Marcos Buser & Jean-Pierre Jaccard
Die Aufsichtsdefizite im Atombereich sorgen seit Jahrzehnten für Schlagzeilen. Jahr für Jahr werden auch im Bereich der Atomenergie neue Mängel, Schwächen und Fehler bei der Durchführung der Aufsichtstätigkeit des Nuklearinspektorates ENSI bekannt. Zwei Beispiele neueren Datums: Am 18. Februar 2021 berichtet die Tagespresse – und nicht wie erwartet die Aufsichtsbehörde selbst – über zwei vor bald 30 Jahren nicht montierte Schockabsorber im Atomkraftwerk Beznau.[1] Im Detail wird dieses erst im Dezember 2020 entdeckte Defizit von Markus Kühni aufgearbeitet.[2] Dieser Fall des Übersehens eines schweren Installationsmangels übertrifft, bezogen auf Dauer der „Blindheit“, sogar den Fall der Handfeuerlöscher, die 2008 am Containment des Kernkraftwerks Leibstadt von unbeaufsichtigten, externen Handwerkern angeschraubt worden waren und dort bis Juni 2014 – also während 6 Jahren – verblieben, bevor Betreiber und Aufsicht endlich feststellten, dass die Sicherheitshülle des Containments an sechs Stellen perforiert worden war.[3] Das ENSI hat dem letzteren Vorfall, in Bezug auf das materielle Risiko, nur geringe technische Sicherheitsrelevanz attestiert. Der gravierende Mangel in der Sicherheitskultur, der damit offenbart wird, preist das ENSI gegen Aussen jedoch als Erfolg an, weil der Fehler ja erkannt und behoben wurde.
Was die Qualität der Aufsicht in den genannten Fällen betrifft, muss von fahrlässigem Verhalten gesprochen werden, das sich leider regelmässig wiederholt. Bei einer Hochrisikotechnologie wie der Atomtechnik, kann dieses wiederkehrende Versagen nicht hingenommen werden. Das zehnjährige Fehlen einer effizienten Qualitätskultur, welche Ex-ENSI-Direktor Hans Wanner zu verantworten hat, muss als katastrophal beurteilt werden. Es ist zu hoffen, dass unter dessen Nachfolger Marc Kenzelmann die in unzähligen Schriften der Internationalen Atom-Energie-Organisation und der Nuclear Energy Agency festgelegten Grundsätze zur Fehler- und Sicherheitskultur endlich mit Nachdruck umgesetzt und gelebt werden.[4] Dazu gehören das interne Hinterfragen, Lernen und Verbessern, was auch das Erfassen und Nachverfolgen der Ereignisketten und deren Korrektur voraussetzt. Eine professionelle Aufsicht darf nicht erst Jahre und Jahrzehnte nach den Vorkommnissen erfolgen, sondern muss die Prozesse in einem bestimmten und eng gesetzten Zeitfenster begleiten. Man stelle sich vor, was es bedeuten würde, wenn die Qualitätssicherungsprogramme in Flugzeugen für defekte oder nicht installierte Geräte erst nach vielen Jahren und sogar Jahrzehnten aktiviert würden. Die Abstürze von zwei Boeing 737 MAX 8 zeigen überdeutlich, welche tragischen Folgen mangelhafte Qualitätsprozesse zeitigen können. Auch der Fall „Blausee“ und die Jahre zu spät entdeckte illegale Ablagerung von verschmutzten Abfällen im Steinbruch Mitholz sorgen gegenwärtig für dieselben Schlagzeilen.[5]
In diesem Sinne äusserst aufschlussreich sind die Vorkommnisse, wie sie Jean-Pierre Jaccard, seit 2014 Mitglied des Technischen Forums Kernkraft (TFK), im beigelegten Artikel schildert (siehe Kästchen).
Jean-Pierre Jaccard Dipl. Ing. Agr. ETH, MSC Agrarökonomie Kansas State University, IT Systemanalytiker & Qualitätsbeauftragter Ciba-Geigy, 2003 Eidg. Fachausweis Umweltfachmann, Besetzer AKW-Gelände Kaiseraugst, Mitinitiant ADEV Energiegenossenschaft, Zentralvorstand Pro Natura (1984-1989), in der ENSI Mahnwache “Stopp Beznau“ in Brugg engagiert. |
Das TFK ist eine Plattform, welche das ENSI eingerichtet hat, um die Diskussion über nukleare Sicherheitsaspekte mit der Bevölkerung zu führen.[6] Nachdem 2014 im KKW Leibstadt (KKL) Schäden an Brennelementhülsen festgestellt worden waren, hatte das ENSI zunächst eine erste Diagnose gestellt und publiziert[7], wonach die beobachteten Schäden auf die Austrocknung der Hüllrohre (Dry-Out) zurückzuführen seien. Aufgrund dieser Diagnose erteilte das ENSI die Bewilligung zur Wiederinbetriebnahme des KKL. Es veranlasste aber trotzdem eine Überprüfung des Sachverhalts durch das Paul-Scherrer-Institut (PSI). Im Jahr 2019 informierte das ENSI das TFK, dass die erwähnten Schäden auf den Hüllrohren, gemäss den Untersuchungen des PSI, sogenannte Cruds seien, also Metallablagerungen oder Inkrustrationen, und nicht direkte Hüllrohrschäden durch Oxidation. Im danach folgenden Frage-Antwort-Prozesses im TFK musste das ENSI schliesslich eingestehen, dass ihm ein Beurteilungsfehler unterlaufen sei. Im Protokoll vom 13. Dezember 2019 gibt die Aufsichtsbehörde unter dem Punkt «Varia» zu, dass es sich bei der ersten Diagnose geirrt habe. Jaccard schildert diesen Prozess des Fehlerbekenntnisses durch das ENSI sachbezogen, präzis und detailreich (siehe Artikel unten von Jean Pierre Jaccard).
Dieses Eingeständnis des ENSI ist einzigartig, weil die Aufsicht einen Fehler ohne Wenn und Aber schriftlich zugibt respektive zugeben muss, wenn auch nur unter dem Punkt „Varia“ in einem internen Protokoll. Aber selbst aus dieser eingeengten Perspektive könnte das Eingeständnis dieses Fehlers durch die ENSI-Mitarbeiter als ein äusserst positives Zeichen gewertet werden. Leider wird nicht sichtbar, ob die nach der Fehldiagnose erforderliche Analyse des Fehlerprozesses überhaupt ergriffen und weiterverfolgt wurde. Es sind viele Fragen, die an diese Feststellung anschliessen: Wie kam die Fehleinschätzung zustande? Wann wurde sie bemerkt? Wurde sie durch ENSI-Mitarbeiter oder erst im Rahmen der Überprüfung durch das PSI entdeckt? Warum wurde das PSI überhaupt eingeschaltet? Routinevorgang oder Unsicherheit des Befundes? Wie ging das ENSI mit dem neuen Befund um? Warum informierte es nicht von sich aus zu ihrer Fehldiagnose? Wie steht es um die Nachvollziehbarkeit der Ereignisse? Wird ein Fehlermanagement im ENSI überhaupt aktiv betrieben? Wie steht es mit der hinterfragenden Grundhaltung der ENSI-Mitarbeiter? Und so weiter und sofort …. Es sind also eine Vielzahl von Fragen, die zu beantworten wären, um beurteilen zu können, ob und wie Fehlerkultur im ENSI tatsächlich gelebt wird. In diesem Kontext böte sich die Möglichkeit, die Prozesse einer Fehlerkultur nochmals grundlegend zu überdenken. Dass in einer gelebten Fehlerkultur auch eine aktive, selbsthinterfragende Kommunikation dazu gehört, sollte sich ja von selbst verstehen.
[1] https://www.tagesanzeiger.ch/montagefehler-blieb-30-jahre-unentdeckt-355169344994
[2] Kühni, Markus, 2021, Fragen für das technische Forum Kernkraftwerke, 4. März 2021, im Auftrag der Schweizerischen Energie-Stiftung SES
[3] Ensi, 2014, Strafanzeige wegen Beschädigung von Containments in Beznau und Leibstadt, https://www.ensi.ch/de/2014/11/06/strafanzeige-wegen-beschaedigung-von-containments-in-beznau-und-leibstadt/
[4] IAEA, 1991, Safety Culture, Safety Series No. 75-INSAG-4, International Atomic Energy Agency (IAEA), Vienna, 1991, https://www-pub.iaea.org/MTCD/publications/PDF/Pub882_web.pdf, und alle darauf aufbauenden, nachfolgenden Berichte
[5] Berner Zeitung, Kanton entlastete Steinbruch Betreiber voreilig, 4. März 2021, https://www.bernerzeitung.ch/kanton-entlastete-steinbruchbetreiber-voreilig-776369892174
[6] https://www.ensi.ch/de/themen/technisches-forum-kernkraftwerke-schweiz/
[7] https://www.ensi.ch/de/2016/12/19/dryout-vermeidung-von-unzureichend-gekuhlten-brennstaben/
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