL Ost, NL West) Blauer Ramen: Zone ohne, oder bloss wenigen Erdwäremesonden.
In der potentiellen Standortregion Jura Ost beobachtet man keine durch Gletscher übertieften Felstäler.
Schlussfolgerungen
Die einzige potentielle Standortregion in welcher in der Vergangenheit wenig Gletschererosion festgestellt werden kann und in der bei einer künftigen Vergletscherung nur ein sehr beschränktes Erosionsrisiko besteht, ist die Region Jura Ost.
Die beiden andern potentiellen Standortregionen, Zürich Nordost und Nördlich Lägern liegen in der Achse von heute durch Glazialablagerungen verdeckten übertieften Felstälern. Hier sind grundsätzlich günstige Bedingungen für eine weitere Erosion anlässlich einer künftigen Eiszeit gegeben.
[1] Wildi, W., Gurni, P. & Sartori, M. 2015 : Guide des paysages glaciaires du Val d’Hérens. Genève : Section des sciences de la Terre et de l’environnement, 2015.
[2] Wildi, W. 1984: Isohypsenkarte der quartären Felstäler in der Nord- und Ostschweiz, mit kurzen Erläuterungen. Eclogae Geologicae Helvetiae, vol. 77, n° 3, p. 541-551.
Nagra 2014: Erosion und Landschaftsentwicklung NordschweizZusammenfassung der Grundlagen im Hinblick auf die Beurteilung der Langzeitstabilität eines geologischen Tiefenlagers (SGT Etappe 2). NAB 14-25, Wettingen.
Nagra 2017: Erosion – Geologische Langzeitentwicklung und Tiefenlager. Themenheft Nr. 10 «Erosion».
[3] Preusser, F., Graf, H.R., Keller, O., Krayss, E. & Schlüchter Ch. 2011: Quaternary glaciation history of northern Switzerland. , E&G Quaternary Science Journal 60/2-3, 282-305
[4] Schminke, Th., Frechen, H.-U., & Schlüchter, C. 2008: Quaternary. – In: McCann, T. (Ed.): The Geology of Central Europe, vol. 2, Mesozoic and Cenozoic, Chapter 20: 1287-1347.- The Geological Society (London).
[5] Wildi, W. 2020: Auf den Spuren der Erdgeschichte in der Schweiz. Bern: Erlebnis-Geologie, 92 p. https://archive-ouverte.unige.ch/unige:140171
[6] Keller, O. 2009: Als der Alpenrhein sich von der Donau zum Oberrhein wandte: Zur Umlenkung eines Flusses im Eiszeitalter. Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, H. 127, S. 193-208.
[7] Bini A., Buoncristiani J.-F., Coutterand S., Ellwanger D., Felber M., Florineth D., Graf H.R., Keller O., Kelly M., Schlüchter C. & Schoeneich P. 2009: La Suisse durant le dernier maximum glaciaire. Swisstopo, Wabern.
Andrea Müller
Herr Professor
Schon mal gut zu wissen, dass es nach der Überhitzung der Welt durch den Klimawandel ein Überleben der Menschheit zu geben scheint. Wenn es also dann noch Menschen geben sollte, wenn die Gletscher unser Tiefenlager freilegen: Welche radioaktiven Stoffe mit welcher Strahlenintensität gefährden dann wie genau die „Schweizer“ Bevölkerung?
Danke für die Info
Andrea Müller
Walter Wildi
Lieber Herr Müller,
Die Antwort auf Ihre Fragen füllen Bücher. Und diese sind glücklicherweise längst geschrieben Auf http://www.nagra.ch finden Sie unter der Rubrik „downloads“ z.B. den technischen Bericht NTB93-021, Volumen 1 und 2. Titel: „Model Radioactive Waste Inventory for Swiss Waste Disposal Projects“. Der Bericht enthält u.a. zahlreiche Zerfallskurven. Gute Lektüre!
Walter Wildi