Als im November 2011, am Ende der Etappe 1 des Sachplans, die Nagra den Standort Wellenberg als einen der sechs möglichen Standorte für ein geologisches Tiefenlager für schwach und mittel radioaktive Abfälle vorschlug, griff sich wohl nicht nur der Präsident des MNA (Komitee für die Mitsprache des Nidwaldner Volkes bei Atomanlagen) an den Kopf. War denn der ganze Kampf um den Wellenberg in den Jahren 1990 bis 2002 für die Katze gewesen? Wurde der Wellenberg denn
noch immer sachlich und fachlich als derart gut und für ein Lager geeignet betrachtet, dass die politische Abfuhr aus dem Jahr 2002 übergangen werden konnte?
Seit der Ablehnung des letzten Sondiergesuchs der Nagra nach Atomrecht durch das Nidwaldner Volk war viel Wasser unter den Brücken der Engelberger Aa geflossen. Neue geologische Felduntersuchungen waren seither am Wellenberg keine durchgeführt worden. Gab es also objektive neue Argumente, welche den Entscheid der Nagra stützten. Oder, handelte es sich um eine Trotzreaktion der Entsorgungsorganisation, welche die Aufgabe des Standortes nicht beim Entscheid von 2002 belassen wollte?
Eine Schlüsselstellung nimmt in dieser Geschichte die zur Frage der geologischen Eignung des Wellenberges im Jahr 2010 erschienene Studie von Jan Mosar, Geologieprofessor an der Universität Fribourg ein. Die Studie beschäftigte sich u.a. intensiv mit der Frage der Bedeutung der regionalen Tektonik und deren Zusammenhang mit der bekannten Erdbebenaktivität. Dabei kam der Autor namentlich zu folgenden Schlüssen (Unterstreichungen durch Blogautoren):
„Bei der kritischen Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Nagra-Studien zur Tektonik am Standort Wellenberg können hauptsächlich zwei Aspekte hervorgehoben werden: zum einen die Schwierigkeit, die Geometrie der tektonischen Strukturen im Untergrund zu bestimmen, zum anderen die Auswirkung rezenter und zukünftiger Prozesse im Zusammenhang mit der fortschreitenden Gebirgsbildung (Tektonik, Hebung, Erosion, Erdbeben) auf die jungen Überschiebungen vorherzusagen.“
„Sogar bei Anwendung modernster Untersuchungsmethoden der Erdwissenschaften bleibt es zum heutigen Zeitpunkt fragwürdig oder sogar unmöglich, genaue Information zur Geometrie und Tektonik der Strukturen im Untergrund zu erhalten. Dies gilt auch und insbesondere für die Fremdgesteinskörper (Schollen), deren Anzahl und Ausdehnung im Untergrund des Standortgebietes nicht bekannt sind. Nur ein Stollen würde Aufschluss über die Strukturen in nächster Umgebung ermöglichen. Auch durch diesen könnte aber vermutlich nicht ausgeschlossen werden, dass beim Bau des Tiefenlagers keine unerwarteten Strukturen gefunden werden. Es ist also schwierig oder sogar unmöglich, zum Standortgebiet Wellenberg genügend genaue Aussagen zur Geometrie der tektonischen Strukturen zu machen.“
„Auch für regionale Störungen (steil stehend mit horizontalem Versatz) gibt es nur spärliche Evidenz, aber ihre Existenz kann nicht ausgeschlossen werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass bei der Berücksichtigung eines beidseitigen Sicherheitsabstandes von 200 m im Bereich von Brüchen kein Raum mehr für ein geeignetes Tiefenlager bleibt.“
„Der Standort Wellenberg liegt im frontalen Bereich der Alpen im helvetischen Deckenstapel. Potenzielle Überschiebungsbahnen, die im Zusammenhang mit der Hebung des Aar-Massivs vielleicht wieder aktiv werden, kann man meines Erachtens nicht ausschliessen. Sowohl zeitliche wie auch genetische Zusammenhänge zwischen Erdbeben (inklusive regen- induzierter oberflächennaher Seismizität), Hebung/Erosion und Bildung offener Klüfte bleiben ungeklärt. Ihr Verständnis erscheint aber wichtig, um die Entwicklung wasserführender Pfade zu verstehen und somit die Sicherheit in einem Tiefenlager zu gewährleisten.“
Mosar schloss daraus:
„Anders als die Nagra schätze ich die Eignung des Standortgebietes Wellenberg nicht als rundum günstig ein. Basierend auf den Studien der Nagra und aufgrund der vorausgehenden kritischen Einschätzung der Ergebnisse sowie den Schlussfolgerungen schätze ich den Standort Wellenberg aus Sicht der Tektonik als einen ungünstigen Standort für die Lagerung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen ein. Dies hat zur Folge, dass bei einer Gesamtbewertung der Standort wahrscheinlich als ungeeignet eingestuft werden müsste.“
Die durch J. Mosar monierte mögliche Verbindung zwischen der aktuellen Erdbebentätigkeit (Abbildungen 2 und 3)[1] und eventuell heute noch aktiven tektonischen Störungen welche auch den Wellenberg queren könnten, stand im Gegensatz zur bisherigen Annahme, dass die Erdbeben die vorgesehene Lagerzone unbehelligt lassen. War diese Möglichkeit der Störung der Lagerzone durch aktive tektonische Bewegungen bei den bisherigen Untersuchungen übersehen worden?
In einer Gegenexpertise nahm das ENSI (2011) zu den Thesen von Mosar Stellung. Dabei wurde es durch den Schweizerischen Erdbebendienst (SED) unterstützt. Interessant ist eine erste wichtige Schlussfolgerung: „Der SED kommt zum Schluss, dass die Aussagen von Prof. Mosar grundsätzlich richtig sind. Eine Zuordnung der seismischen Ereignisse zu einzelnen Strukturelementen, wie sie von Prof. Mosar vorgenommen wurde, ist aufgrund der grossen Unsicherheiten in der Lokalisierung der Hypozentren aber nicht möglich.“ So weit so gut. Nur, der Haken an dieser Aussage liegt darin, dass das Gegenteil ebenfalls zutrifft, dass also die Verbindung dieser Strukturelemente (tektonische Brüche) mit den Erdbebenherden auch nicht ausgeschlossen werden kann, und dass dies die zu wenig genaue Lokalisierungstechnik auch in nächster Zukunft nicht erlauben wird. Eigentlich hätte ein solches Ergebnis dazu führen sollen, dass weitere Untersuchungen und Messkampagnen hätten angeordnet werden müssen, etwa mit Mikro- und Nanoseismischen Methoden.
Wie geht das ENSI nun mit einem derartigen Risiko um, welches man nicht fixieren kann? Die Antwort der Sicherheitsbehörde ist beeindruckend und einmalig in der nuklearen Sicherheitsüberprüfung:
„Der Expertenbericht von Prof. Mosar beschränkt sich auf die Aspekte Tektonik und Seismizität. Bei einer Gesamtbewertung der Eignung des Standortgebietes müssten aber alle im Sachplanverfahren SGT geforderten 13 sicherheitstechnischen Kriterien bewertet werden, was im vorliegenden Expertenbericht nicht erfolgte.“ Oder anders ausgedrückt: Zwar leidet der Patient an einem Herzstillstand, aber die Lungen, die Leber und die Nieren sind noch intakt; kurz, ein gesunder Kerl, auch wenn er bereits tot ist. Dass eine Sicherheitsbewertung nicht so aussehen kann, ist offenbar keinem der zuständigen Geologen des ENSI in den Sinn gekommen.
Auch der Kanton Nidwalden wollte es nochmals genauer wissen. Er legte das Gutachten von J. Mosar einem weiteren Experten vor. Prof. G. Jentzsch von der Universität Bonn gelangte dabei zu folgendem Schluss: „ . . . . Generell bleiben Zweifel an der Eignung des Standortes, vor allem wenn man bedenkt, dass der Standort Wellenberg im frontalen Bereich der Alpen im helvetischen Deckenstapel liegt. Es existieren potenzielle Überschiebungsbahnen, die im Zusammenhang mit der Hebung des Aar-Massivs möglicherweise aktiviert werden können. Aufgrund fehlender Untersuchungen (bzw. Datenerhebungen) bleiben zeitliche wie auch genetische Zusammenhänge zwischen Erdbeben, Hebung/Erosion und Bildung offener Wegsamkeiten ungeklärt. Das Verständnis dieser Vorgänge ist aber ausschlaggebend für die Beurteilung der zukünftigen Entwicklung wasserführender Pfade und damit auch für die Sicherheit in einem Tiefenlager. Aus diesen Gründen möchte ich mich dem Urteil von Mosar (2010) anschließen, der in seinem Fazit auf S. 15 schreibt: ‚Anders als die Nagra schätze ich die Eignung des Standortgebietes Wellenberg nicht als rundum günstig ein. Basierend auf den Studien der Nagra und aufgrund der vorausgehenden kritischen Einschätzung der Ergebnisse sowie den Schlussfolgerungen schätze ich den Standort Wellenberg aus Sicht der Tektonik als einen ungünstigen Standort für die Lagerung von schwach- und mittelradioaktiven Abfällen ein. Dies hat zur Folge, dass bei einer Gesamtbewertung der Standort wahrscheinlich als ungeeignet eingestuft werden müsste.“
„Dem kann der Autor nur seine oben gemachten Einwände gegen diesen Standort hinzufügen. Insbesondere die ungünstigen Explorationsverhältnisse und die Ungewissheiten bezüglich Langzeitsicherheit sind eindeutige Nachteile, die in der qualitativen Bewertung und dem sicherheitstechnischen Vergleich der Standortgebiete dazu führen sollten, dass das Standortgebiet Wellenberg im Rahmen der Etappe 2 des Sachplanes Geologische Tiefenlager zurückgestellt bzw. sogar ganz ausgeschlossen werden muss.“
Endlich sei auch noch das Gutachten der Kommission nukleare Entsorgung (KNE 2010) erwähnt, welche den Standort Wellenberg in der Folge der Etappe 1 des Sachplans neu beurteilte. Dabei betrachtete die Kommission alle wesentlichen Sicherheitskriterien. Die Seismizität (Erdbeben) und ihre eventuellen Beziehungen zu tektonischen Brüchen im Bereich der Lagerzone wird allerdings nur indirekt angesprochen. Hier ein Ausschnitt aus diesem Gutachten:
„Folgerungen SMA: Die Evaluation der potenziellen Bereiche für SMA-Lager im alpinen Raum dagegen ist für die KNE zum Teil diskutabel und bezüglich einiger zentraler Indikatoren nicht in letzter Konsequenz durchgeführt. So schafft die Nagra für die stark tektonisierten Mergel-Akkumulationen des Helvetikums am Alpennordrand Sonderregelungen, insbesondere hinsichtlich der Bewertung der Kriterien „Explorierbarkeit der räumlichen Verhältnisse“ und „räumliche Ausdehnung (Indikatoren Abstand zu regionalen Störungszonen, Diffus gestörte Zonen und Regionales Störungsmuster und Lagerungsverhältnisse). Dabei wird von der Nagra die intensive Tektonisierung der Mergel-Akkumulationen (mit sehr zahlreichen erbohrten, mächtigen kataklastischen Bruchzonen) als primäre, zum Teil positive Gesteinseigenschaft bewertet. Die KNE anerkennt zwar, dass nicht alle Indikatoren direkt von der Nordschweiz auf die Alpen übertragen werden können. Sie legt aber dennoch grossen Wert auf ein für alle Standortgebiete möglichst einheitlich angewendetes Auswahlverfahren. Insbesondere scheint es der KNE in diesem Zusammengang wichtig, dass nur schwach tektonisierte Gebiete mit möglichst unbedeutender neotektonischer Aktivität als potenzielle Standortregionen in Betracht gezogen und weiterverfolgt werden. Dies führt dazu, dass die KNE das Standortgebiet Wellenberg trotz einiger sehr positiver Eigenschaften (grosse Mächtigkeit und gute Barriereneigenschaften in einer Tiefe von > 550 m u.T.) als deutlich weniger geeignet einstuft als die bevorzugten Standortgebiete in der Nordschweiz.“ Selbst diese Einschätzungen ihrer eigenen Expertenkommission übergingen die Geologen des ENSI bei ihrer Beurteilung.
Und trotz dieser kritischen, meist negativen Beurteilung ging der Wellenberg in Etappe 2, um sodann für Etappe 3 aus dem Rennen zu scheiden. Dabei übernahm die Nagra (2014) endlich die v.a. durch die KNE (2010) hervorgehobenen Argumente und Beurteilungen. Der politische Entscheid des Nidwaldner Volkes von 2002 war nun endlich fachlich und sachlich legitimiert.
Spreu vom Weizen trennen
Dass der alpine Standort Wellenberg gegenüber den Standorten im Opalinuston der Nordostschweiz einen schweren Stand haben würde, war allen Geologen seit Jahren klar. Einziger technischer Vorteil des Standortes waren die mächtigen, stark verhärteten Palfriesmergel als Wirtgestein, welche für die monumental anmutenden unterirdischen Anlagen der Nagra (siehe Abbildung 1) zur Manipulation der Abfälle besser geeignet wären, als der Opalinuston der Nordostschweiz. Seismische Aktivität, drohende Gletschererosion, hohe hydraulische Gradienten, eine tiefe Verwitterung (Auflockerung) des Berges u.a.m. plädierten seit langem für eine Aufgabe des Projektes. Dass die Nagra schlussendlich aber noch ein sachlich-fachliches Begräbnis wünschte, versteht sich nach den enormen Ausgaben für die Standortuntersuchung. Aber seien wir klar: Die Nagra und das ENSI wussten in diesem Prozess nicht die Spreu vom Weizen zu trennen. Die KNE blieb auf halber Strecke stehen. Einzig externe, unabhängige Fachleute und Experten zeigten die Grenzen auf. Die Sicherheitsbehörden haben allesamt versagt!
Im Prozess zum Wellenberg hatte die KFW (Kantonale Kommission Wellenberg, 2002a, b) klare Ausschlusskriterien gefordert. Dies betraf vitale Bereiche wie etwa die Distanz von Lagerkavernen zu tektonischen Verwerfungen. Diese Sicherheitskriterien stehen weit über Kriterien zu grüner Wiese und Krötenreservaten. Die HSK (heute ENSI) als Sicherheitsbehörde spielte missmutig mit. Heute krebst das ENSI zurück und vergleicht tektonische Aktivität und Erdbebenherde mit irgendwelchen andern Auswahlkriterien.[2]
Heute geht es in Etappe 3 des Sachplan geologische Tiefenlager um die definitive Standortwahl. Und wiederum statuiert das ENSI als letzte Fachinstanz. Aber ist sie dies – eine Fachinstanz? Vermutlich nicht, bzw. nicht mehr. Denn, wer klare Ausschlusskriterien für die Sicherheit eines Tiefenlagers nicht zu identifizieren vermag, steht wohl am falschen Platz.
Bei der Standortwahl für geologische Tiefenlager für radioaktive Abfälle geht es zuerst darum, generell sichere Standorte zu bezeichnen, welche nach bestem (wissenschaftlichem) Wissen und Gewissen die „dauernde und sichere Entsorgung und Endlagerung“ garantieren. Sind grundlegende Kriterien wie Sicherheit vor Gletschererosion, Sicherheit vor tektonischer Störung (Erdbeben im Lagergebiet) oder Ressourcenkonflikt nicht erfüllt, so fällt der Lagerstandort aus dem Verfahren. Einzig Standorte welche den grundlegenden Sicherheitskriterien genügen können im Vergleichsverfahren weiter gezogen werden
Wo fehlt es? Fehlt es dem Ensi an Fachkompetenz (falsche Personalpolitik)? Oder: fehlt es an Mut zu einer von den AKW-Betreibern abweichenden Meinung zu stehen? Geht es um Karriere-Fragen? Dieser Frage wird sicher weiter nachgegangen, denn sie ist von zentraler Bedeutung für die Sicherheit.
Referenzen
ENSI 2011: Standortgebiet Wellenberg: Stellungnahme des ENSI zum Expertenbericht von Prof. Jon Mosar. ENSI AN-33/128.
Jentzsch, G. 2014: Gutachten bezüglich Seismizität im Standortgebiet Wellenberg Beurteilung der geologischen Profile und der Erdbebengefährdung im Standortgebiet Wellenberg sowie Stellungnahme zum Gutachten von Prof. Jon Mosar. Im Auftrag Baudirektion Kanton Nidwalden.
KFW (Kantonalen Fachgruppe Wellenberg) 2002a: Bericht zur Standortwahl Wellenberg. Kanton Nidwalden.
KFW (Kantonale Fachgruppe Wellenberg) 2002b: Abfallinventar SMA Wellenberg. Kanton Nidwalden, Stans.
KNE 2010: Sachplan Geologische Tiefenlager, Etappe 1 Stellungnahme der KNE zur Sicherheit und bautechnischen Machbarkeit der vorgeschlagenen Standortgebiete. Kommission nukleare Entsorgung, UVEK, Bern.
Mosar J. 2010: Beurteilung der Tektonik im Standortgebiet Wellenberg (Kt. NW/OW) hinsichtlich eines Tiefenlagers für schwach- und mittelradioaktive Abfälle, Expertenbericht, Département de Géosciences, Université de Fribourg, Fribourg.
Nagra 1993: Vergleichende Beurteilung der Standorte Bois de la Glaive, Oberbauenstock, Piz Pian Grand und Wellenberg. Nagra Technischer Bericht 93-02, Wettingen.
Nagra 2014: Sicherheitstechnischer Vergleich und Vorschlag der in Etappe 3 weiter zu untersuchenden geologischen Standortgebiete. Nagra Technischer Bericht 14-01, Wettingen.
[1] Das letzte durch den Schweizerischen Erdbebendienst publizierte Beben in der Region lag am 1. März 2015 in der Region Engelberg ; Magnitude : 1.7.
[2] Zur Erinnerung: die heutige Präsidentin des ENSI-Rates war damals ebenfalls Mitglied der KFW, die durch einen der Blog-Schreiber präsidiert wurde.
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