Der „Fall Wellenberg“ (oder „Fall des Wellenberg“) stellte den letzten Akt des Entsorgungsverfahrens unter dem Regime des Atomgesetzes von 1959 und dem Bundesbeschluss von 1978/79 dar. Das Verfahren für die Standortwahl für ein Endlager für schwach und mittel radioaktive Abfälle das zur Wahl des Standorts Wellenberg führte, wurde in den späten siebziger Jahren im Rahmen von „Projekt Gewähr“ initiiert. Der Fall des Projektes wurde am 22. September 2002 besiegelt, als das Nidwaldner Volk die vom Regierungsrat erteilte Konzession für einen Sondierstollen am Wellenberg in einer Abstimmung ablehnte.
Eine kurze Analyse der Geschichte zeigt, was man in einem Entsorgungsprojekt so alles verpatzen kann.
Am Anfang des Verfahrens schlug die Nagra in einer Papierstudie 100 Standortregionen für ein Lager für schwach und mittel radioaktive Abfälle mit unterschiedlichen Wirtsgesteinen für den Bau des Lagers vor:
- 23 Regionen mit Anhydrit
- 15 Regionen mit alpinen Tonschiefern und Mergeln
- 25 Regionen mit Opalinuston
- 23 Regionen mit abgeschirmten Formationen
- 14 Regionen mit kristallinem Gestein
Unter diesen Gebieten befand sich auch der Wellenberg, damals noch unter der Bezeichnung „Altzellen“. Die beste Bewertung im Auswahlverfahren erhielt der Standort Oberbauenstock mit „gut“, während acht weitere Standorte, darunter auch der Standort Altzellen mit der Bewertung „mittel“ rangierten. Zwischen 1979 und 1985 wurde der Kreis möglicher Standorte auf zuletzt drei Alternativen eingeschränkt: Bois de la Glaive, Piz Pian Grand und Oberbauenstock.
Auf Grund der Untersuchungsergebnisse und der im Autobahntunnel durch den Seelisberg gewonnenen Erkenntnisse diente der Oberbauenstock mit seinen mergelig-tonigen Wirtsgesteinen (sogenannte Palfris Schichten) als Modell für den Entsorgungsnachweis, d.h. für die Machbarkeitsstudie für die nukleare Entsorgung für schwach und mittel radioaktive Abfälle.
Nach 1985 wurde der Standort Wellenberg zusätzlich zu den bereits gewählten drei Standorten in das Verfahren aufgenommen, so dass nunmehr vier Standorte zum Vergleich standen. Und dies geschah wie folgt (KFW 2002a):
Im Dezember 1985 wandte sich die Nagra an den Landammann und den Regierungsrat des Kantons Nidwalden mit der Frage, inwieweit der Kanton mit Untersuchungen der Kantonsgeologie im Hinblick auf die Bestimmung eines Endlagerstandorts einverstanden sei. Als mögliche Gründe für solche Untersuchungen wurden ungünstige Erkundungsergebnisse an einem der drei bereits benannten Standorte (inklusive dem Standort Oberbauenstock an welchem der Entsorgungsnachweis erbracht worden war) oder die Verbesserung der Evaluationschancen durch einen zusätzlichen neuen Standort aufgeführt. Ausdrücklich erwähnt wurde in diesem Zusammenhang der Standort Niderbauen.
Im Januar 1986 teilte der Regierungsrat der Nagra mit, dass er Vorabklärungen und Sondierungen im Bereich Niderbauen oder in anderen geologischen Formationen grundsätzlich billige. Dies gelte explizit für den Fall, dass Ersatz für einen der drei bisher im Vordergrund stehenden Standorte gefunden werden müsse, oder dass ein Zusatzstandort im Sinne der Bundesratsauflage untersucht werden solle. Der Regierungsrat begründete seine Entscheidung mit dem Bestreben, zur Lösung einer Aufgabe des Umweltschutzes von nationaler Bedeutung beizutragen. Zudem wurde die nicht unwesentliche volkswirtschaftliche Bedeutung einer Realisierung des Endlagers im Kanton Nidwalden angesprochen.
Aufgrund ihrer Vorabklärungen stellte die Nagra Niderbauen zugunsten von Altzellen oder neu „Wellenberg“ zurück. 1987 beantragte sie dort weitergehende Untersuchungen, die das Auffahren eines Stollens und die Exploration eines vertikal zu erschliessenden tiefen Lagerbereichs beinhalteten (Abbildung oben). Dieser Lagerbereich war für die heute als „alphatoxische Abfälle“ bezeichneten, langlebigen Abfälle bestimmt; man befand sich somit auf dem Pfad zu einem Lager für eine gefährlichere Abfallkategorie als die ursprünglich geplanten schwach und mittel radioaktiven Abfälle (KFW 2002b).
Der Einbezug des Standorts Wellenberg stellte eine eindeutige Abweichung vom ursprünglichen Vorgehenskonzept dar und ist nur aufgrund der veränderten politisch-behördlichen Rahmenbedingungen für das Verfahren nachvollziehbar.
Aufgrund des Vergleiches mit den drei anderen Standorten, Bois de la Glaive (Kanton Waadt), Oberbauenstock (Kanton Nidwalden) und Piz Pian Grand (Kanton Graubünden) erfolgte im Jahr 1993, nach der Durchführung mehrerer Sondierbohrungen, die Auswahl des Wellenbergs als möglicher Lagerstandort. Mit dem Wellenberg wurde ein nach damaligen Kenntnissen eventuell geeigneter Standort gefunden, dessen weitere Untersuchung angezeigt war.
Im Jahr 1994 erfolgte die Gründung einer Zweiggesellschaft der Nagra, der Genossenschaft für nukleare Entsorgung Wellenberg (GNW) und die Einreichung des Rahmenbewilligungsgesuchs für ein Endlager für schwach und mittel radioaktive Abfälle. Im Jahr 1995 lehnten die Stimmbürger von Nidwalden mit 52 % Nein ein Konzessionsgesuch ab.
Damit war das Vorhaben aber noch nicht begraben. Nach der Ausarbeitung eines neuen Lagerkonzepts durch die Expertengruppe „Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle“ (EKRA 2000), setzten das zuständige Departement UVEK unter Bundesrat M. Leuenberger und die Regierung des Kantons Nidwalden die Kantonale „Fachgruppe Wellenberg“ (KFW) ein. Diese expertisierte nochmals das Auswahlverfahren welches zum Standort Wellenberg geführt hatte und versuchte die durch die Projektanden und die Sicherheitsbehörden offen gelassenen Punkte zu schliessen:
- Festlegung des in einem geologischen Tiefenlager am Wellenberg zugelassenen Abfallinventars, v.a. Ausschluss der langlebigen alphatoxischen Abfälle (KFW 2002b).
- Festlegung von Kriterien, nach welchen ein Sondierstollen bezüglich der Eignung des Wirtsgesteins und des Standortes für ein Lager beurteilt werden sollte.
Trotz aller Bemühungen durch Bund und Kantonsregierung zur Verbesserung der Akzeptanz, lehnte die Nidwaldner Stimmbürger am 22. September 2002 das auf dem kantonalen Bergrecht beruhende Gesuch für den Bau eines Sondierstollens mit 57 % Nein ab. Dabei war das Schicksal des Projektes Wellenberg vorerst besiegelt. Im darauffolgenden Jahr 2003 wurde die lokale Genossenschaft GNW liquidiert.
Fazit
Die Frage, weshalb das Projek Wellenberg im Jahr 2002 fiel wurde nie richtig aufgearbeitet, obwohl durch diesen Fall 30 Jahre Anstrengungen und viel Schweiss und Geld im Vierwaldstätter See versanken. War es der alpine Standort in der Nähe der Erdbebenzone von Sarnen der die Stimmbürger skeptisch stimmte? Waren es die wenig transparenten Absichten der Nagra, oder die fehlenden durchsichtigen Beurteilungskriterien? Oder vielleicht einfach der Egoismus der Bevölkerung, welche die „nationale Last“ nicht auf sich nehmen wollte? Oder noch einfacher: Hat die opponierende Bürgerbewegung MNA (Komitee für die Mitsprache des Nidwaldner Volkes bei Atomanlagen) einfach eine Schlacht gegen die Entsorgerorganisation GNW gewonnen?
Wir wollen und können auf diese Fragen nicht antworten, aber versuchen einige Böcke am Projekt Wellenberg in Erinnerung zu rufen:
- Ausreisser aus dem offiziell festgelegten Auswahlverfahren: Der Standort Wellenberg wurde ausserhalb des ordentlichen Verfahrens als Folge einer „Mischelei“ zwischen den Entsorgern und der Nidwaldner Regierung ausgewählt. Sicher nicht sehr fördernd für das Volksvertrauen. Der Ausreisser erinnert uns an die kürzlich festgestellten Präferenzen im Sachplan Verfahren.
- Fehlende Transparenz: Auch wenn im letzten Moment noch eine informelle Klärung zur Frage der Natur der im Wellenberg einzulagernden Abfälle zustande kam, so blieb doch ein tiefes Misstrauen der Bevölkerung, wissend, dass das angesagte Abfallinventar durch niemanden garantiert war.
- Falscher Standort: Die Sicherheitsbehörden, aber auch viele Fachleute ausserhalb der offiziellen Strukturen (und bis in die KFW hinein!) waren ehrlich überzeugt von der wahrscheinlichen Eignung des Standorts Wellenberg. Andere Stimmen machten aber auf die Problematik der langlebigen Abfälle an einem alpinen Standort aufmerksam, an welchem bei einer kommenden Vereisung mit einer Vertiefung der Talerosion zu rechnen war, und damit mit einer Gefährdung des Lagers.
Das Problem der Erdbebengefährdung wurde erst im Jahr 2010 durch einen neuen Expertenbericht aufgeworfen. Und auch wenn dieser Bericht nicht auf viel Gegenliebe stiess, so bleiben bis heute Unsicherheiten in der Luft hängen.
- Zuverlässigkeit des Verfahrens: Endlich muss darauf hingewiesen werden, dass keiner der im Rahmen des Projektes „Gewähr“ ausgewählten Standorte, Bois de la Glaive, Piz Pian Grand und Oberbauenstock, aus heutiger Sicht für ein Lager in Frage käme. Der Oberbauenstock, an dem das Projekt „Gewähr“ nachgewiesen wurde, schied im Sachplanverfahren aus, sodass man sich sogar fragen muss, ob denn der Nachweis der „Gewähr“ nach Kernenergiegesetz noch gültig ist.
Der Frage, wie und weshalb der Standort im Rahmen des Sachplan Verfahrens wieder ins Rennen kam, werden wir später nachgehen.
Referenzen:
EKRA (Expertengruppe Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle) 2000: Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle: Schlussbericht. Bern: Bundesamt für Energie.
KFW (Kantonalen Fachgruppe Wellenberg) 2002a: Bericht zur Standortwahl Wellenberg. Kanton Nidwalden.
KFW (Kantonale Fachgruppe Wellenberg) 2002b: Abfallinventar SMA Wellenberg. Kanton Nidwalden, Stans.
Mosar J. 2010: Beurteilung der Tektonik im Standortgebiet Wellenberg (Kt. NW/OW) hinsichtlich eines Tiefenlagers für schwach- und mittelradioaktive Abfälle, Expertenbencht Departemente de Géosciences, Université de Fribourg, Fribourg.
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