Seit Jahrzehnten weisen die Autoren der folgenden Beiträge auf die Notwendigkeit hin, wissensbasierte Programme wie jenes der nuklearen Entsorgung systematisch auf Fehler zu untersuchen und Prozesse für die Erkennung und Berichtigung derselben zu definieren. 1981 schrieben sie bereits in ihrem Buch « Wege aus der Entsorgungsfalle » über die Notwendigkeit einer « systematischen Beurteilung und Überwachung von Forschungsarbeiten » einschliesslich der Sicherstellung « eines Programmes zur Qualitätssicherung der eigenen Arbeiten … ». Auch auf dem vorliegenden Blog finden sich über die Jahre immer wieder Beiträge und Gedanken zu Fehlerkultur und Lernprozessen.[1] Der letzte veröffentlichte Beitrag der Autoren zur Fehlerkultur erschien im Frühjahr 2021 in einem Artikel für die Stiftung «Leben und Umwelt» unter dem Titel « Von Fehlern lernen: der dornige Weg der Standortsuche », der diesem Beitrag beigelegt wird.
Von Abhängigkeiten in Erkenntnisprozessen
Wer sich mit Fehlern und Fehlerkultur beschäftigt, trifft irgendwann einmal auf Ludvik Fleck. Dieser in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts im heute zur Ukraine gehörenden Lemberg wirkende Mediziner und Mikrobiologe begann sich grundsätzlich für die Frage zu interessieren, wie wissenschaftlichen Erkenntnis zustande kommt. Der wissenschaftshistorisch belesene Fleck erkannte, dass Wissen nicht durch einen sogenannt objektiven, von gesellschaftlichen Werten unabhängigen Erkenntnisprozess erschaffen wird, sondern dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen, Werte und Präferenzen diesen Prozess massgebend beeinflussen. Seine 1935 erschienene und viele Jahrzehnte fast unerkannt gebliebene Hauptschrift «Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache» zeigt die Beziehung zwischen Erkenntnis und gesellschaftlichen Wertpräferenzen sehr eindrücklich auf.[2] Wissenschaft und Wissenschaftsentwicklung lassen sich aus dieser Perspektive nur unter Einbezug der sozialen und historischen Kontexte verstehen. Aus dieser Erkenntnis entwickelte Fleck seine Lehre von Denkstilen, die sich ausbilden, wenn Wissensträger sich zu Denkkollektiven zusammenschliessen und sich geschlossenen wissenschaftlichen Erklärungen der Welt anschliessen.
Fleck erkannte damit sehr wohl den Bezug der Erkenntnis von sozialen Normen wie auch die Komplexität, diese Beziehungen in einer hochdifferenzierten Gesellschaft aufzuschlüsseln. Seine Erkenntnistheorie beruhte allerdings auf der Annahme «demokratisch» organisierter Wissenschaften, die allgemeingültigen Normen der Wissensgenerierung folgen.[3] Sein Interesse bezog sich also weniger auf die sozialen Beziehungen unter den Mitgliedern von Denkkollektiven. Dies ist aus der damaligen Perspektive nachvollziehbar, müsste aber unter den heute geltenden Organisationsmodellen der Gesellschaft und den heute verfolgten Programmen wie jenem der Standortsuche für geologische Tiefenlager für radioaktive Abfälle in wesentlichen Punkten ergänzt werden.
Es geht bei solchen Erkenntnisprozessen also nicht nur darum zu verstehen, wie sich eine wissenschaftliche Erkenntnis in einem bestimmten sozialen Kontext ausbildet, sondern auch zu klären, welche gesellschaftlichen Kräfte auf die Bildung dieser Erkenntnis einwirken. Denn in der Realität wird die freie Meinungsbildung auch in demokratisch organisierten Gesellschaften von Abhängigkeiten zwischen Wissensträgern mitbestimmt. Sobald Mitglieder eines Denkkollektivs mit wirtschaftlichen Abhängigkeiten konfrontiert sind und von diesen Kreisen, die subtileren oder weniger subtilen Druck (soft repression) ausüben, politische und ideologische Zustimmung erwartet wird, ist ein Erkenntnisprozess nicht mehr frei.[4] Ein solcher Prozess ordnet sich Abhängigkeiten und Machtgefällen unter und die unter solchen Voraussetzungen sich entwickelnden Denkstile werden zunehmend durch politische Machtpositionen beeinflusst und entschieden. Wir stehen damit ausserhalb eines wissenschaftsbasierten Erkenntnisprozesses, wie er in einer freien Wissensgesellschaft – etwa an Hochschulen – vertreten und betont wird. Es kommt zu einer – freiwilligen bis mehr oder weniger erzwungenen – Konvergenz der Meinungen, die nicht nur durch den spezifischen gesellschaftlichen Kontext geprägt, sondern in wesentlichem Mass durch die Konvergenz von Interessen – insbesondere wirtschaftlicher und politischer Art – gesteuert wird. Wirtschaftliche, politische oder ideologische Abhängigkeiten wirken auf den Erkenntnisprozess ein und können einen solchen massgebend beeinflussen und verfälschen.
Eine solche Entwicklung hat Konsequenzen. Es geht bei der wissenschaftlichen Bearbeitung von Projekten oder Programmen nicht mehr in erster Linie um die Suche nach wissenschaftlichen « Wahrheiten », sondern um die Kanalisierung von Interessen von Denkkollektiven – welcher Art auch immer. Die « Wahrheitssuche » wird politischen, wirtschaftlichen bzw. ideologischen Interessen untergeordnet. Das Hinterfragen und der Zweifel, sowie der Widerspruch und die Debatte kontroverser Ideen, einige der wichtigsten Merkmale jedes freien wissenschaftlichen Prozesses, dünnen in einem Umfeld mit einer ausgeprägten Konvergenz von Interessen praktisch aus. Unter solchen Voraussetzungen mehrt sich nicht nur die Wahrscheinlichkeit für wissenschaftliche Fehlentscheidungen sondern auch das Risiko von gezielten Beeinflussungen und Manipulationen von Prozessen.
Die Folge der Abhängigkeiten von wirtschaftspolitischen Programmen
Die Erklärung moderner Wissensprogramme geht heute immer noch von idealisierten Bedingungen bei der Suche nach wissenschaftlicher Erkenntnis aus. Diese Vorstellung kontrastiert mit der Realität, mit der sich moderne technisierte Gesellschaften auseinandersetzen müssen: die Schaffung und Sicherung von Wohlstand der Bevölkerung und die Bewältigung anstehender Probleme. Regierungen und staatliche Instanzen stehen in der Pflicht, eine Vielzahl von Bedürfnissen der Bevölkerung wie Vollbeschäftigung, Ernährung, Gesundheitsvorsorge oder dem Zugang zu Infrastrukturen abzudecken. Komplexe, in ihrer Grösse kaum mehr überschaubare Mega-Programme und -Projekte sollen diese ungeheuren Anforderungen erfüllen.[5] Diese Entwicklung zu übergeordneten Megaprogrammen führt zu grundlegenden strukturellen Anpassungen moderner Gesellschaften und zu zunehmendem Einfluss der wirtschaftspolitischen Steuerung durch Regierungen und grosse Machtkonglomerate. Wissenschaft und Technik spielen dabei wesentliche Rollen in der Hilfeleistung und der Bewältigung konkreter technischer oder wissenschaftlicher Fragestellungen, sind aber in der wissenschaftlichen Bewältigung der Folgen solcher Projekte und den dazugehörenden wirtschaftspolitischen und politischen Entscheidungsprozesse nicht mehr an vorderster Stelle eingebunden. Dies hat grundlegende Konsequenzen auf die Entscheidungsprozesse in Megaprojekten: Diese sind à priori nicht mehr unbedingt wissensbasiert, sondern folgen vermehrt Abwägungen und Abwägungsentscheiden der politischen Behörden bzw. politischen und wirtschaftlichen Sachzwängen.
Damit stellen sich natürlich auch grundlegende Fragen, wie wissenschaftliche Erkenntnisprozesse noch in hinreichender Art und Weise in diese grosspolitischen Landschaften integriert werden können. Grossstaatliche Programme verlangen die Führung von solchen Prozessen und gehen davon aus, dass Wissenschaft und Technik ihre Teilnahme in den Dienst dieser Grossprojekte stellen. Erkenntnisse, welche diese Programme gefährden könnten, werden darum durch die Führungsetagen marginalisiert und zum Teil offen bekämpft. Es geht den Entscheidungsträgern nämlich im Wesentlichen in erster Linie um die kurz- und mittelfristige Durchsetzung solcher Grossprojekte, nicht um die möglichen langfristigen Auswirkungen von Fehlentscheidungen.
Eine Crux …
Diese Arbeitsteilung stellt moderne Gesellschaften nicht nur vor gewaltige Herausforderungen bei der konkreten Bewältigung ihrer Grossprojekte, sondern auch vor ein grundsätzliches Dilemma bei der Zuweisung von Verantwortlichkeiten und Führungsansprüchen. Es geht in erster Linie darum, die politische und administrative Führung von Grossprojekten und die wissenschaftliche Tragfähigkeit von Entscheidungen miteinander in Einklang zu bringen. Diese Beziehung zwischen Projektmanagement und wissenschaftlicher Planungs- und Qualitätssicherung von Programmen ist heute vielfach aus dem Lot.
Gerade bei diesen von staatlichen Stellen geführten Grossprogrammen und Megaprojekten kommt die Wissenschaftlichkeit der Lösungsansätze zu oft unter die Räder. Wissenschaft wird zwar für die konkrete Lösung von Problemen eingesetzt und verwendet, doch hat sie ihre Vorrangstellung als Drehpunkt für wissensbasierte Entscheidungen eingebüsst. Der Führungsanspruch bei wissenschaftsbezogenen Entscheidungen hat sich zunehmend in Richtung politisch agierender Institutionen und Abwägungen zwischen Interessen verlagert. Es sind heute im Wesentlichen Regierungen und Administrationen welche über das Mass und die Qualität von wissenschaftlicher Expertise entscheiden. Diese Entwicklung wird von wissenschaftlichen, aber auch von regierungsnahmen Institutionen mit zunehmender Besorgnis verfolgt, wie dies verschiedene neuere Veröffentlichungen zum Ausdruck bringen.[6] « Der Schutz der wissenschaftlichen Integrität in der Regierung ist für das Land lebenswichtig. Die Konvergenz der wirtschaftlichen, gesundheitlichen, sozialen und klimatischen Krisen, mit denen die Nation konfrontiert ist, unterstreicht die Notwendigkeit faktenbasierter Entscheidungen, die sich an den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren » folgert etwa eine 2022 veröffentlichte Studie des amerikanischen « National Science and Technology Council ».[7]
Ein Bekenntnis zu wissens- und faktenbasierten Entscheidungen – wie sie etwa auch im deutschen Standortwahlgesetz in Paragraph 1 festgehalten ist – impliziert die Akzeptanz der wissenschaftlichen Methoden, und damit auch den Prozess des Hinterfragens von wissenschaftlichen Ideen, Programmen und Projekten bzw. die Auswertung und Analyse von Programmentwicklungen. Mit einem Wort: die Fehlerkultur. Diese Erkenntnis ruft nach einer neuen Auseinandersetzung bezüglich der Führung von staatlichen Megaprogrammen und der Integration von wissenschaftlicher Expertise nach den erprobten Prinzipien wissenschaftlicher Forschung. Die Klärung des Verhältnisses zwischen politischen und wissenschaftlichen Institutionen sowie die Festlegung der Rechte wissenschaftlichen Handelns innerhalb von Großprojekten gehören darum geregelt.
Und damit kämen wir zum eigentlichen Thema der Fehlerkultur zurück, die zu all diesen Grossprojekten zwingend gehören sollte. Wir werden in den folgenden Beiträgen eine Anzahl von konkreten Beispielen über den Umgang von Institutionen mit nicht genehmen wissenschaftlichen Fakten vorstellen und zum Abschluss dieser Beiträge Möglichkeiten für einen anderen Umgang mit abweichenden wissenschaftlichen Meinungen aufzeigen. Eine gute Einführung dazu bildet der angehängte Text der 2021 in der Stiftung Leben und Umwelt erschien.
© Stiftung Leben und Umwelt, Heinrich Böll Stiftung Niedersachsen
Von Fehlern lernen: der dornige Weg der Standortsuche
Lernen baut auf Fehlern auf. Lernen heißt also, nicht nur Fehler machen zu dürfen, sondern explizit auch darüber sprechen zu können und zu Fehlern zu stehen. Aber was ist, wenn Institutionen oder Personen keine Fehler gemacht haben wollen? Wenn das Fehler machen bewusst ausgeblendet wird oder nicht darüber gesprochen werden darf? Kann ein auf einer solchen Grundlage beruhendes System überhaupt auf die Dauer funktionieren? Vor allem in einem Hochrisikobereich wie jenem der Atomenergie mit ihren langlebigen strahlenden Abfällen?
Zu Fehler zu stehen ist stark kulturabhängig. Es gibt auf der Welt Kulturen, die damit besser oder weniger gut damit umgehen können. Unsere westliche Zivilisation gehört eindeutig zu jenen Kulturen, die sich schwer tun im Verhältnis mit Fehlern – trotz Aufklärung und einem äusserst erfolgreichen wissenschaftlich-technischen Leistungsausweis. Unsere 2’000 Jahre alten christlichen Wurzeln mit einer ausgeprägten Schuldkultur stehen einer offenen Auseinandersetzung mit Fehlern und Unzulänglichkeiten immer noch im Wege. Dies gilt heute selbst in der Wissenschaft und ganz besonders im Umgang mit Risikotechnologien. Die Abfallwirtschaft zeigt exemplarisch die kulturellen Schwächen im Verkehr mit einem Kulturgut, das eigentlich niemand will und das von der Gesellschaft gerne abgeschoben und verdrängt wird: dem Abfall. Vor allem wird deutlich, wie schwer es eine auf Fehlern beruhende Lernkultur – die Fehlererkennung und -berichtigung, kurz „Fehlerkultur“ genannt, auch heute noch hat.
„Unsere 2’000 Jahr alten christlichen Wurzeln mit einer ausgeprägten Schuldkultur stehen einer offenen Auseinandersetzung mit Fehlern und Unzulänglichkeiten immer noch im Wege.“
Erfahrungen bei der Entsorgung giftiger Abfälle
Wenn wir auf die Geschichte der Abfallentsorgung im letzten Jahrhundert zurückblicken, so lässt sich das gesellschaftliche Desinteresse an allen Transformationsprodukten unserer Technik und unseres Konsums sehr deutlich nachzeichnen. Die Produktivitäts- und Effizienzpeaks moderner Industriegesellschaften korrelieren eindrucksvoll auch mit der Zunahme der Abfallmengen und der Gefährlichkeit unserer Hinterlassenschaften. Begann man zu Beginn der Industrialisierung zunächst, diese oft giftigen Hinterlassenschaften an den Produktionsstandorten zu lagern oder in Flüsse, Gewässer oder in ausgedienten Kiesgruben und Steinbrüchen zu kippen, haben die nicht wegzudiskutierenden Schäden solcher Entsorgungspraktiken in unseren Industriegesellschaften zu einem langsamen Umdenken und einem verbesserten Umgang mit der Entsorgung von gefährlichen Abfallgütern geführt. Dennoch sind die grundlegenden Erkenntnisse, die einer proaktiven Fehlerkultur zugrunde liegen, nie wirklich in Planung und Ausführung von nationalen, geschweige denn internationalen Entsorgungsprogrammen eingeflossen: Man weist zwar von offizieller Seite gerne auf Fehlerkultur, auf „lessons learned“ oder Qualitätssicherungsprogramme hin. Aber die Realität spricht eine andere Sprache: auch bei den sogenannt hochentwickelten Nationen. So gibt es bis heute kein einziges Lagerprojekt hochtoxischer Abfälle weltweit, das die langfristigen Qualitätsanforderungen an ein solches Projekt zu erfüllen vermag – weder bei den radioaktiven Abfällen, noch bei den chemo-toxischen Sonderabfällen. Ein wesentlicher Grund für diese Misere liegt im Fehlen einer Fehlererkennungs- und Berichtigungskultur („Fehlerkultur“), die diesen Namen verdient. Wir können die Gründe dafür exemplarisch an den Entwicklungen in der Schweiz verfolgen, etwa bei der Standortsuche für Endlager für radioaktive Abfälle.
Erfahrungen in der Schweiz
In der Schweiz wurde die Standortsuche nach Endlagern für radioaktive Abfälle durch den Kernschmelzunfall im Atomkraftwerk Lucens im Jahr 1969 eingeleitet. Die aus diesem Unfall hervorgehenden Abfälle – darunter geschmolzene Brennelemente des Natururan-Schwerwasser-Versuchskraftwerks sowie ein verstrahlter Reaktorkern – riefen nach Zwischenlagerungs- bzw. Endlagermöglichkeiten. So gründeten die schweizerische Atomwirtschaft und die Eidgenossenschaft 1972 die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (NAGRA), die seit nun 50 Jahren nach Standorten für hoch- bzw. schwach- und mittelaktive Abfälle sucht. Dieses Programm musste mehrfach von Grund auf reformiert werden. Wirtgesteine und Regionen wechselten sich ab. Von Anhydrit- und Salzgesteinen ging die Suche auf Kristallingesteine, Mergel und dann auf diverse Tonformationen über. Standortsuchprogramme mussten mehrfach neu gestartet werden – vom Schweizer Jura über die Alpen in den Nordosten des Landes. Was bei diesem bald 50-jährigen Suchprozess-Slalom auffällt, ist das Fehlen einer historischen Analyse dieser Entwicklungen, welche die Gründe für das Scheitern der Programme aufzeigen und aufarbeiten würde. Denn wenn Programme mehrfach scheitern, müssen Gründe dafür vorhanden sein. Es waren ihrer viele. Der Allerwichtigste: Es gibt in unseren schweizerischen Programmen nicht das, was eine Fehlerkultur ausmacht, nämlich ein angst- und repressionsfreier Umgang mit Kritik.
„Es gibt in unseren schweizerischen Programmen nicht das, was eine Fehlerkultur ausmacht, nämlich ein angst- und repressionsfreier Umgang mit Kritik.“
Das Fehlen einer Rückschau auf die bisherige Geschichte der Standortsuche geht einher mit der von den zuständigen Institutionen praktizierten Bemühungen, das heutigen Standortsuchprogramm in einem äusserst positiven Lichte erscheinen zu lassen. Seit 2008 hat das für die Prozessführung zuständige Bundesamt für Energie BFE auf den Modellcharakter des Sachplans geologische Tiefenlager – des Schweizer Standortwahlverfahrens – hingewiesen und auch international den Pioniercharakter dieses Prozesses hervorgehoben. Vor allem in Deutschland fand dieses Bild eines beispielhaften Verfahrens viel Anerkennung, obschon sich von allem Anfang eine Vielzahl von Grundproblemen bei der Erarbeitung der Konzeption wie auch bei der Abwicklung des Programmes zeigten. Dies äussert sich vor allem in vier grundlegenden Bereichen:
Konzept: das Konzept des Sachplans geologische Tiefenlager erfolgte inhaltlich durch die Nagra, d.h. durch die für die Endlagerung zuständige Organisation der atomaren Stromerzeuger. Dieses Faktum wurde nie sichtbar gemacht und die Offenlegung dieser Beziehungen wurden von den zuständigen Institutionen weder bestätig noch dementiert. Aber die Deckungsgleichheit mit den bisherigen Konzeptvorschlägen der Nuklearindustrie und die identische Vorgehensweise bei der Abwicklung des Programms sind nicht zu übersehen. Dass ein Suchkonzept vom Beaufsichtigten selber und nicht von einer Interessen unabhängigen Institution oder Kommission erarbeitet wurde, dieses Faktum aber verschleiert und bisher in der gesellschaftlichen Debatte ausgeblendet wird, ist der Glaubwürdigkeit des Prozesses abträglich. Zudem wurde der Zeitbedarf von allem Anfang an hoffnungslos unterschätzt, was die Behörden inzwischen mit argumentativ willkürlichen Ausflüchten auch einräumen.
„Dass ein Konzept vom Beaufsichtigten selber und nicht von einer Interessen unabhängigen Institution oder Kommission erarbeitet wurde, dieses Faktum aber verschleiert … wird, ist der Glaubwürdigkeit des Prozesses abträglich.“
Abwicklung: die Abwicklung der Standortsuche führte zu unzähligen Debatten über die eingesetzten Methoden. Kritisiert wurden insbesondere die Vorgehensweise bei der Abwicklung der Feldarbeiten – Seismik und Bohrprogramme – aber auch die fehlende Transparenz bei der Publikation der Ergebnisse. Ebenso umstritten ist die Entwicklung der Lagerkonzeptionen, die gewissermassen vom Dach – also den Anlagen an der Oberfläche – her erfolgten, ohne das Fundament – nämlich die Verhältnisse im Untergrund – zu kennen. Schliesslich wurde und wird bemängelt, dass Entscheide ohne Begründung verändert werden, dass also kein begründetes und nachvollziehbares Änderungsmanagement von Beschlüssen und Entscheiden vorliegt. Dies wird etwa bei der bisher bevorzugten Anbindung der Oberflächenanlagen an den Untergrund sichtbar, die – entgegen den ursprünglichen Absichten – heute mit Schächten und nicht mit einer Rampe erfolgen soll.
Strukturelle Schwächen und Abhängigkeiten: eine der grossen Fragen, welche sich in der Schweiz stellt, ist die strukturelle Abhängigkeit der Behörden gegenüber den Abfallverursachern. Zum Beispiel wurde im Verlauf des Verfahrens bekannt, dass die überwachende Behörde, das Eidg. Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI, keine Verfügungsgewalt hat. Sie kann zu Berichten der Entsorgungspflichtigen zwar Stellungnehmen, aber verfügen – wie dies jede Baubehörde in jedem Baubewilligungsverfahren tut – kann sie nicht. Dies ist Sache der politischen Behörden. Solche organisatorischen Konstrukte schwächen letztendlich nicht nur die Prüfinstitution, sondern das Verfahren und damit die Glaubwürdigkeit desselben insgesamt. Es ist darum nur folgerichtig, dass die Schweizer Sicherheitsbehörde ENSI in kritischen Kreisen als schwache und abhängige Überwachungsbehörde gilt.
Partizipation: Schliesslich steht auch die mangelnde öffentliche Partizipation in der Kritik. Bemängelt wird insbesondere, dass kein Verfahren und keine Diskussion auf Augenhöhe stattfindet und dass nicht passende Einwände am Verfahren nicht aufgenommen, überhört bzw. «übersehen» werden. Zudem sind zunehmend Kritiken an der Steuerung des Partizipationsprozesses und der Einflussnahme durch die Institutionen, die das Verfahren befürworten, laut geworden. Bürgerbeteiligung (auch Mitentscheidung) und die Schaffung von Akzeptanz stellen die Grundlage für die Umsetzung solcher Projekte dar. Können diese nicht sichergestellt werden, droht ein vorzeitiger Abbruch eines Programms, wie dies in der Vergangenheit auch in der Schweiz immer wieder zu beobachten war. Echte Partizipation braucht Zeit. An ihr äussert sich, ob eine Fehler- und Diskussionskultur erfolgreich geführt werden kann.
Viele der oben aufgeworfenen Problempunkte sind in der Schweiz – wie übrigens auch im angrenzenden Ausland – bekannt. Was besonders interessant ist, ist dass die zuständigen Behörden und Instanzen auf die aufgeworfenen Fragen und Kritiken einfach nicht eingehen. Es gilt das Gesetz des Schweigens, das das Unangenehme totzuschweigen versucht und das Nicht-Sein-Dürfende ausschliesst. Omertà und Exclusion von Sachverhalten sind äusserst gute Indikatoren für vorgespurte, geschlossene Prozesse, die in erster Linie dem Ziel dienen, ein bestimmtes Programm ohne Rücksicht auf Fehlentwicklungen durchzuboxen.
Warum Abwehrhaltungen gegenüber einer offenen Diskussion? Und wie also weiter?
Man kann zu den oben dargelegten konzeptionellen, organisatorischen, inhaltlichen und partizipatorischen Fragestellungen durchaus unterschiedliche Meinungen haben. Die Frage ist jedoch in diesem Kontext eine völlig andere. Haben andere Sichtweisen und hat Kritik an spezifischen Punkten überhaupt eine Chance, aufgenommen und offen und selbstkritisch behandelt zu werden? Fehlerkultur fängt nämlich nicht nur bei der Erkennung und Berichtigung von Unzulänglichkeiten an, sondern in erster Linie im Aufnehmen von unangenehmen Fragen und Befunden, im Behandeln und im Anerkennen derselben. Kurzum: im Prozess des Hinterfragens. Dennoch tun sich unsere Institutionen genau mit diesem Prozess äusserst schwer. Es geht dabei nicht nur um die bereits erwähnten kulturell bestimmten Hürden im Umgang mit Fehlern. Abwehrhaltungen gegenüber grösseren Änderungen sind häufig auch institutionell fixiert, oder Programm immanent: Eine offene Auseinandersetzung mit den eigenen Konzeptionen und möglichen konzeptuellen Unzulänglichkeiten oder Fehlern können ein Programm gefährden. Die mit solchen Programmen betrauten Institutionen, wehren sich naturgemäss dagegen, eine solche Entwicklung überhaupt zuzulassen. Ihre Existenzberechtigung beruht ja gerade darin, ein einmal bestimmtes und gesetzlich festgelegtes Programm abzuwickeln und auszuführen. Kommen nun Störfaktoren in diesen Prozess, die dieses Ziel in Gefahr bringen könnten, ist das Aufkommen von Abwehrmechanismen naheliegend und verständlich. Zum einen, weil die Legitimation zur Weiterführung eines solchen Programmes grundsätzlich gestört wird. Zum anderen, weil damit auch die Rolle der tragenden Institutionen in Frage gestellt wird. Und schließlich, weil auch Ängste – darunter Befürchtungen von Schuldzuweisen, Massregelungen oder Existenzängste – in solchen Situationen und Momenten hineinspielen. Angst ist ein grosser Hemmer. Diese Erkenntnis führte William Edwards Deming, den grossen Vordenker auf dem Gebiet des Qualitätsmanagements, auch dazu, die Angstfreiheit in sein 14-Punkte-Programm für das „Total Quality Management“ (TQM) aufzunehmen: „ Beseitige die Angst, sodass jeder effektiv für die Organisation arbeiten kann.[8] „ Zu ergänzen bliebe hier, dass sich Angstfreiheit nicht allein in der Organisation, sondern in der gesamten Abwicklung eines Programms zeigen sollte. Leicht abgeändert könnte dies also auch heissen:
„Beseitige die Angst, sodass jeder effektiv für ein Programm arbeiten oder auch hinterfragend daran teilnehmen kann.“
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, wie sich kulturelle Identitäten in solchen Kontexten äussern: Spricht etwa die amerikanische Nuclear Regulatory Commission (NRC) offen darüber, dass Mitarbeiter in der Nuklearindustrie in ihrer Tätigkeit „ohne Angst vor Repressalien“ wirken sollen können[9], wird das Wort „Angst“ in den entsprechenden Dokumenten der Sicherheitskultur der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEA) vermieden.[10] In unserem europäischen – und vor allem unserem deutschen Sprachraum – meiden wir in solchen Kontexten die Begriffe der Angst und der Angstfreiheit nur allzu gerne.
Es gibt kein Patentrezept, was für eine offene Diskussionskultur und damit für die Integration einer Fehlererkennungs- und -Beseitigungskultur tatsächlich gemacht werden soll. Was es hingegen gibt sind Erfahrungen, was sicher nicht gemacht werden darf, beziehungsweise Erfahrungen mit Wegen, die sich in anderen komplexen Grossprojekten als zielführend erwiesen haben. Ganz entscheidend dürfte es dabei sein, die Bewältigung dieses über Generationen sich verteilenden Programms ganz anders anzupacken. Nämlich im Wissen, dass jedes Projekt, so gut es im Augenblick erscheinen mag, auch Schwächen hat, oder haben kann, die zum Scheitern führen. Diese Erkenntnis müsste eigentlich zwingend zur Entwicklung von Regeln im Umgang mit dem Erkennen, Diskutieren und Berichtigen von Fehlern oder potentiellen Irrtümern führen. Dazu gehören natürlich auch institutionelle Absicherungen in dem Sinne, dass in gewisser Weise eine Art von „Judikative“ im Prozess dafür sorgt, dass diese offene, hinterfragende und selbsthinterfragende Diskussion tatsächlich stattfinden kann. Das Gelingen dieses herausfordernden Prozesses der Standortsuche und der Realisierung gesellschaftlich akzeptierbarer Lagerprojekte wird deshalb in starkem Ausmass davon abhängen, ob es tatsächlich gelingt, die Weichen im Such- und Umsetzungsprozess so zu stellen, dass die Warnungen „vom Tellerrand der Gesellschaft her“ durch die zuständigen Institutionen aufgenommen, behandelt und integriert werden. Denn ohne Akzeptanz seitens der betroffenen Standortgemeinschaften wird ein Standortsuchprojekt und vor allem ein geologisches Tiefenlagerprojekt auf Dauer kaum zu realisieren sein.
Zum Autor: Marcos Buser, Geologe und Sozialwissenschaftler, begleitete die nuklearen Entsorgungsprogramme seit viereinhalb Jahrzehnten als Wissenschaftler und in verschiedenen offiziellen Funktionen, darunter als Mitglied der Eidg. Kommission für nukleare Sicherheit.
Dieser Beitrag erschien in ähnlicher Form unter dem Link: https://www.slu-boell.de/de/2021/05/12/von-fehlern-lernen-der-dornige-weg-der-standortsuche .
Er liegt hier leicht modifiziert vor.
[1] Z.B. Buser, M. Schacht oder Rampe: Fehlerkultur bei der Erschliessung eines geologischen Tiefenlagers, 18. März 2021, https://www.nuclearwaste.info/schacht-oder-rampe-fehlerkultur-bei-der-erschliessung-eines-geologischen-tiefenlagers/; Buser, M., Jaccard, J.-P. Fehlerkultur beim ENSI: ein Buch mit sieben Siegeln, 9. März 2021, https://www.nuclearwaste.info/fehlerkultur-im-ensi-ein-buch-mit-sieben-siegeln/; Jaccard, J.P. Das ENSI ist nicht unfehlbar, es hat sich geirrt. 9. März 2021. https://www.nuclearwaste.info/das-ensi-ist-nicht-unfehlbar-es-hat-sich-geirrt/;
[2] Ludwik Fleck, 1935/2017. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Suhrkamp taschenbuch wissenschaft.
[3] Ludwik Fleck, 1936/2019. Das Problem einer Theorie des Erkennens. In: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze. Suhrkamp taschenbuch wissenschaft.
[4] Jämte, J., Ellefsen, R., 2020. The consequences of soft repression. Mobilization, September 2020.
[5] Priemus, H. / van Wee, B. (Hg.), 2013. International Handbook on Mega-Projects, Edward Elgar; Irlbeck, Benjamin, 2017. Megaprojekte. Herausforderungen, Lösungsansätze und aktuelle Beispiele. AV Akademiker Verlag. Frahm, M., Rahebi, H., 2021. Management von Groß- und Megaprojekten im Bauwesen, Springer Verlag. Usw.
[6] King, Anthony, 2016. Science, policy and policymaking, ENBO-Reports, 2016/Vol. 7, No. 11.
[7] National Science and Technology Council, 2022. Protecting the Integrity of Government Science. The White House. January 2022. https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2022/01/01-22-Protecting_the_Integrity_of_Government_Science.pdf
«Protecting scientific integrity in government is vital to the Nation. The convergence of economic, public health, social justice, biodiversity, and climate crises facing the Nation underscores the need for evidence-based decisions guided by the best available science».
[8] Drive out fear so that everyone may work effectively for the company.
[9] U.S.. Policy Statement on the Freedom of Employees in the Nuclear Industry to Raise Safety Concerns without Fear of Retaliation, Federal Register, 61 FR 24336, May 14, 1996.
[10] In den Berichten der IAEA zur Safety Culture (INSAG 1991 ff.) finden sich keine Hinweise auf das Motiv der Angst in der Sicherheitskultur.
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