Titelbild zu MIF: Leuchtziffern und Zeiger mit Radonfarbe
MIF-Abfälle
Leicht geht in der öffentlichen Diskussion um die nukleare Entsorgung vergessen, dass das Problem des Umgangs mit radioaktiven Substanzen und Abfällen in der Schweiz mit dem Ausstieg aus der Kernenergie und der Lagerung der Abfälle in geologischen Tiefenlagern nicht abschliessend vom Tisch ist. Offensichtlich ist dies für die Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung (MIF-Abfälle) und deren langfristigem Schicksal.
MIF-Abfälle sind also radioaktive Abfälle welche ausserhalb der Produktion von Kernenergie (also nicht aus Kernkraftwerken) anfallen. Dabei handelt es sich um Abfälle aus allen möglichen privaten und öffentlichen Betrieben, von Industriebetrieben und Spitälern zu kantonalen Universitäten, dem bundeseigenen Paul-Scherrer-Institut (PSI) und der europäischen Forschungsanstalt CERN in Genf. MIF-Abfälle sind also durch ihre Herkunft und ihre Radioaktivität definiert (allerdings kennt das Strahlenschutzgesetz den Ausdruck «MIF» nicht).
Bis zum Jahr 1982 versenkte die Schweiz 5321 Tonnen radioaktive Abfälle im Nordatlantik. Das “modellhafte Inventar für radioaktive Abfälle MIRAM 14” der Nagra gibt einen Überblick über die seit dem Jahr 1984 bis heute angefallenen MIF-Abfälle (Nagra NTB 14-04). MIRAM unterscheidet zwischen Betriebsabfällen, welche laufend produziert werden und den einmalig anfallenden Stilllegungsabfällen aus verschiedenen Forschungs- und Abfallbehandlungsanlagen:
«Betriebsabfälle:
- im Auftrag des BAG gesammelte Abfälle
- Abfälle des PSI (PSI-Ost inkl. aus der Brennstoffforschung [Hotlabor])
- Abfälle aus dem Betrieb der Beschleunigeranlagen des PSI-West
- Abfälle aus den Beschleunigeranlagen des CERN»
Die Abfälle aus Medizin Industrie und der Forschung werden im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit durch das Paul-Scherrer-Institut (PSI) in Sammelaktionen eingesammelt, im PSI in Würenlingen behandelt (teilweise verbrannt) und in festem Zustand konditioniert, d.h. in Metallbehälter eingegossen. Sodann gelangen sie ins Bundeszwischenlager, wo sie auf die Einlagerung in ein geologisches Tiefenlager warten.
Die Zusammensetzung und Menge der MIF-Abfälle haben sich im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte in Funktion der Verwendung radioaktiver Substanzen laufend verändert. Aus der Medizin und Forschung (ausserhalb PSI und CERN) fallen heute nur noch geringe Mengen an. Hauptlieferant sind zurzeit noch die Industrie, sowie das PSI und das CERN.
«Stilllegungsabfälle:
- Abfall-Behandlungsanlagen (z. B. Pilot-Verbrennungsanlage [PV]) des PSI-Ost)
- Forschungsreaktoren DIORIT, SAPHIR, PROTEUS (PSI-Ost)
- Beschleunigeranlagen aus der Teilchenforschung (PSI-West und CERN)»
Hierzu kommen in einer fernen Zukunft Stilllegungsabfälle aus dem eventuellen Abbau der Abfallbehandlungsanlagen des ZWILAG in Würenlingen sowie die Abfälle aus den «heissen Zellen» der geplanten Verpackungsanlagen an den (oder dem) Standort(en).
Die schwach- und mittelaktiven MIF-Abfälle machen mit einem Volumen von 19’000 m3 (einschliesslich rund 11’000 m3 schwachaktive Stilllegungsabfälle der Forschungsanlagen) einen untergeordneten Anteil des Gesamtabfalls aus. Das Inventar geht von 400 m3 langlebigen mittelaktiven und 1 m3 hochaktiven MIF-Abfällen aus. Diese Abfälle sollen dereinst in den entsprechenden Tiefenlagern eingelagert werden. Der Volumenanteil an MIF-Abfällen beträgt somit rund 25 % der schwach- und mittelaktiven, rund 7 % der langlebigen mittelaktiven und weniger als 0.02 % der hochaktiven Abfälle. Der Anteil der aus der Energieproduktion in Kernkraftwerken stammenden Abfälle beträgt rund 75 % der schwachaktiven, rund 93 % der langlebigen mittelaktiven und praktisch 100% der hochaktiven Abfälle (ENSI 2005). Diese Zahlen sind allerdings erfahrungsgemäss provisorisch und könnten je nach der gewählten Methode und der Effizienz der Abfallseparierung beim Rückbau der Anlagen dereinst noch stark variieren.
Wohin mit MIF-Abfällen welche nach der Schliessung der geologischen Tiefenlager anfallen?
Im November 2019 veröffentlichte eine Untergruppe der AGNEB (Arbeitsgruppe des Bundes für die nukleare Entsorgung) zur Frage der Entsorgung der MIF-Abfälle nach dem Ende des Einlagerungsbetriebs, bzw. nach dem Verschluss der derzeit geplanten geologischen Tiefenlager. Für das Ende des Betriebs nimmt die Arbeitsgruppe ein Datum um 2065, für einen endgültigen Verschluss ein solches um 2115 an. Für MIF-Abfälle welche nach diesem letzten Datum Anfallen besteht heute kein Entsorgungskonzept.
Der Bericht der AGNEB arbeitet mit jeweils drei Hypothesen für die nach 2065 zu entsorgenden Abfallmengen, einer Hypothese «Tief», einer «Referenz»-Hypothese und einer Hypothese «Hoch». Drei Zeitabschnitte werden evaluiert: 2065-2095, 2095 – 2125 und 2125 – 2155. Für diese Zeitabschnitte ist je nach Szenario mit erwähnenswerten Abfallvolumen zu rechnen, wobei allerdings die Unterschiede zwischen den Szenarien derart auseinanderklaffen (Faktoren von bis zu 50 zwischen den Szenarien «Tief» und «Hoch»), dass die Studie kaum eine seriöse Planung zulässt. Dies erklärt sich dadurch, dass die heutigen und voraussichtlichen künftigen Abfallproduzenten sich offensichtlich nicht im Klaren darüber sind, welche radioaktiven Substanzen in dieser fernen Zukunft produziert und/oder in Industrie, Medizin und Forschung voraussichtlich verwendet werden.
Aus der AGNEB-Studie geht aber doch hervor, dass auch nach dem einstigen Verschluss der Tiefenlager noch radioaktive Abfälle anfallen werden (der langfristige Verzicht auf die Verwendung radioaktiver Substanzen wird im vorliegenden Bericht allerdings nicht erwogen).
Der Bericht der AGNEB diskutiert auch kurz die Inventare der radioaktiven Substanzen, welche dereinst zu erwarten sind. Der Bericht schliesst aus, dass hoch radioaktive Abfälle anfallen werden. Sodann: «Die Kategorie ATA (alphatoxische Abfälle mit mehr als 20 000 Bq Alpha-Nukliden/g konditionierter Abfall) dürfte ebenfalls weitgehend wegfallen. In den Abfällen aus der Sammelaktion dominiert H-3. Davon abgesehen werden in Industrie und Medizin in Zukunft nicht-alpha-haltige Abfälle produziert bzw. generell überwiegend kurzlebige Nuklide eingesetzt. Die Abfälle aus der (Gross-)Forschung bestehen primär aus Metallen und Beton. Hier sind Co-60, Na-22, Ni-63 und Eu-152/154 die «dominierenden Nuklide». Diese sind alle verhältnismässig kurzlebig (Halbwertszeiten von ein paar bis zu hundert Jahren), in keinem Fall aber alphatoxisch. Allenfalls möglich, wenn auch unwahrscheinlich, ist das Auftreten noch nicht entdeckter hochkonzentrierter Altlasten nach 2065, durch die alphatoxischen Abfälle entstehen würden.»
Entsorgungsoptionen
Aufgrund der Annahme, dass nach 2065 weder hoch radioaktive noch langlebige alphatoxische, sog. ATA-Abfälle anfallen sollten, geht die AGNEB davon aus, dass sich für die Entsorgung nicht nur die heute gesetzlich festgelegte geologische Tiefenlagerung anbietet. Die folgenden Optionen werden im Bericht (S. 16) erwähnt:
• «Offenhaltung eines kleinen Teils des geologischen Tiefenlagers (gTL) SMA (unter Berücksichtigung der rechtlichen Abgrenzung zum gTL)
• Oberflächennahes Lager
• Oberflächenlager (ähnlich Frankreich oder Spanien)»
Die erste dieser Optionen ist gemäss AGNEB dadurch beschränkt, dass ein Tiefenlager, falls dessen Infrastrukturen noch funktionieren, nur bis zu einer definitiven Verschliessung (gem. AGNEB um 2115) allenfalls zur Verfügung stehen würde. Die zweite und dritte Option entsprechen nicht der heutigen Gesetzgebung und sind damit zurzeit auszuschliessen.
Schlussendlich erwähnt der Bericht der AGNEB die Möglichkeit einer internationalen Lösung. Dabei nennt er drei zu evaluierende Varianten:
- «Anteilige Beteiligung an den gesamten Vorbereitungsarbeiten (Standortsuche, Bewilligungsverfahren, Bau und Betrieb) (Option INT-VA).
- Vertragliche Regelungen mit einem anderen Staat mit einer langfristigen Betriebsperspektive für ein geeignetes Endlager hinsichtlich der Übernahme der CH-MIF-Abfälle zum Zweck der dortigen Entsorgung. (Option INT-EXP).
- Austausch auf konzeptionellem/planerischem Niveau und allfällige Zusammenarbeit mit anderen Ländern, die grundsätzlich vor demselben Problem stehen. (Option INT-ZUS).»
Für die zweite dieser Lösungen besteht mit dem Artikel 34 des Kernenergiegesetzes eine legale Basis, wobei allerdings die Frage der eventuellen Rückholung der Abfälle zu regeln wäre.
Endlich möchten wir die Diskussion der Optionen durch die AGNEB zitieren (Fettdruck durch die Blogautoren):
«Nach Verschluss der jetzt geplanten Tiefenlager sind voraussichtlich keine hochaktiven Abfälle HAA mehr zu erwarten. Damit ändert sich die Entsorgungsproblematik drastisch. Auf fast 100 Jahre rechnet man mit einer Menge radioaktiver Abfälle in der Grösse einer Turnhalle. Da, auch mit hoher Wahrscheinlichkeit, nur minim alphatoxische (ATA) Abfälle zu erwarten sind, ist der Zeithorizont für ein Lager wesentlich kürzer (einige hundert Jahre gegenüber 200 000 Jahren für ein HAA-Lager).
In allen im Kapitel 5 vorgestellten Optionen ist das oberste Ziel der Sicherheit für Mensch und Umwelt erfüllt. Wie heute wird dies aber zu gegebener Zeit nachzuweisen sein. Rechtlich sind die Optionen mit Ausnahme der Option 5.2.1 mit dem heutigen rechtlichen Rahmen nicht direkt vereinbar. Wie die rechtliche Situation nach dem Verschluss der geplanten Entsorgungsanlagen, also nach 2100, aussehen wird, ist allerdings heute nicht vorherzusagen. Vorausgesetzt, dass die heutigen Grundprinzipien jedoch beibehalten werden, lassen sich gewisse Annahmen treffen. Selbstverständlich ist bei der zukünftigen Bewertung der Optionen gemäss internationaler Praxis und geltenden Vorschriften in der Schweiz vorzugehen. Die Sicherheitsanforderungen an ein zukünftiges Lager sind aus dem konkreten Inventar abzuleiten.
Bei der Suche nach Optionen stellt sich zurecht die Frage der Nutzung der bestehenden Infrastruktur. Wieso sollte man eine neue Anlage bauen, wenn bereits eine solche zur Verfügung steht? Wieso sollte man diese geplante Anlage überhaupt schliessen? Diese Vision ist zwar attraktiv, bringt aber auch Nachteile mit sich.
Gemäss dem EKRA Bericht aus dem Jahr 2000 sieht das Konzept der geologischen Tiefenlagerung oder des kontrollierten geologischen Langzeitlagers (KGL) einen relativ raschen Verschluss der Anlage vor. Dies aus vielen überzeugenden Gründen, wie der Beeinträchtigung des Wirtgesteins oder der Möglichkeit einer raschen Isolierung der Abfälle in einer Krise. Da das Konzept eine Offenhaltung der Zugangsbauwerke während der Beobachtungsphase bestimmt, wäre diese Zeit evtl. für die Einlagerung weiterer Abfälle in einem separat eingerichteten Lagerbereich nutzbar. Bei der Wahl der Optionen «Offenhaltung eines kleinen Teils des gTL SMA» müssten diese Punkte abgeklärt werden. Sie müssten evtl. schon beim Rahmenbewilligungsgesuch für die heute geplanten geologischen Tiefenlager mitbeantragt werden, was Auswirkungen auf das gegenwärtige Projekt haben könnte. Diese Option würde aber in allen Fällen nur für eine begrenzte Zeit zur Verfügung stehen, wohingegen radioaktive Abfälle voraussichtlich auch danach anfallen werden.
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Fazit: Alle betrachteten Optionen weisen Vor- und Nachteile auf. Eine umfassende Beurteilung der Optionen sprengt den Rahmen dieser UG (= Untergruppe der AGNEB).
Die Sicherheit muss in jedem Fall oberste Priorität haben, was für alle Optionen möglich ist. Bei einer Beurteilung sind folgende Parameter zusätzlich in Erwägung zu ziehen:
– Risiko (technisch, politisch, gesellschaftlich) für das jetzige Projekt und somit für die zeitgerechte Entsorgung der KKW-Abfälle
– Wirtschaftlicher Einsatz der Ressourcen / Verhältnismässigkeit
– Erhalt der jetzt vorhandenen Kompetenzen und Kenntnisse
– Sicherstellung der Grundleistung, nämlich die Entsorgung der zukünftig anfallenden Abfälle
– Flexibilität der Lösung (bezüglich Inventarentwicklungen aber auch gegenüber sonstige Entwicklungen)».
Nachwort
Der Bericht der AGNEB präsentiert eine erste nützliche Auslegeordnung zur Frage des Umgangs mit MIF-Abfällen nach dem Verschluss der geologischen Tiefenlager. Eine definitive Lösung steht noch aus (dem ist hinzuzufügen, dass heute in der Schweiz noch keine Tiefenlager bestehen).
Interessanterweise erwähnt die Arbeitsgruppe mit einem gewissen Wohlwollen «multinationale Lösungen». Diese würden auch im Hinblick auf die geologische Tiefenlagerung v.a. der hoch radioaktiven Abfälle (HAA) aus den Kernkraftwerken eine neue Evaluation verdienen.
Unklar und ungewiss sind die nach dem Verschluss des geologischen Tiefenlagers anfallenden Kosten. Die durch die Arbeitsgruppe erwähnten Kosten bis und mit 2155 variieren je nach Szenario um einen Faktor von bis zu zehn. Zur Finanzierung dieser Entsorgung äussert sich der Bericht nicht.
Referenzen
AGNEB 2019: Entsorgung der MIF-Abfälle nach dem «Ende des Einlagerungsbetriebs» der geplanten geologischen Tiefenlager. Arbeitsgruppe des Bundes für die nukleare Entsorgung, Bundesamt für Energie (BFE) Bern.
ENSI 2005: Technisches Forum Entsorgungsnachweis, Frage 39j: Abfälle aus Energie, Medizin und Forschung. https://www.ensi.ch/de/technisches-forum/abfaelle-aus-energie-medizin-und-forschung/
Nagra 2014: Modellhaftes Inventar für radioaktive Materialien MIRAM 14. NTB 14-04
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