Vorspann
Im Frühsommer 2017 hatten wir die Organisationsstrukturen des schweizerischen Entsorgungsprogramms für nukleare Abfälle vorgestellt. Dabei betrachteten wir die Lösungsansätze für eine grundlegende Reorganisation der Strukturen. In den Sommermonaten 2017 setzten wir uns mit den Stellungnahmen des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI) sowie der Kommission für die nukleare Sicherheit (KNS) zur zweiten Etappe des Sachplanverfahrens geologische Tiefenlager auseinander und kommentierten sie. Bevor nun auch die Kantone ihre Stellungnahme zu dieser zweiten Etappe abgeben, ziehen wir kurz Bilanz über das bisherige Verfahren und die Erfordernisse grundlegender Reformen.
Debakel Wellenberg als Auslöser
Ein kurzer Blickzurück: Nach dem Debakel am Wellenberg im September 2002 musste der Bund die Weichen für die Entsorgung radioaktiver Abfälle in der Schweiz neu stellen. Zum ersten Mal in der langen Geschichte der nuklearen Entsorgung Schweiz, konnte der Bund die Verantwortung über den Fortgang der Entsorgungsprogramme nicht mehr der Stromwirtschaft und der in ihrem Namen operierenden Nagra zuschieben. Er musste sich nun selber vermehrt einbringen und zumindest formal vor die Projekte stehen.
Noch im Dezember 2002 reichte die Nagra ihren Entsorgungsnachweis für hochaktive Abfälle ein und beantragte, die künftigen Arbeiten für die Option Entsorgung hochaktiver Abfälle „auf den Opalinuston im Zürcher Weinland zu fokussieren“ (Antrag 2).[1] Damit beendete die Nagra das äusserst unrühmliche Kapitel „Gewähr 1985“ mit 17jähriger Verspätung. Der Bundesrat akzeptierte 2006 den Entsorgungsnachweis der Nagra, lehnte aber die Fokussierung auf den Standort Zürcher Weinland ab.[2]
Im Jahr 2003 wurde das neue Kernenergiegesetz (KEG) erlassen. Es löste das Atomgesetz von 1959 und den dringlichen Bundesbeschluss vom 6. Oktober 1978 ebenfalls mit jahrzehntelanger Verspätung ab. 2004 folgte die Kernenergieverordnung (KEV), welche die Rolle des Bundes in Art. 5 präzisierte: „Der Bund legt in einem Sachplan die Ziele und Vorgaben für die Lagerung der radioaktiven Abfälle in geologischen Tiefenlagern für die Behörden verbindlich fest.“
Der Sündenfall beim Sachplan-Konzept
Zwischen 2005 und 2008 wurde das Konzept des Sachplans geologische Tiefenlager unter Führung des Bundesamts für Energie (BFE) erarbeitet. Was das BFE dabei verschwieg: Es hatte die massgebenden technisch-wissenschaftlichen Teile des Sachplans von der Nagra erhalten. Zusätzlich erhielt die Nagra die Führungsrolle bei der materiellen Umsetzung des Programms. Die Aufsichtsbehörde (erst HSK, dann ENSI) konnte zwar Stellung nehmen zu den Arbeiten und Vorschlägen der Nagra, ihre Anliegen jedoch nicht verbindlich verfügen, denn Entscheide standen nur dem Bundesrat zu. Auf diesem Umweg erlaubte das politische System der Atombranche, massgebenden Einfluss auf die konzeptuelle Ausgestaltung und die Umsetzung des Verfahrens zu nehmen. Dabei ist bemerkenswert, dass diese strukturelle Aufteilung und die direkte materielle Einflussnahme der Nagra auf das Konzept damals nicht hinterfragt wurden. Keine Institution überwachte diese grundlegende Prozessphase. Das BFE (ver)waltete und schaltete nach Belieben und im Interesse der Stromwirtschaft.
Diese Eingriffe stellen den eigentlichen „Sündenfall“ im Sachplanprozess dar: Die Leitplanken für die Standortsuche nach geologischen Tiefenlagern für radioaktive Abfälle und den Entscheidungsprozess waren auf die Interessen der Atomwirtschaft zugeschnitten worden. Was danach folgte, war die logische Konsequenz dieses Sündenfalls. Das Konzept war da, die Rollen verteilt. Es gab eine übergeordnete Entscheidungsebene – den Bundesrat, aber keine übergeordnete Überwachung des Prozesses. Das BFE war nur eben eine Art behördliche Strohpuppe, die dem Prozess vorangestellt wurde, aber im Grunde materiell nichts zu sagen hatte – und auch nichts sagen wollte. Seine Entscheidungen waren politischer Natur.
Das Mischeln geht weiter
Das BFE als sogenannt „verfahrensleitende Behörde“ und die in ihrem Rücken operierende Nagra gingen ab dem Jahr 2008 daran, das Suchverfahren nach diesem Konzept und Plan umzusetzen. Schon im Oktober 2008 schlug die Nagra sechs potentiell geeignete Standorte vor. Es waren dieselben, über die man schon seit Jahrzehnten gestritten hatte. Die Nagra rechnete alle sechs Standorte aufgrund von Sicherheitsanalysen gesund. Somit waren alle für die Endlagerung der jeweiligen Abfälle à priori geeignet.
In zeitaufwendigen gutachterlichen Stellungnahmen pflichteten Aufsichtsbehörden und Kommissionen der Auswahl bei. „In Etappe 1 der Standortsuche überprüften die Sicherheitsbehörden und -kommissionen des Bundes, ob sich die vorgeschlagenen Standortgebiete sicherheitstechnisch für den Bau eines Tiefenlagers eignen. Sie haben alle Vorschläge der Nagra bestätigt “, stellte die Nagra befriedigt fest.[3] Am Ende der Etappe 1 des Sachplans waren somit sechs Standortregionen für gut befunden worden. Damit war die Verteidigungslinie aufgestellt, und an dieser Linie sollte niemand mehr zweifeln. Der Einengungsprozess konnte beginnen. Der Bundesrat entschied am 1. Dezember 2011, dass alle sechs Standorte vertieft untersucht werden sollten.
Ab diesem Moment konnte in den Augen der Atomwirtschaft nichts mehr schiefgehen. Die Standorte waren gesetzt – nun konnte die Nagra das Verfahren weiter in die gewünschte Richtung steuern. Aktennotiz AN11-711 belegt die Strategie, welche die Nagra bei der Einengung verfolgte: das Zürcher Weinland und der Bözberg waren gesetzt.[4]
Eine Panne mit Folgen
Dumm für die Nagra und die Bundesbehörden war in der Folge nur, dass die Blog-Autoren in den Besitz dieser Aktennotiz kamen und dafür sorgten, dass der Schwindel ans Licht kam. Die viel gepriesene „Ergebnisoffenheit“ des Verfahrens wurde dadurch grundsätzlich erschüttert. Zwar beteuerte die Nagra, sie gehe ihre Arbeiten ergebnisoffen an. [5] Der Geschäftsführer der Nagra liess sich in der Presse sogar zu folgender Aussage verleiten: „Aber als Ergebnis der Etappe 2 werden sicher mehr als zwei Standorte weiterverfolgt werden. Es werden zwischen drei und fünf sein, sicher nicht zwei. Und: In der Nagra weiss heute noch niemand, welches diese Standorte sein werden.“ [6]
Im Januar 2015 veröffentlichte das Bundesamt für Energie die Einengungsvorschläge der Nagra. Dreister hätte man wohl nicht vorgehen können: die beiden vorgeschlagenen Standorte waren das Zürcher Weinland und der Bözberg. Von den drei bis fünf Standorten des Nagra-Geschäftsführers war nicht mehr die Rede. Der Einengungsprozess spielte sich wie gehabt auf der Ebene von sicherheitstechnischen Berechnungen ab. Die bereits gesundgerechneten Standorte wurden noch besser durchgerechnet und waren demzufolge noch geeigneter. Unter dem Druck der Kantone und der Kommission für die nukleare Sicherheit (KNS) waren zwar seismische Zusatzuntersuchungen ausgeführt worden. Aber der Untergrund blieb unangetastet. Die Einengungsvorschläge erfolgten ohne geologische Sondierbohrungen.
2017 sind es wiederum KNS und Kantone, die in ihren Stellungnahmen Kritik am Vorgehen anmelden. Dem ENSI bleibt nichts anders übrig, als sich – in vorauseilendem Gehorsam – dem absehbaren (und vermutlich hinter geschlossenen Türen kommunizierten) Druck der Kantone zu beugen. Der Einengungsvorschlag der Nagra auf zwei Standorte wird von der KNS nicht akzeptiert. Die Kantone werden mit ihrer Stellungnahme demnächst folgen, mit absehbarem Entscheid: die Reduktion auf zwei Standorte wird nicht akzeptiert werden.
Das Grundproblem der heutigen Strukturen
Aber auch Kantone und KNS fokussieren sich in ihren gutachterlichen Stellungnahmen einzig und allein auf diesen Einengungsprozess der Etappe 2. Für die Analyse des Schwindels über den Gesamtprozess fühlt sich offiziell niemand zuständig. Brav nehmen die verschiedenen Institutionen die ihnen zugewiesenen Rollen ein. Keine fühlt sich verpflichtet, das Verfahren in seiner Gesamtheit zu kontrollieren und zu hinterfragen.
Einmal mehr zeigt sich an diesem Beispiel, wie dringend notwendig eine tiefgreifende Reform unserer Institutionen ist. Nach 45 Jahren Debakel in der nuklearen Entsorgung für die Schweiz ist es im Hinblick auf die Umsetzung von Tiefenlagerprojekten zwingend, die Strukturen neu aufzustellen. Diese müssen in der Lage sein, die ihnen zugedachte Rolle als Kompetenzzentren bei der Umsetzung konkreter Projekte zu erfüllen, bzw. als unabhängige und fähige Aufsichtorgane zu agieren. Dass gerade diese Aufsicht nicht über die erforderlichen Instrumente verfügt, um ihre Arbeit in grösstmöglicher Unabhängigkeit auszuführen, werden unsere beiden nächsten Beiträge zeigen. In einem letzten Beitrag dieser langen Serie werden wir Bilanz ziehen über die Strukturreform des schweizerischen Entsorgungsprogramms.
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