Von Marcos Buser[1] & Walter Wildi[2]
1 «Réversibilité» – das Versprechen
Wie wir im letzten Beitrag aufgezeigt haben, ist die Geschichte der Sondermüllentsorgung auf und in Deponien im weitesten Sinne eine Geschichte von Fehlschlägen.[3] Ein Blick auf den Zustand solcher Deponien zeigt, dass die ursprünglichen Sicherheitskonzeptionen für diesen Typ von Anlagen in den allermeisten Fällen bestenfalls wenige Jahrzehnte hält und diese Anlagen darum sehr rasch zu äusserst teuren Sanierungsfällen werden. Die Liste gescheiterter Projekte ist lang und erweitert sich von Jahr zu Jahr. Interessant ist hierbei, wie wenig die technik-geschichtliche Aufarbeitung – und insbesondere das Scheitern der wissenschaftliche-technischen Konzeptionen – einer solchen Entwicklung im Allgemeinen interessieren.[4] Politik, Behörden und wissenschaftliche Institutionen sind im Grunde nicht gross daran interessiert, wissenschaftliche Fehlschläge zu analysieren, die natürlich immer mit einem gewissen Risiko und mit möglichem Reputationsschaden verbunden sind. Dies gilt auch für die Untertagedeponie Stocamine im elsässischen Wittelsheim nördlich von Mulhouse, die wir nun kurz im Rahmen unserer Reihe über gescheiterte Lagerprojekte für hochtoxische Abfälle im geologischen Untergrund als erstes Fallbeispiel ausleuchten.
Im Herbst 2010 wurden wir, die beiden Autoren dieses Beitrags, als Experten der vom französischen Umweltministerium eingesetzten Fachkommission «Comité de pilotage » der Untertagedeponie Stocamine berufen, der namhafte Wissenschaftler aus verschiedenen Nationen angehörten. Und das kam so zustande:
Die Untertagedeponie Stocamine für Sonderabfälle der Klassen «0» und «1» hatte im Herbst 2002 für grosses Aufsehen gesorgt, als ein Brand in einem 550m unter Tage gelegenen Lagerrevier schwere Schäden an der Tragstruktur der umgebenden Stollen anrichtete und zur vorläufigen Einstellung des Lagerbetriebs führte. Die polizeiliche Untersuchung legte eine Vielzahl von Missständen beim Betrieb und der Sicherheit der Anlage offen, die schliesslich dazu führen, dass das Projekt im September 2003 definitiv aufgegeben wurde. Nun stellte sich für den französischen Staat als Erbe des fehlgeschlagenen Projektes die Frage, was mit den Abfällen in der Tiefe geschehen sollte. Ursprünglich war das Projekt vom Präfekten der Region «Haut-Rhin» unter der Auflage bewilligt worden, dass die Abfälle für 30 Jahre eingelagert würden und dass nach diesem Zeitraum entschieden würde, ob diese definitiv vor Ort belassen würden oder ob sie wieder aus der Tiefe geborgen werden sollten. Führende Vertreter aus der nationalen und regionalen Politik, Wirtschaft und Administration hatten sich unter für das Projekt stark gemacht und die Frage der Umkehrbarkeit der Entscheide – der sogenannten «reversibilité» – in den Vordergrund des Prozesses gestellt.
Zwischen der definitiven Einstellung des Betriebs und der Berufung der Expertenkommission «Comité de pilotage COPIL» hatte der französische Staat nach Möglichkeiten gesucht, das unrühmlich zu Ende gegangene Projekt so zu lenken, dass die Sonderabfälle entgegen den ursprünglichen öffentlichen Erklärungen zur Rückholbarkeit der Abfälle doch und definitiv in der Tiefe gelassen werden konnten.[5] Die zuständigen Politiker und Behörden führten darum eine vorsichtig auf das Ziel des definitiven Einschlusses der Abfälle ausgerichtete Politik. Das Gesetz wurde zunächst 2004 so angepasst, dass ein Belassen der Abfälle vor Ort formal rechtmässig wurde. Aber die starken Gegenkräfte im Elsass und am Standort selber, die sich für das Wiederauslagern stark machten, mussten irgendwie eingebunden werden, um dem Schlussentscheid der Behörden die erforderliche Legitimität zu verleihen. So vergingen mehrere Jahre, während denen diverse weitere Bergbau- und Chemie-Experten ihre Untersuchungen zur Wiederauslagerung durchführten und ihre Empfehlungen abgaben. Dennoch fehlte all diesen Expertisen die erforderliche Rechtmässigkeit, um das gescheiterte Projekt aus der Reversibilitäts-Falle zu befreien. Erst mit dem Liquiditätsbeschluss des Staatsministers für Ökologie, Energie, nachhaltige Entwicklung und Raumordnung, Jean-Louis Borloo, die «Mines de Potasse d’Alsace» aufzulösen, kam wieder Bewegung in die Angelegenheit. Dabei war insbesondere der Entscheid von Bedeutung, nicht nur die möglichen Modalitäten des dauerhaften Einschlusses bzw. der Auslagerung zu untersuchen, sondern insbesondere auch einen öffentlichen Dialog zur erforderlichen Akzeptanz der Massnahmen zu führen. Der entsprechende im Juni 2010 verfügbare Bericht von zwei hochrangigen Mineningenieuren erweiterte die potentiellen durch eine weitere Option, die vorsah, nur die besonders toxischen Abfälle aus dem Endlager zu bergen.[6] Das Umweltministerium veranlasste daraufhin die Prüfung dieser Empfehlungen und berief eine «Commission d’Information et de Suivi CLIS» (Informations- und begleitkommission) und leitete die entsprechenden Schritte für die Einsetzung der Expertenkommission «Comité de Pilotage COPIL» (Leitungs-Aussschuss) ein.
2 Wendepunkt und Bruch
Diese Expertengruppe wurde durch die Vizepräsidenten des Generalrats für Umwelt und nachhaltige Entwicklung respektive des Generalrats für Industrie, Energie und Technologie bestellt. Sie sollte die Bedingungen ermitteln, unter denen die beiden möglichen Optionen für die Schliessung des von Stocamine betriebenen Abfallendlagers umgesetzt werden können: definitiver Einschluss im Untergrund oder Teil- oder vollständige Bergung der eingelagerten Abfälle unter dem Primat der Reversibilität. Die Expertengruppe legte ihren Bericht im Juli 2011 vor. Sie vertrat in diesem Bericht eine Mehrheits- und eine Minderheitsposition.[7] Diese beiden Positionen lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen:
Mehrheitsposition: Die Mehrheitsposition, welche seitens von 10 Wissenschaftlern gestützt wurde, anerkannte, dass die Bergung der Abfälle grundsätzlich möglich sei. Sie vertrat aber die Auffassung, dass die bergmännischen Risiken für die Bergung aller Abfälle aus Überlegungen des Arbeitsschutzes zu gross seien und daher ein Einschluss (containment) der Abfälle als geologisches Endlager für chemo-toxische Abfälle realisiert werden sollte. Dies obschon auch die Mehrheitsposition es als erwiesen ansah, dass irgendwann in der Zukunft Lauge in das Endlager eindringen und danach ausgestossen würde und ein definitiver, also dauerhafter Einschluss des Lagerguts damit nicht «nicht akzeptabel» sei (Figur 1). Die dadurch bedingten möglichen Risiken einer Grundwasserverschmutzung wurden aber als nicht hinreichend relevant betrachtet, um die Räumung des gesamten Lagers zu verfügen. Die Mehrheitsposition empfahl deshalb, die allergiftigsten Abfälle – Quecksilber-haltige und eventuell anderer Abfälle – selektiv (teilweise) auszulagern. Die Mehrheitsposition bekräftigte zudem, dass die Bergung eine teurere Variante darstelle, als das Belassen der Abfälle vor Ort.
Figur 1: Schematische Darstellung des Problems der Flutung der Mines de Potasse d’Alsace (MDPA): Die Flutung des Lagerbereichs kann entweder durch Schwächezonen entlang der abgeriegelten Zugänge erfolgen oder via abgesenktes unteres Kaliflöz. Dieses wurde nach dem Abbau kontrolliert abgesenkt, wobei die durch die Absenkung generierten Schutthalden offene, und damit Wasser durchlässige Horizonte aufweisen können, die sich mit den kaminartig sich fortsetzenden Schwächezonen über den Lagergalerien kurzschliessen. Die langfristige Flutung von Stocamine wird von allen beigezogenen Expertengremien und Gutachtern allseitig bejaht (siehe auch [8]).
Minderheitsposition: Die von den beiden Autoren dieses Beitrags vertretene Minderheitsposition geht von der Erfahrung im Umgang mit heutigen Sondermülldeponien sowie den Erfahrungen bei der Ein- und Auslagerung von chemotoxischen Sonderabfällen in deutschen Bergwerken unter Tage aus, die zeigten, dass eine Bergung und Behandlung der Abfälle von Stocamine die von der Umweltbelastung her gesehen sicherste Strategie und auch als kostengünstigstes Szenarium zu betrachten sei. Technisch sei die Bergung trotz erhöhter Konvergenzen durchaus möglich. Erfahrungen beim Sichern von Firsten (Decken) und Paramenten (Seitenwänden) seien Stand der Technik. Die Firste könnten problemlos mit Firstankern (Gewindestangen) gesichert werden. Der Rückbau von Sonderabfalldeponien zeige, dass auch die chemischen Arbeitssicherheitsmassnahmen beherrscht würden. Robotik käme heute im Bergbau routinemässig zum Einsatz. Die geborgenen Abfälle könnten daher unter den gegebenen Vorsichtsmassnahmen umgepackt und den verschiedenen Destinationen (Behandlung, Entgiftung, Umverpackung, Wiedereinlagerung in UTD usw.) zugeführt werden, unter anderem auch in deutschen Untertagedeponien (siehe Anhang 5 der französischen Ausgabe des Copil-Berichtes von 2011).
Enthaltungen: Ein Experte enthielt sich der Stimme.
Am 12. Dezember 2012 entschieden die Ministerien in Paris, die von der Mehrheitsposition adoptierte Strategie der selektiven Auslagerung besonders toxischer Abfälle umzusetzen. Auf Bitte der regionalen Mandatsträger wurde eine weitere Einbindung der Öffentlichkeit beschlossen, die zwischen dem 15. November 2013 und dem 15. Februar 2014 erfolgte.[9] Der im März 2014 veröffentlichte Bericht des «Conseil Général de l’Écologie et du Développement Durable» sprach sich dafür aus, die Quecksilber-haltigen Abfälle mehrheitlich auszulagern.[10] Dieser Empfehlung folgte die neue Umweltministerin, Ségolène Royal, die sich im August 2014 für eine Auslagerung von 93% der Quecksilber-haltigen Sonderabfälle aussprach.[11] Sie blieb damit allerdings hinter den Äusserungen zurück, die sie 1992 zu Stocamine ausgeführt hatte: « L’important, c’est le principe, d’ailleurs pris en compte dans le projet Stocamine, de la réversibilité du stockage. Il faudra pouvoir ressortir ces déchets, demain ou après‐demain, quand on disposera des moyens technologiques de leur destruction définitive.»[12]
Die Firma Stocamine wird 2014 aufgelöst, die Verantwortlichkeiten wird an die „Mines de Potasse d’Alsace MDPA“ übertragen. Gleichzeitig wird per Dekret vom 16. Juni 2014 die bisherige Informations- und Überwachungskommission (CLIS) in eine Standortüberwachungskommission CSS überführt. Die in der CSS wirkenden Verbandsvertreter erwirken beim Präfekten zusätzlich die Einsetzung eines Ausschusses zur Überwachung der Entsorgungsarbeiten. Diese Kommission wird, mit Ausnahme eines einzigen Besuchs im Bergwerks, nie wieder zusammentreffen. Das wirft natürlich grundlegende Fragen auf, wie wir später sehen werden.
Im Januar 2015 legen die MDPA dem Präfekten ihr Dossier über die endgültige Schließung des Standorts vor.
Danach erliess der Präfekt das Dekret vom 23. März 2017, das die zeitlich unbegrenzte Lagerung der 42.000 Tonnen Giftmüll erlauben sollte, trotz einer öffentlichen Befragung, die durch eine hohe Wahlbeteiligung und mehrheitlich geäusserte grosse Bedenken gegen die definitive Endlagerung gekennzeichnet war.
In der Zwischenzeit setzte Stocamine die Auslagerung der Mehrzahl der problematischen Quecksilber- und Arsen-haltigen Abfallgebinde in Gang, so wie dies bereits die Mineningenieure Caffet&Sauvalle und der Copil angeregt hatten.[13] Diese Abfälle wurden u.a. zur UTD Sondershausen in Thürigen gefahren und dort eingelagert, [14] wobei verschiedene Chargen durch den Abnehmer nicht angenommen wurden. Die Weigerung des Abnehmers, diese Abfälle anzunehmen und einzulagern, zeigte sehr wohl, dass – wie bereits vom Präfekten des «Haut-Rhin» schon 2011 festgestellt -, nicht konforme Abfälle in Stocamine eingelagert worden waren.[15] Diese zweifelhaften Einlagerungen hatte auch das COPIL in seinem Schlussbericht erwähnt, gleichzeitig aber auch festgehalten, dass «l’étiquetage et la cartographie des colis paraissent avoir été faits de manière correcte».[16] Eine Formulierung die einigen Interpretationsspielraum zulässt.
Dennoch blieb der Widerstand gegen die definitive Schliessung bestehen. Im französischen Parlament regte sich Widerstand. Er führte schliesslich zu einer parlamentarischen Untersuchung, die am 19. September 2018 veröffentlicht wurde. Dieser Untersuchungsbericht dürfte einer der wenigen Überblicksberichte darstellen, der den Prozess und die Gouvernanz des Projektes nochmals grundlegend und kritisch evaluierte. Der Bericht untersuchte zudem die verschiedenen Bergungs-, Teilbergungs- und Einschlussoptionen und empfahl den vollständigen Rückbau des Endlagers.
Parallel dazu hatte auch das Bureau de Recherches Géologiques et Minières (BRGM), der französische geologische Landesdienst, einen weiteren Bericht zur Frage der Bergung respektive des definitiven Einschlusses bestellt. Neben spanischen Spezialisten der Geomechanik wurden dabei auch zwei deutsche Konzerne in die Fragestellungen einbezogen: die DMT GmbH & Co. KG, die mit dem Sanierungsprojekt der schwach- und mittelaktiven Abfälle im Versuchsendlager Asse (Niedersachsen) betraut ist, und der Consulting-Firma Plejades GmbH. Hinzu zog BRGM auch die deutsche Firma Sat. Kerntechnik GmbH für die Konditionierung von Abfällen bei. Einmal mehr wurden verschiedene Szenarien der Bergung untersucht und die Folgerung schloss sich den bisherigen Evaluationen der offiziellen Berichte an: Bergung möglich aber aufwendig, ab Mitte der 20er Jahre aber immer schwieriger bis nicht machbar.[17]
2019 wurde schliesslich ein weiteres Consulting-Unternehmen beigezogen, Antéa Group-Tractabel, das eine weitere Expertise zur technischen Bergung und den Kosten derselben verfasste und dessen Folgerungen im Communiqué der französischen Umweltministerin vom 18. Januar 2021 kurz erwähnt wurden[18]: der definitive Einschluss der Abfälle wird einmal mehr mit der gleichen Argumentationslinie bejaht.
Am 5. Januar 2021 wird die Ministerin Stocamine besichtigen und die verschiedenen betroffenen Parteien erneut anhören, wobei sie ihre Präferenz für das Szenario des definitiven Einschlusses aller verbleibenden Abfälle bekannt gibt.
In einer Pressemitteilung vom 18. Januar gibt das Umwelt-Ministerium die Entscheidung der Ministerin bekannt.
Die Entscheidung von Barbara Pompili, die Abfälle endgültig vor Ort zu belassen, schlägt im Elsass wie der Blitz ein und führt zur Mobilisierung aller Kräfte, die sich gegen diese Entwicklung aussprechen.
Diese Entscheidung belastet die Zukunft eines ganzen Gebietes und hinterlässt ein giftiges Erbe für die zukünftige Generationen. Ein Entscheid, der gravierende Konsequenzen mit sich bringt.
3 Eine Kostenlawine kündigt sich an
Am Einfachsten lässt sich dieser Fehlentscheid an der Entwicklung der Kostenprognosen für die Auslagerung der Abfälle sehen. Die in den Jahren 2006 bis 2013 in diversen Gutachten und Kalkulationen ermittelten Auslagerungskosten bewegten sich in einem durchaus vergleichbaren Rahmen. Erste Studien zur Auslagerung der Abfälle aus der Untertagedeponie gehen auf das Jahr 2006 zurück.[19] Ein mögliches Szenario dieser Bergungs- und Rekonditionierungs-Arbeiten sowie der darauffolgenden Wiedereinlagerung in ein Endlagerbergwerk im Salz (für Sonderabfälle der Klasse «0») ist aus Figur 2 ersichtlich, deren Kosten in der Grössenordnung auf 65 Mio. € geschätzt wurden.[20]
Figur 2: Bergungsszenario mit Wiederverpackung/Rekonditionierung der geborgenen Abfälle, Transport und Wiedereinlagerung, aus BMG, 2006, S. 20[21]
Für den Einschluss der Abfälle und deren Verfüllung sowie der Abriegelung der Zugänge mit Spezialbeton berechnete die auf solche Arbeiten spezialisierte deutsche Firma Ercosplan je nach Variante Kosten von 8.8 bis 21.5 Mio. €, mit einer Variante 2 mit Kosten von 12.2 Mio €.[22] Etwas höhere Auslagerungskosten von 80 bis 100 Mio.€ wurden von der Aufsichtsbehörde DREAL veranschlagt.[23] Auf die Tonne umgerechnet ergaben sich so Kostenschätzungen von 1477.-€/t (Bergungskosten 65 Mio. €).bis 2270.-€/t (Bergungskosten 100 Mio. €). Aufgrund der Erfahrungen mit dem Sanierungsprojekt DMS St-Ursanne für Sonderabfälle der Klasse «1» schätzte einer der beiden Blogautoren (MB) die Sanierungskosten auf grössenordnungsmässig 1140.- €/t. ein (Bergungskosten rund 50 Mio. €). Alle diese Schätzungen lagen in einer Spannbreite von einem Faktor 2, waren also in sich konsistent. Die Bergung der Sonderabfälle aus Stocamine waren nach Schwierigkeitsgrad etwa mit jener der Sanierung der Sondermülldeponien DIB Bonfol (Kanton Jura, Schweiz) und SMDK Koelliken (Kanton Aargau, Schweiz) zu vergleichen, die auf Tonnen umgerechnet bei 1’850.-€/t respektive 1930.-€/t lagen.[24] Einfache Rechnungen zeigten also auch hier, dass – aller Unsicherheiten zum Trotz – eine gute Übereinstimmung und Kohärenz in den Kostenschätzungen vorlag.
Ganz anders bei den Rückbaukosten, die nach der Expertise des «Comité de pilotage» (COPIL) 2011 verfasst wurden. Der Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses fasst diese Entwicklung prägnant zusammen: «In den letzten Jahren wurden mehrere finanzielle Bewertungen der verschiedenen Szenarien durchgeführt. 145 Mio. im Jahr 2013 durch» (das Beratungsunternehmen)« BMG; diese Schätzung wurde 2015 durch »(den Betreiber Mines de Potasse d’Alsace)« MDPA auf 210 Mio. € erhöht. Diese Schätzungen mussten jedoch angesichts der bereits bei der teilweisen Bergung entnommenen Abfälle neu bewertet werden.» MDPA schätzte die Auslagerungskosten für drei Szenarien (Tabelle 1).
Tabelle 1:Auslagerungsszenarien der MDPA und geschätzte Kosten, Quelle [25]
Die Auslagerungskosten bewegen sich somit zwischen ca. 400 und 480 Mio. €. Umgerechnet auf die Tonne Sonderabfall 8’300.- und 10’900.- €. Dies dürfte der teuerste je produzierte Sonderabfall der Welt sein! Und zwar bei Weitem! Zum Vergleich: heute verlangen die deutschen UTDs zwischen rund 300.- bis 400.- € für die Einlagerung pro Tonne und bis zu 1’100.- €, wenn noch zusätzliche Konditionierungsarbeiten zu leisten sind. Und die Verglasungskosten für Asbest – der teuersten Behandlungsvariante zu dieser Zeit – waren vom Copil im Jahre 2011 auf zwischen 1’200.- bis 1’500.- € angegeben worden.[26] Bei Stocamine muss also etwas Grundsätzliches schief liegen.
4 Das gebrochene Versprechen
Warum werden von offizieller Seite derart hohe Kosten für die Auslagerung der Sonderabfälle veranschlagt, da doch die Promotoren des Projektes von Anfang an die Reversibilität bejahten und als technisch ausgereift vorstellten? Und warum hatte Stocamine gerade nur 305’000.- € (2 Mio. FFr.) als finanzielle Rückstellungen in den sogenannten Garantiefonds einbezahlt, der gerade nur als ein Tropfen auf den heissen Stein betrachtet werden muss. [27] Wie erklärt sich, dass man gerade nur 305’000.- € zurückgestellt hat, und nun mit einem gesalzenen Budget von mindestens 400.- Mio. € operiert? Dem 1300-fachen? Dies wirft nicht nur Fragen der Sorgfaltspflicht bei der Kostenkontrolle auf. Sondern auch grundlegende Fragen, ob diese aberwitzigen Kosten nur deshalb so hoch veranschlagt werden, damit keine Diskussion um eine Wiederauslagerung aufkommen soll.
Eine Überprüfung der heutigen Auslagerungskosten durch deutsche Entsorger von Untertagedeponien ergibt nämlich weiterhin maximale Auslagerungskosten von rund 70 bis 75 Mio. €. Man fragt sich in diesem Zusammenhang, warum die eingeholten Offerten von zwei deutschen Untertagedeponien, die direkt oder als Partner einer Bietergemeinschaft eingegeben wurden, von Stocamine immer noch in den Schubladen gehalten werden. Und schliesslich fragt man sich, weshalb nicht weitere Unternehmen beigezogen wurden, die Untertagedeponien betreiben, statt Unternehmen, die im Nuklearbereich Erfahrungen vorweisen können, nicht aber im Bereich der chemo-toxischen Abfälle? Wie ist zu erklären, dass die Auslagerungskosten heute 6 bis 7 Mal höher liegen, als von erfahrenen Entsorgungsgesellschaften in Deutschland veranschlagt?
Es ist offensichtlich, dass es bei diesem Prozess in erster Linie um die Umkehrung – im Klartext Blockierung – von der gemachten Zusage zur Reversibilität geht. Aber nicht nur das: Ein Engagement für die vollständige Bergung der Abfälle wurde nie berücksichtigt, wie dies auf Seite 10 und folgenden des von den Herren Lafond, Hoffner und Renckly verfassten Berichts der Untersuchungskommission (Commission d’enquête publique , 26. Januar 2017) deutlich zum Ausdruck kommt: „Wir stellten auch fest, dass die anfängliche Organisation der Lagerung durch die Positionierung von Fässern und Big-Bags ohne Umlaufmöglichkeit in der Mitte der Stollen zeigte, dass diese Option der Reversibilität nie wirklich berücksichtigt worden war. »
Durch dieses Abrücken von den wiederholt abgegebenen Versprechungen zur «Réversibilité» nehmen die verantwortlichen staatlichen Institutionen und die zudienenden wissenschaftlichen Instanzen einen massiven Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust in Kauf. Und zwar nicht nur in Bezug auf das Projekt Stocamine selber. Das Beispiel Stocamine untergräbt das Vertrauen auch an anderen Standorten, die mit Tiefenlagerungsprojekten von hochtoxischen Abfällen konfrontiert sind. Die Rücknahme der Reversibilitätspflicht dürfte in allererster Linie für das nukleare Endlagerprojet in Bure (Grand-Est) schwere Schatten werfen. Aber auch in anderen Ländern, die mit dem Problem der nuklearen Entsorgung konfrontiert sind, dürfte der Glaubwürdigkeits- und Akzeptanzschaden immens sein, etwa in Deutschland, das vor wenigen Jahren sein nukleares Standortwahlprojekt gestartet hat. Wie sollen in den Augen der Öffentlichkeit Lagerbehälter mit abgebrannten hochaktiven Abfällen mit einem Gesamtgewicht von über 20t aus einem verschlossenen Endlagerbergwerk im Salz oder im Ton über einen Zeitraum von bis zu 500 Jahren wieder geborgen werden, wenn das französische Umweltministerium mit sämtlichen Expertengremien und grossen Bergbaudiensten nicht fähig ist, Paletten mit jeweils 4 200l-Fässern oder ebenfalls palettierte Big-bags mit einem Gesamtgewicht von 1.5 t aus einem offenen Salzbergwerk wieder zurück zu holen? Eine Operation die heute routinemässig für dieselben Sonderabfälle der Klassen «0» und «1» in jeder deutschen UTD mit teils fernbedienten Gerätschaften ausgeführt wird? Was steckt hinter dieser Abwehr, eine tausendfach routinemässig ausgeführte Operation auch in den Galerien von Stocamine umzusetzen?
5 … und die Frage nach dem „Warum“?
Es muss also einen Grund dafür geben, dass etwas Grundlegendes verschwiegen wird. Die naheliegendste Erklärung für dieses merkwürdige und nicht nachvollziehbare Verhalten ist, dass während der Betriebszeit von Stocamine sehr viel mehr falsch deklarierte Abfälle den Weg in die Tiefe gefunden haben als angegeben und eine grössere Anzahl an Institutionen in diesem Fall impliziert sind. Der Bericht des Copil stellte fest, dass zwischen Juni 1999 und August 2002 «20 Zufuhren von Abfällen, die ca. 250 Tonnen entsprachen», zurückgewiesen wurden, weil sie den Annahmekriterien (Entgasung, Radioaktivität, Größe und Verpackung der Gebinde) nicht entsprachen.[28] Etwa die Gebinde, die am 22. Juni, 18. August und 30. November 1999 bei der Eingangskontrolle entdeckt wurden, weil sie zu hohe Radioaktivität anzeigten.[29] Woher stammten die radioaktiven Stoffe in diesen Rauchgasreinigungsrückständen? Aus der Medizin, also den Spitälern? Warum wurde die Herkunft der Radioaktivität nicht abgeklärt? Die Regelmässigkeit der Zurückweisungen im Jahre 1999 zeigt jedenfalls, dass es sich um hier wiederkehrende Ereignisse handelte, also um Zulieferungen, die sich regelmässig wiederholten.
Aber es wurden auch weitere Abfälle eingelagert, die nachträglich und mit zum Teil grossem Aufwand wieder geborgen werden mussten. Darunter waren auch Gebinde, die der Präfekt mit Verfügung vom 10. Juli 2000 wiederauslagern liess. Der Bericht des Copil erwähnt, dass die 173 Abfallgebinde aus Block 11, die im Zeitraum 2001-2002 geborgen wurden, PCB-Öle enthielten.[30] Diverse Fehlchargen waren am 11. Februar 1999 – kurz nach der Eröffnung von Stocamine – angeliefert worden, sowie am 5. Juli 1999 und am 21. Januar 2000.[31]
Die Aufeinanderfolge dieser Vorfälle wirft unweigerlich Fragen über die Zuverlässigkeit von Stocamines Systems der Eingangskontrollen auf. Der Brand im September 2002 beweist, wie sehr diese Eingangsprozedur vorsätzlich umgangen wurde. Die anschließende gerichtliche Untersuchung bestätigte diesen Regelverstoß durch führte zu einer Verurteilung der Geschäftsführung. Auch in diesem Falle lässt sich das Wiederholungsmuster erkennen und auch diesem Fall stellen sich ähnliche Fragen. 173 PCB-haltige Gebinde waren unerkannt eingelagert worden? Über einen Zeitraum von fast 1 Jahr! Alle untergebracht in Block 11. Was bewog den Präfekten, diese Wiederauslagerung zu verlangen? Ein halbes Jahr nach der Lieferung der letzten Fehlcharge? Es sind verstörende Fragen, die bisher keine befriedigende Antwort erhalten haben, aber erklären könnten, warum Stocamine und der französische Staat und seine Ministerien und Experten sich so systematisch gegen die Bergung der Abfälle positionieren.
Und es gibt Hinweise, dass sehr viel mehr umdeklarierte – also nicht konforme – Abfälle unten eingelagert wurden, als offiziell zugegeben. Ein Zeuge erklärte einem den beiden Blogautoren (MB), dass sich auch Kanister mit industriellen oder gewerblichen Ölen und Fetten finden liessen, genauso wie medizinische Abfälle, darunter Spritzen und OP-Besteck. Die falsch deklarierten Abfallgebinde seien zahlreich (vielleicht bis um die 20% der Gebinde). Und noch ein weiterer Umstand weist ganz klar darauf hin, dass Beobachter möglichst unerwünscht waren: Wie bereits erwähnt, forderte Stocamine den Begleitausschuss nicht auf, die Arbeit der Bergungsarbeiten zu überwachen. Die Geschäftsführung lehnte externe Kontrolle stets ab. Die regelmässig beschworene Transparenz wurde nie wirklich in die Praxis umgesetzt. Dies könnte die Trägheit der Behörden und die Blockierung der Bergungsarbeiten seit 2002 erklären. Rechtfertigt diese Haltung aber die Ausgabe von fast einer halben Milliarde Euro an öffentlichen Geldern? Dies aber abzuklären ist nicht mehr ein Fall für Geologen und andere Experten, sondern in erster Linie ein Fall für die Justiz.
Weiterführende Informationen in deutscher Sprache zu Stocamine sind zu finden unter: • http://www.itas.kit.edu/pub/v/2017/buse17a.pdf
[1] Marcos Buser, Funkackerstrasse 19, 8050 Zürich, marcos.buser@bluewin.ch
[2] Walter Wildi, Chemin des Marais 23, 1218 Le Grand Saconnex
[3] Siehe dazu Buser, Marcos, Wildi, Walter, 2018, Du stockage des déchets toxiques dans des dépôts géologiques profonds, Science & Pseudo-science, Avril-Juin 2018 ; Buser, Marcos, Forter, Martin, Wildi, Walter, 2019, Entsorgung von Sondermüll in der Schweiz, von der Verdünnung im Rhein zum Sarkophag von Teuftal, Swiss Bull. angew. Geol., Vol 24/2 = Hazardous waste disposal in Switzerland, from dilution in the Rhine river to the sarcophagus of Teuftal, Swiss Bulletin for Applied Geology, vol. 24, n° 2, p. 27-41
[4] NEA, 2014, Loss of Information, Records, Knowledge and Memory – Key factors in the History of Conventional Waste Disposal, Nuclear Energy Agency, Paris, NEA/RWM/R(2014)3, https://www.oecd-nea.org/jcms/pl_19472/loss-of-information-records-knowledge-and-memory-key-factors-in-the-history-of-conventional-waste-disposal?details=true
[5] Assemblée Nationale, 2018, Rapport d’information déposé par la mission d’information commune sur le site de stockage de déchets Stocamine, 18 septembre 2018, https://www.assemblee-nationale.fr/dyn/15/rapports/micstoc/l15b1239_rapport-information
[6] Caffet, Marc, Sauvalle, Bruno, 2010, Fermeture du stockage de déchets ultimes de Stocamine (Haut-Rhin), Ministère de l’écologie, de l’énergie, du développement durable et de la mer & Ministère de l’économie, de l’industrie et de l’emploi, 6/2010, https://cgedd.documentation.developpement-durable.gouv.fr/notice?id=Affaires-0005266
[7] Copil, 2011, COPIL Stocamine, Gutachten, Juli 2011, http://www.grand-est.developpement-durable.gouv.fr/IMG/pdf/COPILfinalallemand.pdf
[8] Berest P., Brouard B., Feuga B., 2004, Abandon des mines de sel: faut-il ennoyer? Revue Française de Géotechnique, no. 106-107, 1er et 2ème trimestres 2004, https://www.geotechnique-journal.org/articles/geotech/pdf/2004/01/geotech2004106-107p53.pdf
[9] CGEDD, 2014, Projet de Fermeture du Stockage Souterrain StocaMine, Concertation Publique 15 novembre 2013 – 15 février 2014, Conseil Général de l’Ecologie et du Développement Durable
[10] Assemblée Nationale, 2018, op. cit., Teil I,, Kapitel I.2.c. >> 5
[11] Assemblée Nationale, 2018, op. cit., Teil I,, Kapitel I.2.c. >> 5
[12] L’Alsace, L’écologie sereine, rubrique Environnement, 30.10.1992
[13] Caffet, Marc, Sauvalle, Bruno, 2010, op. cit. >> 6
[14] Stocamine, 2014, La lettre d’information sur les travaux de déstockage, No. 5, octobre 2014; Mitteldeutsche Zeitung, Gefährliche Industrieabfälle aus Frankreich, Sondermüll auf dem Weg ins thüringische Sondershausen, 25. November 2014, https://www.mz-web.de/mitteldeutschland/deponie-in-sondershausen-nimmt-elsaessern-giftmuell-ab-341166
[15] Buser, M., 2017, Short-term und Long-term Governance als Spannungsfeld bei der Entsorgung chemo-toxischer Abfälle, ITAS-Entria-Arbeitsbericht 2017-02, cf. document ENTRAI/ITAS joint à cette contribution.
[16] Copil 2011, op.cit., ohne Seitenangabe >> 7: « … die Kennzeichnung und Zuordnung des Einlagerungsgutes scheint korrekt erfolgt zu sein».
[17] BRGM, 2018, Délais de déstockage total des déchets (hors bloc incendié) Stocamine: analyse du délai de 15 ans et de scénarios alternatifs, Rapport final, BRGM/RP-68334-FR, Octobre 2018.
[18] La Ministre de la Transition écologique annonce le confinement du site de StocaMine et une enveloppe de 50 millions d’euros pour protéger la nappe d’Alsace des risques de pollution, lundi 18 janvier 2021.
[19] Institut de Sécurité, 2006, Rapport de synthèse Étude approfondie de la variante de la mise en œuvre de la réversibilité, Institut Suisse pour la Promotion de la Sécurité, juin 2006
[20] BMG, 2006, Stockage souterrain de Wittelsheim : évaluation technique de la variante de la mise en œuvre de la réversibilité, BMG Engineering AG, juin 2006, p. 52; Institut de Sécurité, 2006, op.cit, p. 16 >> 21
[21] BMG, 2006, op. cit., S. 20 >> 22.
[22] Ercosplan, 2008, Etude de faisabilité, Remblayage des cavités souterraines de Stockage des Déchets de StocaMine, Wittelsheim, France, Rapport final ERCOSPLAN Ingenieurgesellschaft Geotechnik und Bergbau mbH, 2 septembre 2008, p.68.s
[23] DREAL, 2010, Devenir du site Stocamine à Wittelsheim (Haut-Rhin) – Stockage de déchets dangereux, Rapport de la DREAL Alsace, DREAL Direction Régionale de l’Environnement, de l’Aménagement et du Logement d’Alsace, 7 avril 2010, p. 7
[24] inklusiv die sehr viel höheren Kosten durch thermische Behandlung der Abfälle
[25] Assemblée Nationale, 2018, op. cit., p. 71 >> 5
[26] Copil 2011, op.cit., p. 26 >> 7: « … L’amiante peut être vitrifiée à des coûts de l’ordre de 1200 à 1500 € par tonne».
[27] DREAL, 2010, op.cit., p. 5 >> 23
[28] Copil 2011, op.cit., p. 23 >> 7: «Entre juin 1999 et août 2002, on note 20 refus de lots, représentant 250 tonnes environ, réexpédiés suite à la constatation d’une non-conformité (dégazage, radioactivité, taille et conditionnement des colis».
[29] Buser, M., 2017, S. 44 >> 15
[30] Copil 2011, op.cit., p. 23 >> 7: «Entre juin 1999 et août 2002, on note 20 refus de lots, représentant 250 tonnes environ, réexpédiés suite à la constatation d’une non-conformité (dégazage, radioactivité, taille et conditionnement des colis».
[31] Buser, M., 2017, S. 45 >> 15
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