Walter Wildi, André Lambert und Marcos Buser
Ausgangslage
Das Konzept der geologischen Tiefenlagerung basiert auf der Annahme, dass hochradioaktive Stoffe über einige hunderttausend Jahre im Gesteinsuntergrund dicht eingeschlossen bleiben, bis durch den naturgegebenen Zerfall der radioaktiven Substanzen ihre Gefährlichkeit genügend abgeklungen ist. Doch die Sache hat mehrere Haken: Sollten nämlich in absehbarer oder weiter Zukunft lebende Gemeinschaften auf den Gedanken kommen, noch während der nuklearen Abklingzeit bohrtechnisch nach Ressourcen (Geothermie, Kohle, Gas) zu suchen oder Möglichkeiten der CO2– und Kohlenwasserstoff-Gasspeicherung im Untergrund zu erkunden, könnten sie ungewollt den eingelagerten radioaktiven Substanzen den direkten Weg in den Lebensraum öffnen. Ein weiterer erntster Haken könnte sich dadurch ergeben, dass die Umsetzung – wie schon bei den bisherigen Deponieplanungen – mangelhaft ist und es zu neuen, sanierungsbedürftigen Altlasten kommt. Böse Überraschungen sind jedenfalls nicht auszuschliessen. Deshalb ist dem Aspekt der Standortevaluation ein besonderes Augenmerk zu widmen.
Als BFE, HSK (heute Ensi) und KSA in den Jahren 2006-2007 den Konzeptteil des Sachplans zur geologischen Tiefenlagerung[1] redigierten und die Nagra ebenfalls (und nicht deklariert) in die konzeptuellen Arbeiten eingriff, definierten diese Player eine Reihe von Auswahlkriterien. Auf eines dieser Kriterien, welches offensichtlich heute im Prozess der Standortwahl durch Entsorger und Behörden als störend empfunden wird, möchten wir hier nochmals speziell eingehen. Zitat aus dem Konzeptteil des Sachplans (S. 59):
«Rohstoffe und Nutzungskonflikte: 2.4 Nutzungskonflikte
Rohstoffvorkommen, Geothermie, Mineralquellen und Thermen.
Zu beurteilende Aspekte: Beurteilt werden die nutzungswürdigen Rohstoffe und die sich daraus allfällig ergebenden Nutzungskonflikte. Insbesondere wird beurteilt, ob im oder unterhalb des Wirtgesteins bzw. des einschlusswirksamen Gebirgsbereiches aus heutiger Sicht wirtschaftlich nutzungswürdige Rohstoffe (z. B. Steinsalz, Kohlenwasserstoffe, Geothermie, Mineralquellen und Thermen) im besonderen Mass vorkommen. Beurteilt wird ferner, ob die Erschliessung und Nutzung der Rohstoffe die Barrierenwirkung des Wirtgesteins beeinträchtigen (Schichtverletzung) oder das Lager direkt treffen könnte.
Relevanz für die Sicherheit: Günstig ist, wenn keine Rohstoffe, deren Nutzung die Barrierenwirkung des Wirtgesteins signifikant beeinträchtigen würde, in besonderem Masse innerhalb des Standortgebietes vorkommen.»
Das Kriterium nennt direkt und indirekt zwei Sicherheitsaspekte:
- Ausbeutung der Rohstoffe v.a. unterhalb eines Tiefenlagers: Dabei kann man sich vorstellen, dass ein nuklear beschicktes und bereits verschlossenes Lager während einer Rohstoff-Prospektion und der eventuellen Ausbeutung absichtlich oder unabsichtlich durchfahren und seine Sicherheit direkt tangiert wird.
- Beeinträchtigung der Barrierenwirkung durch die Nutzung: Diese Gefährdung kann selbst dann entstehen, wenn Rohstoffe unterhalb eines Lagers unter Verschonung des Lagers selbst abgebaut werden. Dabei entstehen – wie in den meisten Bergwerken – Hohlräume, welche früher oder später einbrechen, wobei sich der Einbruch allmählich vom Lager zur Oberfläche fortsetzt. In diesem Fall kann das Gestein des Tiefenlagers geklüftet werden, sodass Wasser zirkulieren und Abfallstoffe mobilisieren kann.
Nicht explizit erwähnt – aber im «Hinterkopf» eines jeden Geologen präsent – ist auch der Fall von «mobilen» Ressourcen: Tiefengrundwasser (Thermalwasser), Erdgas und Erdöl zirkulieren im porösen oder geklüfteten Untergrund und akkumulieren sich in unterirdischen Speichergesteinen (Reservoirs). Erstreckt sich etwa ein Gas- (oder Öl)-Vorkommen bis in den Untergrund eines Tiefenlagers, so kann es auch auf Distanz (bis mehrere Kilometer) ausgebeutet werden, wobei eine Subsidenz (ein Absacken) der Gesteinsüberdeckung über die ganze Ausdehnung des Gasvorkommens einsetzt[2]. Auch in diesem Fall wird das Gestein im Subsidenzbereich über dem Gasvorkommen geschwächt, sodass sich die Wasserzirkulation erhöhen kann.
Beim Risiko von Subsidenz können in beschränktem Masse Gegenmassnahmen getroffen werden, etwa indem leere Bergwerkstollen und Kavernen aufgefüllt werden (Bergwerkversatz) oder, dass leerer Porenraum eines Reservoirs mit Wasser gefüllt wird (vorausgesetzt, das Reservoir kann dauerhaft abgedichtet werden). In jedem Fall setzen Planung und Realisierung solcher Massnahmen eine gründliche Kenntnis der geologischen Verhältnisse voraus.
Geothermie und Thermalwasser
Der potenzielle Konflikt zwischen geologischer Tiefenlagerung und der Nutzung der Erdwärme weist einige Besonderheiten auf: Erdwärme ist in der Tiefe allgegenwärtig; mithin ist ihre Nutzung an sich überall möglich. Diese erfolgt entweder durch die Nutzung von Thermalwasser welches natürlicherweise durch das Gestein fliesst, oder durch die Injektion von Wasser durch Bohrungen von der Erdoberfläche aus in den Untergrund. Dieses Wasser wird nach der Aufheizung in der Tiefe wieder an die Erdoberfläche gepumpt und genutzt.
Der Wärmefluss aus der Tiefe ist allerdings regional unterschiedlich, wie Abb. 1 zeigt.
Abbildung 1: Wärmeflusskarte der Nord- und Ostschweiz (https://georessourcen.ethz.ch/waermeflusskarte-schweizerisches-molassebecken/
In der Nord- und Ostschweiz finden sich die Gebiete mit hohem Wärmefluss im unteren Aaretal und dessen Nachbargebieten im Rheintal, dem unteren Limmat-, Reuss- und Seetal. Dieses Gebiet schliesst die Thermen von Baden, Schinznach und Zurzach ein. Sodann erkennt man die Regionen von Schaffhausen und St. Gallen. In diesen Gebieten ist die Nutzung der Geothermie besonders interessant und effizient. Unter Berücksichtigung des hohen Stellenwerts der Geothermie-Ressourcen in der Energiepolitik der Schweiz ist angezeigt, den Untergrund dieser Gebiete für die Nutzung der Erdwärme zu reservieren. Dabei ist auch zu beachten, dass die Nutzung der Erdwärme die Wasserzirkulation im Untergrund verändert und stellenweise erhöht.
Vom Umgang mit Auswahlkriterien
Seit der Publikation des Sachplan-Konzepts sind die Auswahlkriterien Teil des Standortwahlprozesses. Allerdings werden sie sowohl durch die Nagra als auch durch die Behörden nicht im Sinne von Ausschlusskriterien, sondern eher als «verhandelbare Wunschliste» angewandt. Dies erklärt sich teilweise durch folgende Auslegung im Sachplan-Konzept (S. 62): «Die Bewertungsergebnisse der einzelnen Kriterien werden dabei mit Hilfe einer Bewertungsmatrix zu einem Gesamturteil über die Eignung der Standortgebiete zusammengezogen. Das Ergebnis wird auf der entsprechenden qualitativen Werteskala (d.h. sehr geeignet/geeignet/bedingt geeignet/weniger geeignet) dargestellt. Das Vorgehen und das Ergebnis sind in einem Bericht zu dokumentieren, mit welchem die Entsorgungspflichtigen Vorschläge für potenzielle Standortgebiete unterbreiten. Als potenzielle Standortgebiete kommen nur solche in Frage, welche mindestens die Bewertung „bedingt geeignet“ erreicht haben.»
Hierzu zwei Feststellungen:
- Die Beurteilung der Frage nach möglichen Nutzungskonflikten und nach deren Risikopotential kann nur auf Grund konkreter Geo-Informationen am Lagerstandort und in dessen Umgebung erfolgen. Dies bedeutet, dass an einem vorgeschlagenen Standort Sondierbohrungen die gesamte Abfolge von Sedimentgesteinen, inklusive jene des Permokarbon-Troges und den Oberteil des darunter liegenden Kristallins namentlich auf Kohlenwasserstoffe, Metalle und Seltene Erden untersuchen müssen.
- Bei negativem Befund kann ein Standort bezüglich potenzieller Nutzungskonflikte als geeignet bezeichnet werden. Bei Vorhandensein wichtiger Bodenschätze hingegen, ist ein Standort als negativ zu beurteilen und allenfalls auszuschliessen.
Immer wieder wird die Möglichkeit erwähnt, einen Standort mit Hilfe einer amtlichen Verfügung für die Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle zu schützen. Begründung: Die Schweiz hat eine Oberfläche von 41’000 km2. Hiervon kann man wohl 1 km2 für die nukleare Entsorgung im Untergrund reservieren. Wie oben dargestellt, ist dies etwa im Falle des Vorhandenseins eines Gasreservoirs auch kurzfristig kaum möglich. Sodann ist zu beachten, dass amtliche Verfügungen kaum lange Zeitdauern überleben. Ein konkretes, fast karikaturales Beispiel hierfür ist die römische Stele des Pierre de Chagnon am Aqueduc du Gier (nahe Lyon), welche die landwirtschaftliche Nutzung unter dem Aquedukt verbietet (Abb. 2).
Abbildung 2: Pierre de Chagnon am Aqueduc du Gier (bei Lyon). Inschrift: Ex auctoritate imp(eratoris) Caes(aris) Trajani Hadriani Aug(usti) nemini arandi, serendi pangendive jus est intra id spatium agri quod tutelae ductus destinatum est. (Auf Geheiss des Kaisers Caesar Trajan Hadrian Augustus ist jedermann das Pflügen, Säen und Pflanzen untersagt in diesem, dem Schutz des Aquädukts dienenden öffentlichen Raum).
(https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3A01._Pierre_de_Chagnon_-_Aqueduc_du_Gier.JPG
In diesem Kontext manifestiert sich auch beispielhaft die schon an Naivität grenzende Unbekümmertheit von Nagra (und Ensi) bei der Lektüre der Nagra-Broschüre “Ressourcen im Untergrund und geologische Tiefenlager – ein Konflikt?” (Nagra 2017). Zitat: “Ist ein Tiefenlager errichtet worden, muss der Standort durch einen Schutzbereich gemäss Art. 40 Kernenergiegesetz vor anderen Nutzungen geschützt werden.” – Und wer, fragt sich der geneigte Leser, wacht dann darüber, dass dieser Paragraph über Jahrtausende nicht nur seine uneingeschränkte Gültigkeit behält sondern gegebenenfalls auch rigoros durchgesetzt wird?
Schlussfolgerungen
Aus den obigen Ausführungen schliessen wir, dass der Frage der potenziellen Nutzungskonflikte bei der Standortwahl im Rahmen des Sachplans geologische Tiefenlager grösste Beachtung zu schenken ist. Ein allfälliger Konflikt kann bei der Qualifikation eines Standortes nicht durch andersartige Argumente aufgewogen werden. Im Hinblick auf die Ausarbeitung der Unterlagen für die Rahmenbewilligung bedeutet dies konkret:
- Die Standorte sind bis in den kristallinen Untergrund auf Vorkommen und die eventuelle Nutzung von Energieträgern, seltenen Erden und Metalllagerstätten zu untersuchen.
- Standorte für geologische Tiefenlager haben geothermische Hotspots zu meiden.
[1] Sachplan geologische Tiefenlager, Konzeptteil, 2. Avril 2008 (Revision vom 30. Nov. 2011). BFE Bern.
[2] Auswahl aus zahlreichen Publikationen:
- E.Gurevich George V.Chilingarian 1993: Subsidence over producing oil and gas fields, and gas leakage to the surface. J. Petroleum Sci. and Engineering, Volume 9, Issue 3, June 1993, Pages 239-250 (cum biblio).
- K. van Thienen-Visser & P. A. Fokker 2017: The future of subsidence modelling: compaction and subsidence due to gas depletion of the Groningen gas field in the Netherlands. Online: https://www.cambridge.org/core/journals/netherlands-journal-of-geosciences/article/future-of-subsidence-modelling-compaction-and-subsidence-due-to-gas-depletion-of-the-groningen-gas-field-in-the-netherlands/5AA74E14CA47696B792D660F82F293C
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