Fortsetzung des Beitrags vom 12. September 2016
Lesen Sie auch den Südkurier: https://www.suedkurier.de/region/hochrhein/kreis-waldshut/Atommuellendlagersuche-Geologe-Marcos-Buser-zweifelt-an-der-Sicherheit-der-Standorte;art372586,8900043
. . . und die letzten News aus dem ENSI-Gate: www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Edelberater…/25345283
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- Fragen zur wissenschaftlichen Ethik und zur Sicherheitskultur: Das „Geologen-Risiko“
Damit widersprechen die gleichen Institutionen jenen Ansprüchen, die sie in ihren Verhaltens-Codizes niedergelegt haben, welche allesamt kurz nach dem 2012 erfolgten Rücktritt der beiden Autoren dieses Blogs aus eidgenössischen Kommissionen der nuklearen Entsorgung verfasst wurden. Zum Beispiel im Verhaltenskodex der Nagra[1] (https://www.nagra.ch/de/verhaltenskodex.htm):
Sicherheit: “Bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle hat die Sicherheit oberste Priorität. Bei der Standortwahl für geologische Tiefenlager werden nur für sicherheitstechnisch gleichwertige Optionen auch andere Aspekte berücksichtigt.“
Verantwortung: „Die Tiefenlagerung radioaktiver Abfälle ist eine technisch und gesellschaftlich anspruchsvolle Aufgabe. Die Nagra nimmt diese Aufgabe zum generationenübergreifenden Schutz von Mensch und Umwelt mit dem nötigen Respekt und verantwortungsbewusst wahr.“
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Kompetenz: „Die Nagra arbeitet mit grosser Sorgfalt nach aktuellem Stand von Technik und Wissenschaft. Als anerkanntes Kompetenzzentrum erfüllt die Nagra ihre Aufgaben im Rahmen ihres Auftrags eigenständig. Sie arbeitet in allen Bereichen mit Fachleuten aus dem In- und Ausland zusammen und betreibt ein umfassendes Qualitätsmanagementsystem. . .“
Oder bei den Verhaltensregeln für das ENSI-Personal[2]:
Befangenheit: „Die für das ENSI tätigen Personen vermeiden im Rahmen der Aufsichtstätigkeit Äusserungen und Handlungen, welche den Anschein begründen könnten, sie seien befangen.“
Bei der Standortwahl, bei Fragen von Naturrisiken und Georessourcen stehen Wissenschaftler, allen voran Geologen, erst der Nagra, dann auch der Sicherheitsbehörde und endlich der ganzen erdwissenschaftlichen Gemeinschaft in der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen. Die Nagra-Geologen die an den zitierten technischen Berichten der Nagra und an der Formulierung des weiteren Untersuchungsprogramms (NTB 14-01) mitwirkten, wussten sehr wohl, dass man Kohlewasserstoffe (Kohle, Gas, Tightgas) und wichtige Vorkommen von Thermalwasser im geologischen Untergrund nicht mit Seismik und Gravimetrie orten kann. Hierzu sind geologische Tiefbohrungen, im vorliegenden Fall bis an die Basis des Permokarbon-Troges, zwingend notwendig. Und doch fehlen diese Forderungen im vorliegenden Bericht – wie auch in weiteren Berichten der Nagra – vollständig. Das Thema scheint auch bei den Sicherheitsbehörden noch nicht angekommen zu sein.
In der historischen Aufarbeitung wissenschaftlicher Fehlleistungen oder Fehltritte bei der Beurteilung von Projekten stellen sich immer wieder ähnliche Verhaltens- und Ablehnungsmuster, die allesamt auf dieselben Faktoren zurückzuführen sind. Wir finden sie in den geologischen Wissenschaften etwa im Falle der Eiszeittheorien im 19ten Jahrhundert (Agassiz, siehe Hölder 1989), den Auseinandersetzungen um die alpinen Überschiebungen („Glarner Doppelfalte“, Hölder 1989) um die vorletzte Jahrhundertwende, im Falle der Theorie der Kontinentalverschiebung zu Beginn des 20sten Jahrhunderts(A. Wegener, siehe Cohen 1994), in Zusammenhang mit dem Vorkommen von „europäischen“ Trilobiten in Südchina (Fall Jacques Deprat, siehe Durand-Delga 1990) in derselben Periode und selbst in der heute etablierten Plattentektonik in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Bei praktischen Projekten, z.B. im Bereich der Deponierung von Abfällen, korreliert diese Fehlbeurteilung in den letzten Jahrzehnten mit der grossen Anzahl der inzwischen sanierten Altlasten.
Entgegen all den oben aufgeführten Beispielen unterscheidet sich die Problematik der radioaktiven Abfälle durch das zeitlich ausgedehnte Risikopotential: dass die hochaktiven Abfälle der Leichtwasserreaktoren 1 Million Jahre von der Umwelt abgeschirmt werden sollen, sprengt unsere Vorstellungskraft und wirft eine neue Dimension der ethischen Verantwortung auf. Wenige Generationen verantworten eine Hinterlassenschaft, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Zeitspanne der Existenz von tausenden von Generationen begleiten und die jene Homo sapiens sapiens sogar übersteigen dürfte Figur 8). Eine absurde Vorstellung.
Der deutsch-jüdische Philosoph Hans Jonas hat, wie auch andere von den Gräueln des Nationalsozialismus beeinflusste Denker, die technische moderne Entwicklung auch in den Zusammenhang von Macht der Herrschenden und Ohnmacht der Beherrschten gestellt. Die Atombombe und die unsägliche Gewalt und Machtfülle, die sie repräsentierten, haben das Verständnis des „Wesens der modernen Technik“ grundsätzlich verändert. Jonas griff etwa die Idee des immanenten Fortschrittsglaubens im Rahmen seines Hauptwerks „Das Prinzip Verantwortung“[3] wieder auf, dem wir bereits in aufklärerischen Schriften begegnet sind, und zeigte, wie eng diese Fortschrittsidee mit dem Wachstumsprinzip zusammenhängt, die uns in unserer heutigen Welt der „freien Marktwirtschaft“ permanent begegnet. Zentral ist in unserem Kontext darum auch seine Erkenntnis über die Reichweite der Wirkungen technischen Handelns, und er folgerte daraus, dass eine künftige Zukunftsethik verpflichtet sei, die „Fernwirkungen“ der Handlungen zu ermessen.[4] Damit traf er natürlich den Nerv jeglicher Technik mit langzeitwirksamen Folgen, für die er eine „Ethik der Langzeitverantwortung“ einforderte. Aber Jonas wies ebenfalls darauf hin, dass Erkenntnis der erste Schritt auf diesem Pfad war, und er schrieb dazu: „Solange die Gefahr unerkannt ist, weiss man nicht, was es zu schützen gilt und warum …“ [5] und etwas später „Wir wissen erst, was auf dem Spiele steht, wenn wir wissen, dass es auf dem Spiele steht“.
Günther Anders, ein zweiter deutsch-jüdischer Philosoph, ging in diesen Gedankengängen radikaler vor. Die Atombombe und ihre Auswirkungen – und stellvertretend natürlich auch die gesamte Atomenergie mit ihren Abfällen – wurden je länger desto mehr zum zentralen Punkt seiner Arbeit. Zwei Schriften geben einen besonders prägnanten Einblick in das uns beschäftigende Thema: In seinem erstmals 1972 veröffentlichten Buch „Die atomare Drohung“ stellte er Thesen zum Atomzeitalter auf, und geisselte darin bereits die Apokalypse-Blindheit unserer Gesellschaft wie auch die Diskrepanz zwischen dem Herstellungsvermögen der menschlichen Technik und der Vorstellungsleistung ihrer Folgen. Er schrieb: „Insofern sind wir invertierte Utopisten: während Utopisten dasjenige, was sie sich vorstellen, nicht herstellen können, können wir uns dasjenige, was wir herstellen, nicht vorstellen.“ Und das seien die Folgen unseres Handelns. Er nannte diese Diskrepanz das promethische Gefälle. Und er diagnostizierte als Ursache für diese Blindheit das, was er „überschwellig“ nannte. Nämlich dasjenige, „was zu gross ist, als dass es noch eine Reaktion, z.B. einen Hemmungsmechanismus, auslösen könnte.“[6]
Und dieses Konzept des „Überschwelligen“ passt sehr genau auf die Situation, die wir im menschlichen Handeln und ganz augenfällig im Umweltbereich beobachten können. Ob Klima, Mikropollutants, Plastic planet, Übernutzung der Wasserressourcen, Artensterben oder Abfälle. Wir begegnen denselben Mechanismen der Problemherstellung und denselben Abwehrstrategien der Menschen und Systeme, die Anders als „Apokalypse-Blindheit“ umschrieb.[7] Wie Jonas verwendete er den Begriff der Furcht, wenn er – wie 1962 zur Zeit der atomaren Aufrüstung und der Kuba-Krise – bemerkte: „Das furchtbare an unserem atomaren Elend besteht tatsächlich darin, dass es als Elend überhaupt nicht oder kaum empfunden wird, auf keinen Fall mit der gleichen Konstanz und mit der gleichen Schärfe, mit der die Misere der Ausbeutung von den Proletariern des 19. Jahrhunderts empfunden und erfahren worden war.“
Und damit spricht Anders etwas ausserordentlich Grundsätzliches an, nämlich das Faktum, dass wir kaum ermessen können, was unser Handeln für die Zukunft bedeutet. Genau das meint das „Überschwellige“: das Hirn des homo sapiens ist offenbar nicht auf die Erfassung derart komplexer Systeme ausgelegt. Ab einer gewissen Grössenschwelle versagen seine Emotionalität und seine Empathie in vielen Fällen. Und so steht der Wissenschaftler, Fachmann und Fachfrau (und damit ErdwissenschaftlerINNEN) auch vor der Frage, wie sie, als Mitgestalter und Mitverantwortliche eines Prozesses, auch ihre Verantwortung der Zukunft gegenüber wahrnehmen wollen. Es sind darum unausweichliche Fragen, wie Wissenschaftler die Offenheit eines jeden wissenschaftlichen Vorhabens sicherstellen wollen. Es sind dies Grundfragen der wissenschaftlichen Ethik, die uns alle betreffen, ob wir nun bei Nagra, Sicherheitsbehörden, Kantonen, Büros oder als Experten arbeiten und handeln. Es sind Fragen, wie mit sachlicher und fachlicher Unsicherheit und mit wissenschaftlicher Erkenntnis umzugehen ist. Angesprochen sind auch Fragen nach der hinterfragenden Grundhaltung, der Offenheit für Einwände, der Prüfung von Bedenken und von Einsprüchen, aber auch nach der Standfestigkeit der Meinung gegenüber Vorgesetzten und Auftraggebern.
In diesem Sinne muss man sich deshalb fragen, was bei dem oben aufgezeigten Permokarbon-Problem als weiterem Beispiel einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung schief gelaufen ist, etwa im Sinne von Beispielen:
- Machten die Nagra-Geologen ihren Job nicht oder nicht richtig?
- Machten sie ihn bewusst falsch aus Angst vor Repression oder aus vorauseilendem Gehorsam?
- Gaben sie ihrem Arbeitgeber Gefälligkeitsmeinungen und -gutachten ab?
- Griff der Arbeitgeber in den wissenschaftlichen Prozess ein und verlangte Änderungen in der wissenschaftlichen Beurteilung gegen den Willen des Wissenschaftlers?
- Wurden die Aussagen und Empfehlungen der Wissenschaftler an die Geschäftsleitung durch Personen aus andern Berufs- und Wissenschaftskategorien (Orts- und Regionalplaner, Ingenieure, . . .) verworfen und umformuliert? Liegen also massive Beeinflussungen und damit eine Verfälschung von Inhalten vor, z.B. im NTB 14-01?
- Wurden die Empfehlungen mit der Elektrowirtschaft abgesprochen (Kostenfrage) und mit der Sicherheitsbehörde bereits abgesichert? Oder folgen die zuständigen Geschäftsleitungsmitglieder bzw. die daran arbeitenden Wissenschaftler bereits dem Prinzip des vorauseilenden Gehorsams?
Wir kennen heute die Antworten (noch) nicht. Sie könnten aber weitreichende Folgen für unsere Berufskategorie und den weitern Verlauf des Sachplanverfahrens haben. In jedem Fall sind diese Fragen, die allesamt auch mit der Fehler- und in umfassenderer Art mit der Sicherheitskultur zusammenhängen, für die erfolgreiche Umsetzung eines Entsorgungsprogramms von entscheidender Bedeutung. Diese ethischen Grundsätze und die damit ableitbare Sicherheitskultur im Alltag umzusetzen und zu leben gehört zu den zentralen Aufgaben dieses Generationen übergreifenden Projekts. In diesem Sinne sind alle Handlungsträger des Sachplans dazu aufgerufen, sich den unangenehmen Fragen aus der Existenz des Permokarbontrogs umfassend zu stellen.
Wir werden weiterhin darauf bestehen (Figur 9)!
Fortsetzung folgt wahrscheinlich!
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