Aus den Jahresabschlüssen 2015 der Kernkraftwerke betreibenden Elektrizitätskonzerne der Schweiz, ALPIQ, AXPO und BKW, kann man ableiten, dass einzig BKW mit ihrem auf 2019 auslaufenden Kernkraftwerk Mühleberg eine reelle Chance hat, die kommenden Jahre in der heutigen Form zu überleben, und sich um die Stilllegung seines Werkes und um die Entsorgung der radioaktiven Abfälle kümmern zu können. Der Besitzerstatus der Kernkraftwerke Beznau 1 und 2, Gösgen und Leibstadt wird voraussichtlich ändern, und damit die Organisation des Endbetriebs, der Stilllegung und der Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Versuchen wir doch, uns einige Szenarien vor Augen zu führen.
Besitzerstatus
Die Kernkraftwerke gehören heute über die Elektrizitätskonzerne ALPIQ, AXPO und BKW weitgehend den Kantonen und den grossen Schweizer Städten. EDF, die zu 85% nationale französische Gesellschaft, besitzt 25% der Aktien von ALPIQ. Im Detail präsentieren sich die Beteiligungen wie folgt:
- Beznau 1 und 2 sind zu 100% in Händen der AXPO.
- Mühleberg gehört zu 100% der BKW.
- Das Kernkraftwerk Gösgen gehört Alpiq AG (40%), Axpo AG (25%), CKW (12,5%), Energie Wasser Bern (ewb) (7,5%), Stadt Zürich (15%). Es wird durch Alpiq betrieben.
- Das Kernkraftwerk Leibstadt gehört AEW Energie AG (5,4 %), Alpiq AG (27,4 %), Alpiq Suisse SA (5 %), Axpo Power AG (22,8 %), Axpo Trading AG (16,3 %), BKW Energie AG (9,5 %), Centralschweizerische Kraftwerke AG (13,6 %) Das Kraftwerk wird durch AXPO betrieben.
Bei den schweizerischen Kernkraftwerken handelt es sich also um Produktionsanlagen in breit gestreutem öffentlichem Besitz. Dies dürfte auch künftig so bleiben, denn weder eine Privatisierung, noch eine Übernahme der Kernkraftwerke durch den Staat Schweiz (den Bund) würde Sinn machen.
Abgesehen vom 100%-gen Besitz von Beznau durch AXPO, besitzen ALPIQ und die AXPO-Gruppe zusammen um 80% des Aktienkapitals der Kernkraftwerke Leibstadt und Gösgen. Wie ein Szenario bei einem Konkurs von ALPIQ und/oder AXPO bezüglich deren Beteiligung und Verantwortung beim Betrieb dieser Kernkraftwerke genau aussehen würde, ist in die Sterne geschrieben. Die in letzter Zeit in der Politik und Presse vorgebrachte Übernahme der Kernkraftwerke durch eine Auffanggesellschaft ist allerdings denkbar, sogar wahrscheinlich, wobei wiederum Kantone und Städte zu Trägern würden, eventuell mit einer Beteiligung des Bundes. Mit einer derartigen Lösung blieben die Kernkraftwerke unter privatrechtlichem Status in öffentlicher Hand, wenngleich vermutlich unter stärkerer politischer Kontrolle, als heute. Die Auffanggesellschaft würde die Anlagen bis zu ihrer baldigen Stilllegung betreiben und sodann weitgehend zu Lasten der beteiligten Kantone, Städte und allenfalls einem Bundesbeitrag stilllegen.
Gibt es Alternativen zu diesem „Modell“? Wohl kaum! Aber gerne lassen wir uns eines Besseren belehren!
Wechsel in der Verantwortung zur Entsorgung der radioaktiven Abfälle?
Gemäss Kernenergiegesetz (KEG 2003, Art. 31) sind die Eigentümer der Kernkraftwerke für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle aus den Werken verantwortlich, auch für die Finanzierung. Bei Ausfall eines Werkes (z.B. bei einer Liquidierung) wird das Solidaritätsprinzip angewendet, d.h. die andern Kernkraftwerke übernehmen die finanzielle Last des liquidierten Werkes. Bewilligungen (incl. Rahmenbewilligung) können an einen neuen Inhaber übertragen werden (KEG, Art. 66). Bei der Übernahme aus einer Konkursmasse übernimmt der neue Eigentümer auch die Verpflichtungen gegenüber dem Stilllegungs- und Entsorgungsfond (KEG, Art. 78). Dabei kann der Bund bei Bedarf auf Beschluss der Bundesversammlung einen Beitrag leisten (KEG, Art. 80).
Sollte ALPIQ und/oder AXPO aus dem Atommarkt ausscheiden, wäre der Besitzerstatus der Kernkraftwerke betroffen. Es stellt sich damit die Frage, wer denn nun die radioaktiven Abfälle entsorgen muss. Sind es gemäss KEG (2003) die Abfallproduzenten, so existieren diese nun nicht mehr, oder nicht mehr alle. Damit wären wohl zwei Optionen offen:
- Entweder werden die radioaktiven Abfälle durch die Auffanggesellschaft im Besitz der Kantone und Städte entsorgt (KEG 2003, Art. 31), oder
- Die Entsorgung geschieht durch den Bund (Art. 33).
Bei der ersten Lösung wäre die Verbindung mit den ehemaligen Abfallproduzenten noch immer gewahrt. Würde der Bund die Aufgabe wahrnehmen, so müsste er eine kompetente Organisation damit betrauen, sei es eine existierende Anstalt (zum Beispiel das Paul-Scherrer Institut), oder eine neu zu schaffende Institution. Vor- und Nachteile solcher Szenarien müssten untersucht werden.
Systemische Unbekannte
Das System der Energieerzeugung und –verteilung ist in Bewegung geraten. Nicht nur in der Schweiz, auch in Europa und sogar weltweit. Davon betroffen sind vor allem fossile Brennstoffe (Erdöl, Kohle) und die Atomenergie mit ihren grossen und zentralen Produktion- und Verteilungsanlagen. Die erfolgreichsten Energieträger industrieller Prozesse des vergangenen Jahrhunderts werden heute zunehmend in Frage gestellt. Zum einen wegen der Wirtschaftlichkeit (Atomenergie), vor allem aber wegen den Auswirkungen auf die Umwelt (Klimawandel) und den Fragen der gesellschaftlichen Akzeptanz (Risiken, Endlager). Im weltweiten Energiesystem sind grundlegende Transformationen angesagt und teilweise bereits voll im Gang.
Auch in der Schweiz haben die Verantwortlichen die Zeichen dieser Transformation viele lange Jahre nicht erkennen wollen. Nun, da sich über den liberalisierten Strommarkt kein Geld mehr machen lässt, steht der Zwang zur Korrektur vor der Türe. Weitsichtiges Handeln ist in dieser Situation gefordert. Wie schon bei der Finanz- und Bankenkrise fällt dies den Schweizern aber schwer. Statt die Übel an der Wurzel zu packen, warten die Verantwortlichen zu und reagieren zögerlich. Aber die Schweiz hat keine andere Wahl. Die Transformation ist zwingend erforderlich, weil schon in vollem Gang. Die Frage ist also eigentlich nur noch, ob eine sanfte Landung noch möglich ist oder sich ein Crash-Szenario wie bei der Swissair oder UBS anbahnt. Eine Garantie dafür gibt es zudem nicht, dass die jetzt unter Hochdruck einzuleitenden Massnahmen und Reorganisationen auch tatsächlich funktionieren werden. Denn das System ist äusserst komplex und vielfältig ineinander verwoben. Elemente die bei einer Neuordnung berücksichtigt werden müssen sind insbesondere:
- die Verschuldung der Konzerne, welche die Aktionäre zu konkreten Aktionen zwingen müsste, sei es im Sinne von Konkurs- oder von Auffangsszenarien. Laut dem Zürcher Regierungsrat Markus Kägi wird bei Axpo die Eigentümerstrategie noch 2016 überarbeitet[1]. Alpiq und BKW haben entsprechende Schritte bereits angekündigt oder eingeleitet;
- die längerfristig prognostizierte Preis-Baisse auf dem liberalisierten Elektrizitätsmarkt, welche den Stromkonzernen längerfristig Bauchschmerzen bereiten dürfte. Ganz anders als den Kantonswerken, die dank dem – immer noch nicht freigegebenen Markt – von den Preisbindungen der Kleinkunden an feste Tarife profitieren können;
- die Abhängigkeit der Schweiz vom Auslandmarkt und seinen tiefen Strompreisen auf dem Spotmarkt, die über Jahre hinweg bestehen bleiben dürften. Ein Aussitzen der Krise durch eine Abschottung gegenüber den ausländischen Märkten dürfte deswegen kaum mehr möglich sein;
- die schwindende Akzeptanz und Risikobereitschaft der Bevölkerung in Sachen Atomtechnologie. Die Situation in Japan spricht in dieser Hinsicht Bände. In der Schweiz steht die Initiative der Grünen Partei zu einer Laufzeitbegrenzung der Werke auf 45 Betriebsjahre an;
- und last but not least auch die politische Situation mit der Diskussion um Terrorismus, und unserer Fähigkeit zum Schutz der Atomanlagen.
Etwas Linderung könnte seitens der internationalen Vereinbarungen zum Schutz gegen die Klimaerwärmung kommen, insbesondere im Kampf gegen die Verstromung von Kohle. Iberdrola, der spanische Energiekonzern z.B. hat am 24. März 2016 seine grösste Kohlen betriebene Produktionsanlage im schottischen Longannet vom Netz genommen. Doch können solche durchaus wünschbaren Massnahmen den Preiszerfall im europäischen Strommarkt wettmachen?
Kommt hinzu, dass die Stilllegungs- und Entsorgungskosten europaweit steigen. In der Phase der konkreten Planung und Umsetzung von Stilllegung und Entsorgung lässt sich mit den Kosten nicht mehr so einfach tiefstapeln. Die Kosten explodieren bereits und dürften sich in der Zukunft nochmals vervielfachen. In der Gesamtbilanz dürfte sich auch für den eingefleischten Befürworter der Atomenergie zeigen, dass die Kosten dieser Energieform einfach und bei weitem zu hoch sind.
Gefahr droht deshalb, dass in den nächsten Jahren das atomare System zu Lasten der Sicherheit verschlankt wird – also alte Anlagen betrieben, Nachrüstungen unterbunden und Sparübungen auf Kosten der Sicherheit erfolgen, mit dem Risiko eines weiteren atomaren Kernschmelzunfalls in einem der über 400 in Betrieb stehenden Reaktoren weltweit. Dieses Risiko nimmt auch deshalb zu, weil die zuständigen Administration bei der Ausübung ihrer Funktionen noch zusätzlich behindert werden.
Alles in allem ist die Situation ungemütlich was die Kosten und beängstigend was die möglichen Sicherheitsfolgen angeht. Hinzu kommt, dass das Ende der nuklearen Technologie und darin verborgene mögliche Überraschungen von den zuständigen Behörden kaum ausgeleuchtet wurden.
Und was heisst das für das Entsorgungssystem Schweiz?
Dabei lässt sich nach der Stagnation beim Reaktorausbau ab den 1990er Jahren kaum mehr übersehen, dass die goldenen Zeiten dieser Technologie längst vorbei sind. Die berüchtigte Glockenkurve des Auf- und Abstiegs, welche amerikanische Wissenschaftler vor rund 40 Jahren veröffentlicht hatten[2], zeichnet sich immer klarer ab (Abbildung 2). Wie der Status-Bericht der weltweiten industriellen atomaren Anlagen zeigt, hat der Reaktorbau de facto eine Plafonierung erreicht, die auch durch die gegenwärtigen Zuwächse an Reaktoren in Asien nicht in Frage gestellt wird[3] (Abbildung 3). Der Abwärtstrend in der Entwicklung, die bereits in den 1970er Jahren erkannt worden war, dürfte in den beiden nun kommenden Jahrzehnten voll durchschlagen. Damit stellen sich nicht nur Fragen, was die Sicherheit in dieser Phase des Herunterfahrens des atomaren Programms anbelangt, sondern auch Fragen zum langfristigen Managment der nuklearen Entsorgung. Wir werden diesen Fragen im Beitrag der nächsten Woche ausleuchten.
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