Es ist irgendwie speziell: wir alle wissen, radioaktive Abfälle sind hochgradig gefährlich. Sie strahlen, vermögen in hohen Dosen zu töten und schädigen das lebende Gewebe, wenn man sich nicht vor ihnen schützt. Sie vergiften uns, wenn sie in Nahrungsmittel oder über Wasser aufgenommen werden. Ihre Wirkung in kleinen Dosen ist umstritten. Und vor allem: sie „leben“ lange. Man ist sich einig, dass radioaktive mit „langlebigen“ Isotopen über tausende und abertausende von Jahren von der lebenden Umwelt isoliert werden müssen, wenn nicht sogar 1 Million Jahre oder mehr.
All das ist richtig. Und doch ist unsere Kenntnis über die Abfälle in der Regel klein. Diskussionen und Debatten über radioaktive Abfälle konzentrieren sich mehrheitlich auf die Standortfrage für ihre Lagerung und die Geologie. Bei der Abfallfrage hingegen reicht es scheinbar zu wissen, dass sie gefährlich sind und dies über unvorstellbar lange Zeiträume von hunderten bis zu zehntausenden von Generationen.
Im Rahmen des Barrierenkonzepts sind radioaktive Abfälle die Gefahrenquelle, vor der es sich zu schützen gilt: verschiedene hintereinandergeschaltete Hindernisse und Barrieren sollen ähnlich dem Prinzip der russischen Puppen die Strahlung und die radio-toxischen Stoffe möglichst daran hindern, in der belebten Umwelt zu wirken (siehe zum Barrierenkonzept auch unser Beitrag vom 5. September 2015). Wir werden in den nun folgenden Wochen die verschiedenen Abfallbarrieren einzeln wie in ihrem Zusammenspiel betrachten und beginnen mit drei Beiträgen über den Abfall selber:
- Im ersten dieser Beiträge wird ein aktuelles Ereignis zum Anlass genommen, Eigenschaften von Abfallstoffen zu charakterisieren und Probleme im Umgang mit solchen Abfallstoffen zu erörtern.
- Im zweiten Teil werden wir einen Überblick über die Abfälle und Abfallstoffe geben, die es in radioaktiven Abfällen zu berücksichtigen gilt.
- Im dritten Teil sollen die Eigenschaften der Abfallgemische mit Blick auf die Langzeitstabilität und die Schnittstellenprobleme näher betrachtet werden.
Der Unfall von Beatty
Am 18. Oktober 2015 ereignete sich auf der Deponie für schwachaktive Abfälle „US Ecology Facility“ des Staates Nevada bei Beatty, einem der sechs US amerikanischen Oberflächenendlager für Abfälle aus der zivilen Nutzung, in Graben 14 (trench 14) ein kleines, aber spektakuläres „Feuerwerk“, mit einer Serie von Explosionen und dem Auswurf von rund 150 m3 Erdmaterial (siehe Figur 1). Die heutige universale Verbreitung von Kameras ermöglichte Aufnahmen des Vorfalls, der in einer Youtube-Filmsequenz nachzusehen ist[1] und in Berichterstattungen der schriftlichen Medien Eingang fand.[2] Messungen der Einsatzkorps[3], die in den Stunden und Tagen nach dem Vorfall auf dem Gelände erfolgten, gaben aber im Sinne Entwarnung, dass keine Radioaktivität aus der Deponie ausgetreten war.

Mit Datum vom 30. Dezember 2015 veröffentlichte nun das zuständige Departement für öffentliche Sicherheit des Staats Nevada ihren Untersuchungsbericht[4] zu besagtem Ereignis und bestätigte, dass keine radioaktiven Abfälle vom Vorfall betroffen waren. Das war der gute Teil der Nachricht. Der schlechte Teil wurde im Bericht wie folgt erklärt und bebildert:
Die Deponie für schwachaktive Abfälle wurde zwischen 1962 und 1992 betrieben, und zwar durch die Firma US Ecology Inc., die ab 1962 von US Ecology Inc. für die Dauer von 99 Jahre beim Staat Nevada geleast wurde[5]. Schwachaktive Abfälle waren in Meter tiefen Gräben deponiert und mit Erdreich überdeckt worden (Figuren 2 und 3).


Entgegen den ursprünglichen Erwartungen der Deponieplaner wurde die Abdeckung im Laufe der Jahre und Jahrzehnte undicht und die angelegten Drainagen funktionierten nicht wie gewünscht, mit dem Ergebnis, dass Niederschlagswasser in die Deponie eindrang. Die eingelagerten Abfallbehältnisse – Stahlfässer, Kartonschachteln und Holzkisten mit unterschiedlichstem Inhalt – begannen zu korrodieren und sich zu zersetzen. Mindestens hundertsechzehn 55-Gallon-Stahlfässer (ca. 200 l) mehrheitlich privater Zulieferer, gefüllt mit metallischem Natrium, waren ebenfalls darunter.[6]
Heftige Regenfälle vom 4. bis 6. Oktober (3.3 mm) und am Tag des Vorfalls (1.4 mm) hatten zur Folge, dass Wasser bis zu den korrodierten Fässern vordrang und heftige exotherme Reaktionen auslöste. Reaktionen, die jeder erstsemestrige Student der Chemie kennt und die in Zusammenhang mit dem Natrium gekühlten Brutreaktor zu ebenso heftigen Diskussionen führen:
2 Na + 2H2O = 2 NaOH + H2 (+ explosive Wärme und Brandrisiko)
Neben den bereits erwähnten rund 150 m3 Erdreich flogen auch die eingelagerten korrodierten Fässer durch die Luft, bis zu 60 m weit (190 Fuss). Die Flammen im Krater waren bis 1.5 m hoch.
Die beiden nächsten Bilder geben einen Eindruck von der Gewalt der Reaktionen. Da Natrium zudem brennt, kam ein Brand in Gang, der erst am nächsten Tag von selbst erlosch.
![Figur 4: Der Krater aus der Nähe und Fassüberreste (gemäss Photo Nr. 2 vom 21. Oktober 2015, Anhang II-6, Nevada Department of Public Safety [2015]: Report on the October 18, 2015 industrial fire incident at the closed state of Nevada low-level radioactive waste site, State Fire Marshal Division, December 30, 2015)](https://i0.wp.com/www.nuclearwaste.info/wp-content/uploads/2016/01/Diapositive4.jpg?resize=720%2C540&ssl=1)
![Figur 5: Der Krater aus der Nähe und Fassüberreste (gemäss Photo Nr. 4 vom 21. Oktober 2015, Anhang II-8, Nevada Department of Public Safety [2015]: ebda).](https://i0.wp.com/www.nuclearwaste.info/wp-content/uploads/2016/01/Diapositive5.jpg?resize=720%2C540&ssl=1)
Im Anhang des Berichts vom 30. Dezember 2015 figuriert auch die Untersuchung aus dem Jahr 1981 über den Zustand des amerikanischen Programms für schwachradioaktive Endlager, in der auch die Anlage bei Beatty figuriert.[7] Die Zustände beim Betrieb der Deponie erinnern an „afrikanische“ Verhältnisse: man deponierte was gerade kam – ob radioaktiv oder nicht – und bediente sich am eingelagerten Inventar. In den 1970er Jahren war die Deponie auch als „the store“ bekannt, man holte sich in der Nachbarschaft was zu brauchen war und grub unter vielen anderen dokumentierten Fällen auch einen Betonmischer aus, der für die Verfestigung von schwach- und mittelaktiven Abfällen verwendet worden war.[8] Dieser wurde in einer Vielzahl von lokalen Projekten eingesetzt – einem Patio beim Saloon, einem Boden im Gefängnis, im Gerichtsgebäude. Weitere Fälle unkontrollierter Einlagerung und Selbstbedienung sind auch dem Bericht von Dames and Moore aus dem Jahre 1981 zu entnehmen.[9] In diesem Licht erstaunen die Ereignisse vom 18. Oktober nicht. Man kann darum davon ausgehen, dass die Deponie von US Ecology Inc. weitere und dramatische Leichen im Keller hat.
Dieses Fallbeispiel zeigt:
- Die Deponie von „Beatty“ – immerhin eine von 6 nationalen, kommerziellen und genehmigten Oberflächendeponien für schwach- und mittelaktive Abfälle der USA – war ohne qualifizierte Kontrolle, wie die Aufzählung einer Vielzahl von dokumentierten schweren Übertretungen zeigt. Dazu passt, dass die Betreiber ein Fasslager mit hochreaktivem metallischem Natrium deponierten. Die Deponie und ihr explosiver Inhalt lassen wenig Gutes bei anderen deponierten Abfällen, der Anlage als solcher und generell der bisherigen Entsorgungspraxis aus dieser Zeit erwarten.
- Ungeachtet dieses relativ gut dokumentierten Fallbeispiels von krimineller Dimension – immerhin werden auch rund 14 kg Plutonium im Deponieinventar geführt – muss man sich fragen, wie es in einem hochindustrialisierten Land wie den USA möglich ist, über Jahrzehnte ein solches Chaos bei der Endlagerung radioaktiver Abfälle zu dulden. Der Bericht von Dames and Moore datiert von 1981. Die angeprangerten Missstände wurden bis zur Betriebsschliessung nicht oder nicht vollständig behoben. Es spottet jeder Beschreibung, was die Sicherheitskultur dieser Anlage betrifft.
- Und nun noch einige Erkenntnisse zum Abfall selber, der nicht allein auf Beatty sondern auf praktisch alle Projekte mit radioaktiven Stoffen zutrifft. Radioaktive Abfälle bestehen in der Regel nicht aus wenigen Stoffen oder Abfallkategorien, sondern aus Stoffgemischen oder einem Sammelsurium an Stoffen und Gebinden, die z.B. eng mit der Verpackungs- oder Konditionierungstechnik zusammenhängen. Oft dienen diese Verpackungen und Konditionierungen in erster Linie dem Handling der Abfälle, nicht aber primär dem Langzeit-Einschluss. Hinzu kommt, dass das Anlieferungsdatum die Abfallgemische steuert (wer hat wann welche Abfälle geliefert).
- In Beatty nahmen sich die Betreiber zudem – wie auch in anderen Deponien der Zeit – vor, die Abfälle schön ordentlich in den Gräben zu platzieren um danach mit schweren Geräten darüber zu fahren, in der irrigen Annahme, eine solche Einbringtechnik und ein solcher „Verschluss“ verursache keine Schäden. Das Verfüllungskonzept verletzt also elementare Regeln der Sicherheit. Wir werden im Rahmen der Diskussion um die Platzierungstechniken auch auf dieses Problem zurückkommen.
- Die Autoren des Review-Berichts von 1981 führten bereits vor 35 Jahren den schlechten Zustand der damals betriebenen radioaktiven Deponien in den Vereinigten Staaten auf einem Mangel an Weitsicht und der Missachtung von Langzeitsicherheitsfragen zurück.[10] Man kann dazu nur sagen: „lessons learned hadn’t been learned at all“ – oder in gekürzter deutscher Fassung: „Nichts gelernt aus all den Missständen“!
Der Unfall im „Waste Isolation Pilot Plant (WIPP)“ in New Mexico
Der oben kurz beschriebene Fall der Deponie von US Ecology Inc. bei Beatty wäre vermutlich nicht so aufmerksam von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien verfolgt worden, wenn sich nicht bereits im Jahr zuvor ein ähnlicher Vorfall in der Untertagedeponie für schwach- und mittelaktive Transuran haltige Abfälle „Waste Isolation Pilot Plant (WIPP)“ in New Mexico ereignet hätte. Am 14. Februar 2014, 9 Tage nach einem Brandereignis mit einem Pneulader, der bereits zu einer kurzfristigen Schliessung der Anlage geführt hatte, kam es in Lagerraum 7 des Lagerfelds 7 zu einer Explosion eines oder mehrerer Gebinde und der Freisetzung von Plutonium und anderen Transuranen.[11] Der Unfall führte zu einer sofortigen Schliessung des Endlagers für eine unbestimmte Dauer. Eine detaillierte Untersuchung des Vorfalls zeigte auf, dass es in einem konditionierten Fass mit Transuran (TRU) haltigen Nitratsalzen zu einer Reaktion und damit zur Explosion des Fasses gekommen war. Dieses Fass Nr. 68660 aus dem Los Alamos National Laboratory war zwei Wochen zuvor angeliefert und eingelagert worden. Ein Teil des Inhalt wurde bei der heftigen exothermen Reaktion in der Mischung aus organischem Material („Swheat Scoop® Absorptionsmittel und/oder Neutralisationsmittel“) und Nitratsalzen herausgeschleudert und verseuchte via Ventilation einen Teil der Anlage sowie auch in Kleinstmengen das Gelände ausserhalb. Das Bild des Fasses zeigt einen schaumähnlichen Belag, der auch bei angrenzenden Gebinden zu beobachten ist, wie Bilder des Department of Energy zeigen (siehe Figur 6).[12]

Die detaillierte Bestandaufnahme von Lagerraum 7 zeigte jedoch, dass es weitere Komplikationen und Unregelmässigkeiten gab. So konnte nachgewiesen werden, dass zumindest 17 Gebinde mit Magnesiumoxid (MgO), die im Umfeld des erwähnten Fasses standen, ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Die Gebinde bestanden ursprünglich aus versteiftem Pappkarton. Man fand einen Teil des Inhalts dieser Gebinde als aufgeschüttete Haufen von Magnesiumoxid über anderen Gebinden (siehe Figur 7). Es gab eindeutige Spuren von massiver Hitzeentwicklung.

Die Bestandesaufnahme der Einlagerungsposition der Abfallgebinde zeigt die Position der Gebinde aus der Produktionslinie LA-MIN02-V.001 des Los Alamos National Laboratory und der „super sacks“, also Übersäcke mit Magnesiumoxiden (Figur 8).

Figur 8: Position der Gebinde aus der Produktionslinie LA-MIN02-V.001 mit TRU haltigen Nitratsalzen (gelbe Kreise) und versteiften Pappkartonsäcken mit Magnesiumoxid (in rot in Mitleidenschaft gezogene Säcke, in grün nicht in Mitleidenschaft gezogene Säcke), nach Figur 2-4 des Berichtes des Department of Energy (DOE), Untersuchungsphase 2, vom April 2015 (https://energy.gov/sites/prod/files/2015/10/f27/AIB_WIPP_Rad_Event_Report_Phase_2_04.16.2015.pdf)
Die Ursachen des Unfalls wurden von dem Untersuchungsteam des DOE auf eine Serie von Fehlern und Fehlentscheidungen bei der Entwicklung des konditionierten Abfalls aus Los Alamos National Laboratory zurückgeführt, insbesondere der Entscheid, reaktive TRU haltige Nitratsalze mit organischem Material („Katzenstreu“) versetzt zu haben. Diese Hypothese war schon frühzeitig geäussert worden.[13] Die Hauptkritik aber bezog sich auf organisatorische Fragen und die Sicherheitskultur. Wir werden im Laufe des Jahres 2016 auf diese Fragen im Detail zurückkommen.
Vorerst möchten wir festhalten:
Ein reines Abfallinventar im Sinne reiner Abfallstoffe ist nicht die Regel, sondern bestenfalls die Ausnahme.
Abfälle bestehen aus Stoffgemischen, die reaktiv sein können (explosiv, brennbar usw.). Zudem sind Abfälle häufig bereits konditioniert oder enthalten Stoffe und Materialien, die nicht eigentliche Abfälle sind und Sicherheitsrisiken mit sich bringen können.
Die Problematik der Reaktivität betrifft organische aber auch anorganische Materialien (z.B. Korrosionsgase), die im Abfall selber oder in Abfallgemischen vorkommen. Eine besondere Form der Reaktivität betrifft spaltbare Materialien über den Prozess der Kritikalität.
Alles in allem zeigt sich, dass Abfälle und besonders Abfallgemische selber in bestimmten Situationen und unter besonderen Umständen auch hochgradig risikoanfällig sein können. Wir werden diesen Fragen in nächsten Beiträgen nachgehen. Der nächste Beitrag wird sich den verschiedenen Kategorien von Abfällen, ihre Eigenschaften und Mengen annehmen.
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