Photo: „L’envolée sauvage“; der Winter kommt, die Vögel ziehn!
(Museum in St Rémy de Provence)
Vom Herbst zum Winter in der Nuklearindustrie
Wir erleben heute bekanntlich einen tiefen Wandel der Energiewirtschaft, und die Energiepolitik stapft brav hinten drein und reguliert den Übergang. Oder besser: sie meint den Übergang zu regulieren. Dabei denken wir etwa an den sogenannten „Atomausstieg“ in Deutschland und an „Strategie Energie 2050“ der Schweiz, sodann an die „Transition énergétique“ in Frankreich, u.a.m. Nur eben: Oft läuft alles anders, als dies die mühsam erarbeiteten Strategien eines kontrollierten Wandels planten.
Und so sieht es aus, wenn wir die Zeichen der letzten Tage und Wochen betrachten: Vieles weist auf einen viel rascheren Absturz der Nuklearindustrie hin, als dies in den offiziellen Papieren steht. Denn, etliche Akteure handeln heute – bewusst oder unbewusst – ganz im Sinne des Motos „Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende“. Hier eine kurze, ungeordnete und unvollständige Folge von Hiobsbotschaften aus der schweizerischen und ausländischen Presse.
Zur Situation in der Schweiz
Kranke AXPO-Kernkraftwerke
KKW Beznau 1:
„Blick“ vom 28.09.2017: „Die Wiederinbetriebnahme von Block 1 des AKW Beznau im Kanton Aargau verzögert sich erneut. Der Energiekonzern Axpo geht davon aus, dass der seit zweieinhalb Jahren abgeschaltete Block Ende Februar 2018 hochgefahren werden kann. . . . Grund für die Verzögerung seien zusätzliche umfangreiche Materialuntersuchungen, die von der Atomaufsichtsbehörde ENSI für die Gewährung der Wiederanfahrbewilligung gefordert würden, teilte die Axpo am Donnerstag mit. Im Juni hatte der Energiekonzern den kommenden 31. Oktober als Planungs- und Zieltermin genannt.“
KKL, immerwährende Brennstoffschäden im Kernkraftwerk Leibstadt:
„az, Aargauer Zeitung vom 8.11.2015: „Weitere Brennelemente mit Mängeln: AKW Leibstadt bleibt bis Ende Jahr vom Netz . . . . Der Grund für die erneute Verzögerung: Unter den Brennelementen, die im nächsten Betriebszyklus im Reaktorkern eingesetzt werden, sind weitere aufgetaucht, die Mängel aufweisen. Das hätten Abklärungen beim Lieferanten ergeben. Ursprünglich waren es 16 Elemente, nun müssen 24 ausgetauscht werden, bevor sie überhaupt zum Einsatz kommen. Insgesamt umfasst der Reaktorkern 648 Brennelemente.“
Übrigens: Eine gewisse Anzahl von nicht konformen Brennelementen war bereits im Reaktoreinsatz (siehe Blog-Beitrag vom 26. November 2017: „Panne im KKL: „Ja nicht den Heuhaufen durchsuchen, man läuft sonst Gefahr, eine Nadel zu finden!“)[1].
Es sieht also ganz so aus, als dürfte die Schweiz einen weiteren Winter mit 3 anstatt 5 Kernkraftwerken verbringen dürfen[2]. Und wiederum wegen nicht konformen Brennelementen (siehe auch unsern Blog-Beitrag vom 27. Februar 2017 „Blinde Kuh: 8 Jahre KKL-Betrieb unter INES-Störfall-Bedingungen“)[3] Man darf gespannt sein, wann die nächste Pannen- oder Störfallbotschaft folgt.
Arme ALPIQ!
„Tagesanzeiger“ vom 28.08.2017: „Alpiq gibt Verkauf von Wasserkraftwerken auf.
Der Energiekonzern Alpiq verkauft doch keine Teile seines Wasserkraftportfolios. Für potenzielle Investoren sind die Risiken offenbar zu gross.“ „Zudem hat der Konzern den Verlust ausgeweitet. Wie anzunehmen, zeigen die Zahlen keine Stabilisierung der Ertragskraft, erklärten die ZKB-Analysten. Sie seien sogar noch schlechter als erwartet.
Der Aktienkurs stand nach 09.30 Uhr um 3,78 Prozent tiefer als zu Handelsschluss am Freitag. Eine Alpiq-Aktie kostet noch knapp 80 Franken. Der Gesamtmarkt, gemessen am SPI, stand zeitgleich um knapp 0,4 Prozent im Minus.“
Aber das war nur der Anfang, denn Mitte November 2017, zeigte die Kurve des Aktienkurses von ALPIQ einen viel grösseren Verlust, welcher zwischen Mitte September und Anfang November eingefahren wurde. In dieser Zeit sank der Kurs von 82 CHF auf 65 CHF, d.h. ein Verlust von etwas mehr als 20 % in 6 Wochen. Und hier stehen wir Anfang Dezember noch immer. Kapitalisierung am 1. Dezember 2017: 1.8 Mrd CHF.
Aber allen Widrigkeiten zum Trotz: auch ALPIQ fährt weiter. Die Frage ist nur, wie lange noch?
Die schweizerische Aufsichtsbehörde bricht ein:
In unserem Blog vom 12. November 2017 beschrieben wir den Einbruch der Aufsichtsbehörde ENSI in der Beurteilung der Gesuche der Nagra für die geologische Erkundung der drei in der Auswahl verbleibenden Standorte für geologische Tiefenlager für radioaktive Abfälle. So schrieb die Behörde: „Die Sondierbohrungen werden die erforderlichen Informationen für die spätere Beurteilung der Sicherheit der geologischen Tiefenlager Jura Ost und Zürich Nordost für nukleare Abfälle liefern, ohne die Umwelt zu beeinträchtigen. Zu diesem Fazit kommt das ENSI in seinen sicherheitstechnischen Gutachten.“ Wir stellen dazu fest: “Damit ist ein Standortnachweis mit diesen Untersuchungen schlicht und einfach nicht möglich. . . . . Das ENSI öffnet mit seinen Gutachten einen riesigen Graben zwischen ENSI+ Nagra einerseits und den Experten der KNS und der Kantone (AdK + AG-Sika) andererseits.“[4]
Wir stellen einmal mehr fest, dass die Nuklearindustrie in der Schweiz auf sehr wackeligen Beinen steht. Der Moment naht, wo Bund und Kantone die verbleibende Last der Stilllegung und der Entsorgung übernehmen müssen. Sie werden dabei unerwarteter Weise (. . .) auf ein Projekt stossen, welches auf äusserst brüchigen Beinen steht und wohl besser so nicht umgesetzt wird.
Hiobsbotschaften zum Stand der Nuklearindustrie im Ausland
In unserem Blog-Beitrag vom 17. April 2017 haben wir unter dem Titel „Westinghouse im Reaktorhimmel“ vom Untergang des grossen Elektrizitäts- und Nuklearkonzerns Westinghouse berichtet. Dabei wiesen wir auch auf den Niedergang von Siemens hin.[5]
Diese Information folgte auf jene zur Aufteilung von Areva (unser Blog vom 9. Januar 2017).[6]
Nun geht die Geschichte weiter, mit der „Gesundschrumpfung“ von General Electric GE. Le Monde vom 14.11.2017 schreibt hierzu: „L’américain General Electric (GE), créé par Edison 1889, a annoncé un plan de restructuration massif due en grande partie aux difficultés de sa division électrique. Le même jour en France, EDF a revu à la baisse ses prévisions de résultats pour 2018. Une semaine auparavant, c’était le grand concurrent de GE, l’Allemand Siemens, qui annonçait un vaste plan de suppression d’effectifs.
En savoir plus sur https://www.lemonde.fr/economie/article/2017/11/14/edf-et-general-electric-cherchent-transition-energetique_5214677_3234.html#dIqjfJKfiKVAXclT.99“
Formell hat unseres Wissens GE sein Engagement in der Nuklearindustrie noch nicht aufgegeben. Aber dessen Schicksal dürfte nach dem Einbruch der Bestellungen wohl besiegelt sein.
Als Entwickler und Bauer von Kernkraftwerken in der westlichen Welt sind die französischen AREVA und EDF übrig geblieben. Aber auch das wohl nur auf dem Papier. AREVA wurde Anfang 2017 durch den Staat mit einer Finanzspritze von 2 Mia Euros refinanziert. Nur eben, AREVA steckt weiterhin in der Krise. So etwa beim Bau eines neuen Kernkraftwerks (einem EPR) in Finnland. Dazu schreibt Le Monde vom 9.10.2017: „Areva : le chantier finlandais encore en retard. Un nouveau report a été annoncé pour la mise en service de l’EPR d’Olkiluoto, désormais prévue en mai 2019, et non à la fin de 2018. En savoir plus sur https://www.lemonde.fr/economie/article/2017/10/09/areva-le-chantier-finlandais-encore-en-retard_5198347_3234.html#hfbMCv7bAV2pjEwY.99“
Der Streit um Schadenersatz für die Verspätung bei der Inbetriebnahme des Kraftwerks dreht sich heute um 3.4 Mia Euro. Für 2016 weist AREVA einen Verlust von 665 Mia Euros aus, sowie eine Schuld von 10 Mia Euros. Die Zukunft des Konzerns ist nicht rosig, und AREVA wird wohl kaum anders, als auf Staatskosten überleben können.
Radioaktives Ruthenium aus Russland …?
Natürlich kann auch das faulste System eine Zeit lang mit Steuergeldern erhalten werden. Aber die realen Risiken von schweren Störfällen mehren sich unter solchen Bedingungen. Wie real dies ist, zeigte einmal mehr das Ereignis über eine Freisetzung von radioaktivem Ruthenium 106, vermutlich Ende September 2017. Ruthenium 106 ist ein radioaktives Isotop mit Halbwertszeit von 373 Tagen. Am 4. Oktober jedenfalls gibt das französische Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire IRSN Kontaminationen durch Ruthenium 106 im Osten und Südosten Europas bekannt. Eine Messstation 30 km von Majak im Südural verzeichnete Werte die fast tausend Mal über dem erlaubten Werts lagen. Auch der russische Wetterdienst bezeugte eine Freisetzung mit Ruthenium 106. In den darauffolgenden Tagen bestätigen Ministerien und Labors quer durch Europa diesen Befund. Auch das Bundesamt für Gesundheit gibt am 10. Oktober 2017 eine Pressemitteilung mit ähnlichem Inhalt heraus.[7]
Rosatom und die Behörden der Region Tscheliabinsk hüllen sich in Schweigen und bestätigen am 11. Oktober gerade nur, ihnen sei nichts über einen Unfall oder Vorfall im Südural mit Freisetzung von Rutheniums 106 bekannt. Dann, am 19. Oktober bestätigen die Behörden der Region Tscheliabinsk eine Freisetzung von Ruthenium 106, allerdings nicht aus Majak. Das Ereignis als solches mag für Europa untergeordneter Bedeutung sein. Der Umgang mit den Information ist es allerdings nicht. Es ist kaum zu glauben, dass in unserer Zeit noch versucht wird, solche Vorkommnisse vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Es ist darum mehr als an der Zeit, dieses schreckliche Erbe ein für allemal zu beenden.
Ein Ende mit Schrecken
Und so geht ein industrielles Zeitalter zu Ende! Rascher, als man noch vor wenigen Jahren hätte vermuten können; unrühmlich, mit Pleiten und Umstrukturierungen, persönlichen Enttäuschungen und lokaler Arbeitslosigkeit verbunden. Dieses Ende ist auch mit hohen Risiken für Pannen und Nuklearunfälle belastet. Von einem Unfall zum andern vergisst die Gesellschaft jeweils wieder; nur eben: die nächste Panne kommt bestimmt! Wann und Wo? Wir wissen es (noch) nicht.
Was nachher bleiben wird, sind Rückbauprojekte, Abfallberge und Finanzlöcher! Aber all jene, die hierfür gerade stehen müssten, haben ihr Schärfchen ans Trockene gebracht und sind „weg vom Fenster“.
Das Ende der Nuklearindustrie bedeutet aber glücklicherweise auch eine grosse Chance für Innovation und neue, mit grosser Wahrscheinlicher nachhaltigere Entwicklungen. Welche Lösungen dabei die Schlüsselrolle spielen werden, bleibt heute teilweise offen: Smart-Netze, rationelle Energienutzung, Wind, Wasser, Sonne, Geothermie, etc.? Was tuts? Sicher werden die Lösungen weniger zentralisiert sein als die heutigen Grosskraftwerke, diverser als die heutige Stromversorgung. Und: die eigentliche grosse Herausforderung kommt erst noch: Der Ersatz der fossilen Kohlenwasserstoffe. Und natürlich: die möglichst sichere, bzw. die am wenigsten unsichere Beseitigung der radioaktiven Abfälle!
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