Marcos Buser und Walter Wildi
Ergänzte Version 31.12.2023
Titelbild: unterirdischer Wasserfluss im Karst der massiven Malmkalke von Vallorbe
Einführung
Wird ein geologisches Tiefenlager für radioaktive Abfälle in Anwendung der Regeln der Kunst, des Gesetzes und der Verordnungen gebaut und betrieben, so soll es keine Gefahr für Mensch und Umwelt darstellen. Dies ist das erklärte Ziel. Um zu prüfen, ob dieses Ziel erreicht ist, sieht das Kernenergiegesetz vor, dass das Lager nach der Einlagerung der Abfälle und dem Verschluss der Lagerkavernen während einer beschränkten Zeit weiter überwacht wird (KEG, Art. 39) und die Abfälle bei Bedarf zurückgeholt werden können (Art. 37). Damit sind ein gewisses Misstrauen bezüglich der absoluten Sicherheit eines geologischen Tiefenlagers und die Notwendigkeit von Kontrolle und eventueller Reversibilität im Entsorgungsprozess eingebaut.
Aber welches sind denn die möglichen Gefährdungen eines Tiefenlagers und damit der Bevölkerung und der Umwelt? Mit Sicherheit weiss das wohl heute niemand genau, denn, erstens haben wir keine Erfahrung mit erfolgreich gebauten und betriebenen Tiefenlagern und, zweitens, ist die Lagerdauer von bis zu einer Million Jahren so lange, dass neben den bekannten und berechenbaren physikalischen, chemischen und biologischen Prozessen auch mit unbekannten oder heute nicht quantifizierbaren Prozessen in geologischen Zeiträumen zu rechnen ist.
Hier soll dargestellt werden, welche Gefährdungen man aus heutiger Sicht beim Projekt für ein geologisches Tiefenlager «Nördlich Lägern» ausmachen kann. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass das von der Nagra am 12. September 2022 vorgestellte Projekt [1] noch recht bescheiden daherkommt (Abb. 1): Neben der Lokalisierung der Oberflächenanlage in Stadel (Kanton Zürich), dem Perimeter der Standortregion (Nördlich Lägern) und der Tiefe unter der Oberfläche der für das Lager vorgesehenen Gesteinsformation (Opalinuston) verfügen wir vor allem über Information zum tektonischen Rahmen aus der Reflexionsseismik [2], der Stratigraphie (Gesteinsabfolge) und der Hydrogeologie (Tiefengrundwasser) aus zwei Sondierbohrungen [3].
Abbildung 1: Entsorgungsanlagen, Projekt Haberstal der Nagra (https://nagra.ch/wp-content/uploads/2022/09/Tiefenlager-beschriftet_Quelle-Nagra.pdf) . Die Oberflächenanlagen sind mit dem zweiteiligen Tiefenlager direkt über etwa 800 m Tiefe Schächte verbunden.
Bauphase
In der Bauphase sind noch keine radioaktiven Stoffe im Spiel. In dieser Phase geht es vor allem darum, eine standfeste, trockene Anlage mit einer Lebenserwartung von mindestens 150 Jahren zu bauen. Eine der grössten Herausforderungen liegt in der Beherrschung zufliessender Tiefengrundwässer aus geklüfteten oder verkarsteten Gesteinsformationen, welche Nördlich Lägern ab einer Tiefe von 350 m ü.M. unter artesischem Druck stehen. Sobald ein Schachtbau die Oberfläche des Opalinustons erreicht, ist Wasser im Bauwerk unerwünscht, da es den Ton zum Quellen bringt und damit die Standfestigkeit gefährdet (Abb. 2).
Wie schwierig die Rückhaltung von unter hohem Druck in eine Tunnelanlage eindringendem Karstwasser sein kann, zeigte sich Mitte Dezember 2023 (einmal mehr!) im Lötschberg Basistunnel (https://www.nzz.ch/panorama/loetschberg-basistunnel-gesperrt-nach-starken-niederschlaegen-drang-wasser-in-den-tunnel-ein-ld.1770477 ). Der Druckaufbau ist in diesem Grundwasser nicht permanent, sondern an starke Niederschläge an der Oberfläche gebunden.
Abbildung 2: Opalinuston; links, Oberteil des Bildes: verwitterter,feuchter Opalinuston in der Grube der Tonwerke Frick mit Rutsch- und Fliessstrukturen. Rechts: frischer, unverwitterter Opalinuston im Labor Mt. Terri.
Die zweite grössere Herausforderung liegt in der Standfestigkeit der Kavernen. Dies betrifft insbesondere das in etwa 850 m Tiefe gelegene Lager Nördlich Lägern, wo man vermutlich nahe der Grenze der Stabilität von Opalinuston liegt [4].
Die beiden erwähnten Risiken sind am Standort Nördlich Lägern ausgeprägter als in den beiden anderen Standorten der Etappe 3 des Sachplans, Jura Ost und Zürich Nordost.
Einlagerung der Abfälle
Während der Einlagerungsphase bleiben die oben erwähnten Risiken erhalten: Die Stollen müssen in trockenem Zustand gehalten und standfest bleiben.
Ein Austritt radioaktiver Substanzen ist in der Einlagerungsphase etwa bei einer Beschädigung eines Abfallgebindes möglich. Dabei ist wohl in erster Linie an Gebinde zu denken, in welchen sich Gas aus der Zersetzung organischer Abfallstoffe (z.B. sogenannte Jonentauscherharze) bilden kann. Dabei kann es zu einer radioaktiven Verstrahlung kommen. Der Unfall in der Waste Isolation Pilot Plant (WIPP) im Februar 2014 zeigt, dass auch wenig wahrscheinliche Unfälle mit Gebinden während der Betriebszeit jederzeit möglich sind.[5] Eine Verstrahlung im Untergrund hätte weitreichende betriebliche Folgen und die Sanierung der Anlage bräuchte Zeit und Geld (im Fall des Unfalls im WIPP 3 Jahre und 600 Mio. US$).
Beobachtungsphase
Nach dem Abschluss der Abfalleinlagerung und der Verfüllung der Lagerstollen ordnet der Bundesrat gemäss Kernenergiegesetz eine Beobachtungsphase an. Während dieser Jahrzehnte (bzw. bis über hundert Jahren) dauernden Phase sind die Abfallgebinde nicht mehr direkt zugänglich und kontrollierbar. Die Lagerzugänge sind noch offen und die sich im Lager abspielenden Prozesse können im sogenannten Pilotlager instrumentell beobachtet werden.
Die verfüllten Lagerkavernen sättigen sich allmählich mit Wasser aus dem Porenwasser des Wirtgesteins und anderswie zulaufendem Wasser auf. Dabei können interne Verformungen auftreten, namentlich zwischen dem plastischen Opalinuston und starren Elementen, wie etwa Verschlussriegeln aus Beton. Auch Setzungsprozesse und Rissbildungen im Dach (oberhalb) der parallel zueinander verlaufenden Lagerstollen sind grundsätzlich denkbar. Abzuklären bleibt deshalb, ob und wie gross das Risiko der Deformation des Opalinustons oberhalb der Lagerebene und damit einer eventuell erhöhter Wasserzirkulation in diesem Bereich ist. Ob dies zu diesem Zeitpunkt zum Transport von radioaktiven Stoffen im Tiefengrundwasser führen könnte, würde weitgehend von der Integrität der Abfallgebinde abhängen.
Im Standortgebiet Nördlich Lägern ist aufgrund der tiefen Lage des Lagers und des hohen Druckes im Tiefengrundwasser mit einer raschen Aufsättigung der Lagerverfüllung mit Bentonit und der Auflockerungszonen um die Lagerstollen zu rechnen.
Während der Beobachtungsphase sind eventuell auch andere Prozesse zu betrachten, welche heute noch nicht klar identifizierbar sind. So ist etwa denkbar, dass dereinst die hoch radioaktiven Abfälle (HAA) aufgrund ihrer Zusammensetzung wieder als interessante Rohstoffe gelten und als solche zurückgeholt werden könnten. Sollten in der weiteren Umgebung (ausserhalb des Schutzbereichs des Tiefenlagers) andere Naturressourcen ausgebeutet werden (Thermalwasser, Kohlenwasserstoffe aus dem Permokarbon Trog), so wäre auch hier die Subsidenz (die Setzung) zu überwachen.
Lagerphase
Während der bis zu 1 Million Jahren dauernden Lagerphase ist das Lager mit seinen Zugangsbauten verfüllt und versiegelt. Die Aufsättigung des Lagers mit Wasser geht weiter und das Wasser tritt in Kontakt mit den Abfallgebinden. Dies kann, namentlich bei noch warmen hoch radioaktiven Abfällen zu Korrosionserscheinungen und zur Bildung von Gas und schlussendlich dem Austritt von Radioaktivität führen. Die Nagra nimmt in ihrem Sicherheitsszenario (REF) an, dass die Abfallgebinde nach etwa 10’000 Jahren zu lecken beginnen. Das Wirtsgestein Opalinuston würde nach dem Wegfall der Abfallkanister zur wichtigsten Barriere zur Rückhaltung der radioaktiven Stoffe. Nach einem Aussickern der Stoffe in den Opalinuston und dessen Umgebung würden diese durch Tiefengrundwasser in die Umwelt ausgetragen.
Opalinuston hat an sich eine sehr geringe Wasserdurchlässigkeit. Um durch den Ton hindurch in die benachbarten Gesteinsformationen und über das Tiefengrundwasser in die Umwelt zu gelangen, müsste das Wasser über reaktivierte tektonische Klüfte, über Schwächezonen, etwa solche, provoziert durch reaktivierte tektonische Brüche und Setzungsprozesse, oder durch die gegenüber dem Opalinuston durchlässigeren Verfüllungen der Lagerzugänge zirkulieren.
Während der Lagerphase droht das Lager langfristig der Gletschererosion einer kommenden Eiszeit zum Opfer zu fallen (siehe unten).
Auch menschliche Aktivitäten können die Integrität eines geologischen Tiefenlagers gefährden. Man kann etwa vermuten, dass das Gedächtnis künftiger Generationen langfristig die Warnungen vor dem Abfalllager trotz einer Signalisierung (Markierung) ignoriert, ein Lager versehentlich angebohrt wird und Radioaktivität so in die Biosphäre gelangt.
Ob langfristig eine absichtliche Rückholung der Rohstoffe aus dem HAA-Lager zu erwarten ist, bleibt offen.
Der sicherste Lagerstandort
Die obige Aufzählung von potentiellen Gefahren für ein geologisches Tiefenlager wirkt nicht eben optimistisch. Doch trotz all diesen potentiellen Gefahren bleibt die geologische Tiefenlagerung nach heutigem Wissen die am wenigsten riskante Methode der nuklearen Entsorgung. So schützt sie namentlich Abfalllager vor den Einflüssen der Witterung (bzw. des Klimas) und deren Konsequenzen (Sturm, Überflutung, Bergrutsch, u.s.w), vor Folgen von Erdbeben (solange ihr Epizentrum nicht in unmittelbarer Nähe des Lagers liegt) und vor Meteoriteinschlägen. Auch kriegerische Ereignisse und Terrorakte können ein verschlossenes Tiefenlager kaum gefährden. Demgegenüber lässt sich ein Tiefenlager heute kaum mehr vor Tiefbohrungen schützen, hat doch die Bohrtechnik in den vergangenen Jahren grosse Fortschritte gemacht.
Die objektive Einschätzung einer Gefahr ist schwierig. Ein gutes Beispiel zur Illustration dieser Schwierigkeit, ist etwa die Frage nach dem Risiko der Gletschererosion eines Tiefenlagers Nördlich Lägern im Vergleich zu Jura Ost. Das Tiefenlager käme Nördlich Lägern wie erwähnt in eine Tiefe von etwa 850 m unter der Erdoberfläche zu liegen, am Standort der Tiefbohrung Bözberg 2-1 (Jura Ost) aber nur in etwa 500 m Tiefe. Dagegen liegt der Bözberg etwa 20 km weiter von der Endmoräne des Rheingletschers der letzten Eiszeit entfernt, als der Standort Nördlich Lägern. Was wäre nun bei einer grossen Vereisung des Mittellandes und des Juras entscheidend: ist es die bis zu einer Gefährdung des Lagers abzutragende Gesteinsschicht, oder der notwendige Zuwachs eines Gletschers, bevor es zur Erosion kommen kann?
Die Wahl eines definitiven Standorts für radioaktive Abfälle ist ein komplexer Prozess. Er kann nicht auf Grund einer beschränkten Anzahl von Kriterien erfolgen, wie dies die Arbeitsgruppe AgSika/KES versuchte [6]. Schwierig ist insbesondere die Unterscheidung zwischen «harten» Auswahlkriterien, ohne deren Einhaltung kein Standort Bestand haben kann und Kriterien, welche im Rahmen eines Vergleiches zwischen verschiedenen Standorten zur Anwendung kommen können. Soll der Auswahlprozess zu einem akzeptierbaren Resultat führen, so muss er in der Standortregion in demokratischer und offener Weise durchgeführt werden. Dies war in den Etappen 2 und 3 des «Sachplans geologische Tiefenlager» nicht der Fall. Als Beweis hierfür sei die Art und Weise genannt, wie die Nagra den Standort Stadel, Nördlich Lägern proklamierte, ohne jegliche Diskussion und ohne wissenschaftlichen Beleg.
Der Standort «Nördlich Lägern» wurde nach unserem Verständnis durch die kantonale Arbeitsgruppe AG SiKa/KES aufgrund von vier Kriterien auserkoren [7]. Dabei gingen wichtige Aspekte der nuklearen Sicherheit, und namentlich die ganze Hydrogeologie, d.h. die Frage der Tiefengrundwässer, vergessen. Und so stehen wir heute vor einem Resultat, welches für die Bauphase des Tiefenlagers, für die Phase der Einlagerung, für die Beobachtungs- und Lagerphase grosse Schwierigkeiten vorausahnen lässt.
Und so stellt sich die Frage, ob nun Nördlich Lägern wirklich der beste und sicherste Standort für ein geologisches Tiefenlager in der Schweiz ist. Der Beweis ist jedenfalls noch lange nicht erbracht.
[1] Nagra, 12. September 2022: Der Standort für das Tiefenlager. Der Vorschlag der Nagra. Wettingen, 68 S.
[2] Nagra 2019: Preliminary horizon and structure mapping of the Nagra 3D seismics NL-16 (Nördlich Lägern) in time domain. Arbeitsbericht NAB 18-35, Nagra Wettingen, 77 S.
[3] Nagra 2023: TBO Stadel-2-1, Data Report: Arbeitsbericht NAB 22-02. Nagra 2023: TBO Stadel-2-2, Data Report: Arbeitsbericht NAB 22-01.
[4] AG SiKa/KES 2017 : Sachplan geologische Tiefenlager, Etappe 2, Fachbericht zu Etappe 2, August 2017.
[5] DOE, 2015. Accident Investigations of the February 14, 2014, Radioalogical Release at the Waste Isolation Pilot Plant, Carlsbad, NM, Department of Energy, https://www.energy.gov/ehss/articles/accident-investigations-february-14-2014-radiological-release-waste-isolation-pilot#:~:text=On%20February%2014%2C%202014%2C%20at,)%20near%20Carlsbad%2C%20New%20Mexico.
[6] AG SiKa/KES 2016: Sachplan Geologische Tiefenlager, Etappe 2 Fachbericht der AG SiKa/KES vom 11.1.2016 zum 2×2-Vorschlag der Nagra. Zürich
[7] «Angesichts der Komplexität der Materie und infolge knapper eigener Mittel entschied die AG SiKa/KES, sich bei ihrer Beurteilung auf vier Schwerpunkte zu konzentrieren: Seismik und Tektonik (neuere 2D-Seismik-Daten aus Standortgebieten vorhanden), Geomechanik (Rolle der Tiefenlage), Erosion (minimale Tiefenanforderung) und Dosisberechnungen (wichtige Argumentationsstütze wegen behördlicher Vorgaben).»
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