Eine kurze philosophisch-historische Einführung
In seinem 1979 publizierten Bestseller „Theorie des Abfalls“[1] wies der Soziologe und Mathematiker Michael Thomson auf die Vergänglichkeit von Werten im Verlauf der Zeit hin, eine Zeitlichkeit, die ja nicht nur auf Gegenstände zutrifft, sondern auch auf immaterielle Werte und Ideen. Entstehung wie auch Vergänglichkeit solcher Werte sind gesellschafts- und generationenabhängig und dementsprechend an kulturelle Präferenzen und Wünsche des Moments gebunden. Auch eines der kühnsten Grossprojekte, das die Menschheit je in Angriff genommen hat, folgt diesem Muster: die Atomtechnik mit ihren unvorstellbar langlebigen Überresten.
Wenige Ideen in der Menschheitsgeschichte strahlten oder lösten in einer bestimmten Zeit eine derartige Überzeugungskraft und Begeisterung aus wie das Atom. Der Schriftsteller Herbert George Wells hatte diesen Prozess mit seiner 1914 publizierten Vision einer Gesellschaft mit unerschöpflichen Energiequellen und mörderischen Waffensystemen angestossen, und sein Funke sprang auf die Physikergemeinde über, die ab den 1920er bis in die 1960er Jahre massgebend an der Entwicklung der militärischen wie zivilen Nuklearprogrammen beteiligt war[2]. Dass sogar die Polkappen bewohnbar würden, liess viele Menschen der Zeit in Begeisterungsstürme ausbrechen.[3] Im Lichte des Klimawandels lässt eine solche Vision unsere Zeit eher erschauern.
Ungeachtet dessen konnte die atomare Idee ihren Nimbus gerade knapp zwei Generationen aufrecht halten. Thompsons Prozess der Vergänglichkeit der Ideen und der Werte setzte ein. Der Optimismus der Gründerzeit verflog, als die Konsequenzen ihres Tuns langsam sichtbar wurden. Risiken, Gefahren und Kosten waren im Bann der Vision vergessen gegangen oder verdrängt worden. Wie alle wirklichen Probleme liessen sich das Abfallproblem und seine Folgen aber nicht auf die Dauer beiseite schieben. Das Konzept des nuklearen Kreislaufs mit seinen verschiedenen Reaktorgenerationen und der Verbrennung neu erbrüteten Brennstoffs, das den Anfang des atomaren Wegs geprägt hatte, geriet mehr und mehr in eine Abwärtsspirale, die sich nun zur Dauerkrise ausweitet. Der programmierte Weg dieses „Kreislaufs“ mit einer Laufdauer von hunderten bis tausenden von Jahren war schon nach wenigen Jahrzehnten ausgetreten. Auf dem kleinen Teilstück dieses langen Weges haben die atomnutzenden Generationen ihren Nachkommen eine Unmenge und Vielfalt von giftigen langlebigen Gegenständen und Produkten hinterlassen, die sie nicht mehr nutzen können oder wollen und die gemeinhin als radioaktive Abfälle bezeichnet werden. Sie sind die Überreste eines megalomanen Projekts, das nicht zu Ende gedacht war und nun nicht zu Ende geführt werden kann und Ausdruck für einen technischen wie gesellschaftlichen Bruch und Umbruch einer sicher geglaubten atomaren Zukunft. Diesen Abfällen einer nicht zu Ende gedachten Technologie wollen wir uns nun zuwenden.
Fünf grosse Kategorien von Abfällen
Radioaktive Abfälle sind – wenn vom Brennstoff abgesehen wird – tatsächlich auch Abfälle, denn sie sind aus heutiger Sicht nicht mehr unter wirtschaftlichen Bedingungen verwertbar. Der allergrösste Teil dieser Abfälle sind Abfallgemische, also Gebrauchtgegenstände, die mit verschiedenen radioaktiven Substanzen verunreinigt oder verseucht sind und die nur teilweise wieder entseucht und einem Recycling zugeführt werden können. Die Überreste dieser grossen Abfallvielfalt sind dann nicht mehr zu gebrauchen und werden sprachlich zu Abfällen umdeklariert. Aufgrund ihrer spezifischen Eigenschaften können Abfälle in fünf grossen Kategorien eingeteilt werden:
- vier dieser Kategorien hängen direkt mit dem Brennstoffkreislauf zusammen, wie er ursprünglich geplant war und wie er sich inzwischen entwickelt hat (Figur 1);
- eine weitere Kategorie besteht aus Abfällen aus der technologischen Entwicklungsschiene
Im Brennstoff-Kreislauf fallen vier verschiedene grosse Abfallkategorien an, je nachdem, was für Gewinnungs- und Verbrauchs-Schritte betrachtet werden. Wir betrachten in diesem Teil die ersten beiden Kategorien.

Uranminen und nachgelagerte Prozesse (yellow cake)
Dieser Abfall wird in den Abfallbilanzen der Kernenergie nutzenden Länder gerne vergessen, nicht aber in jener der IAEA[4]. Dennoch ist er eine der ganz grossen Lasten, die unseren Nachkommen an tausenden Orten weltweit überbürdet wird.
Der Uranbergbau konzentriert sich auf einige Regionen in der Welt (Figur 2): Nordamerika, Russland und die Kaukasusregion, wenige Länder im südlichen und zentralen Afrika, Australien und China[5]. In kristallinen Gesteinen einiger europäischen Länder wurden ebenfalls Uranerze abgebaut (Erzgebirge für Deutschland[6] und Tschechien, Spanien[7], Frankreich[8] usw.), doch waren diese Lagerstätten im Vergleich wenig ergiebig oder irgendwann unrentabel. Für die Abfallproblematik sind vor allem der Tagbau in offenen Minen beziehungsweise der Bergbau unter Tage und seine Abraumhalden von Bedeutung. Der Lösungsbergbau in sedimentären Gesteinen dagegen, ist, was die Abfallsituation anbelangt, weniger dramatisch, auch wenn grosse Mengen an Schwefelsäure zur Durchwaschung des Uraniums-Erzlagers in den Untergrund verpresst und dann mit seiner Fracht wieder hochgepumpt werden. WISE Uranium Project gibt einen guten Überblick über die Problematik des Uranabbaus und der Uranhalden.[9]
Die grossen Probleme der Uran-Schürfung sind die Langzeitschäden durch die liegen gelassenen Abraumhalden. Weltweit sind etwa 4200 sogenannte „hard-rock-mines“ verzeichnet, davon allein in den USA rund 3900 Standorte [10]. Inventarisiert sind rund 5’800 Halden, mit Gesamtkubaturen von gegen einer Milliarde m3.Vielfach sind – wie dies auch in vielen Ländern gut dokumentiert ist – die Halden für Bauprojekte weiterverwendet oder zur Deponierung freigegeben und damit durch die Landschaft weiter verteilt worden.[11] Hinzu kommen die Abfälle aus den Uranium-Mühlen und der Herstellung eines ersten Urankonzentrats (yellow cake)[12], deren Überreste oftmals den Halden beigemischt werden.
Die resultierende Problematik der Uranhalden und der Abfälle aus Uranium-Mühlen sowie ihrer Verteilung über eine grosse Anzahl von Anlagen wird vollkommen unterschätzt, was die Langzeitwirkung dieser liegen gelassenen Abraumdeponien betrifft.
In nationalen Abfallbilanzen wie jener der Schweiz, die über keine eigenen kommerziell abbaubaren Uranvorkommen verfügen, werden die anteilsmässigen Abfälle, die sich aus der Kapazität von Nuklearkraftwerken ergeben würde, nicht aufgeführt. Anders gesagt: das Produkt „Brennelement“ Schweiz weist keinen ökologischen Fussabdruck aus. Wäre dies der Fall, müssten anteilsmässig Millionen von Tonnen von Haldenmaterialien mit Uranium- und Thoriumresten und ihren radioaktiven Tochterprodukten umweltverträglich und auf Kosten der Schweizer Energiekonsumenten gesichert bzw. entsorgt werden.[13]

Hochaktive Abfälle aus Reaktoren und der Bombenverwertung in Reaktoren
Wir haben in unserem Beitrag vom 7. Dezember 2015 auf die enge Verbindung von zivilen und militärischen Interessen und Techniken hingewiesen. Reaktoren waren nicht nur zur Erzeugung von Energie gedacht, sondern auch zur Gewinnung von spaltbarem Material als Ausgangsbasis für die Fabrikation von Bomben. Diese untrennbare Doppelrolle ist der atomaren Technik bis heute erhalten geblieben und setzt sich letztendlich auch bei der Frage nach einer langzeitsicheren Entsorgung radioaktiven Materials fort. Denn sind abgebrannte Brennstäbe nun Abfälle oder Wertstoffe einer neu zu denkenden Generation von Reaktoren? Sind die Plutonium-Vorräte in den abgebrannten Brennelementen nun Abfälle oder vielleicht später doch noch für Bomben verwertbar (Safegurads der IAEA)? Und wie soll mit den Uranium- und Plutoniumbeständen umgegangen werden, die über Jahrzehnte im Bombenpark der Grossmächte gehortet wurden und nun im Zuge der Abrüstung zur Vernichtung ausgeschrieben sind?
Die Infragestellung der Atomwirtschaft mit ihrem Brennstoffkreislauf, die in den 1970er Jahren ihren Anfang nahm, stellt grundsätzliche Fragen zur Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennstoffe. Zudem stockte die Entwicklung der Brutgeneratoren (vierte Reaktorgeneration), für welche die Wiederaufarbeitung u.a. gedacht war. So gerieten zwei Eckpfeiler des Brennstoffkreislaufs ins Wanken, was sich wiederum im Bereich der Abfälle bemerkbar machte. Das ursprüngliche Konzept, abgebrannte Brennstäbe chemisch aufzubereiten und Uranium und Plutonium abzutrennen (PUREX-Strategie), geriet in gesellschaftlichen Misskredit. Damit entstand neben den eigentlichen hochradioaktiven Abfällen, die sich aus den Überresten des Wiederaufbereitungsprozesses zusammensetzen und die in Kokillen mit chemisch resistenten Borosilikatgläsern vergossen werden, eine neuer Typ „Abfall“: die abgebrannten Brennelemente.
Aber damit war dieser Gang durch die Geschichte nicht abgeschlossen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des kalten Kriegs warf nun neue Fragen zum Umgang mit dem Arsenal an nuklearen Sprengköpfen auf, das im Zuge der Jahrzehnte vor allem beidseits des Atlantiks aufgehäuft worden war und das in die Zehntausende ging.[14] So kamen vor allem Russland und die USA auf die logische Idee, den Bombenvorrat als Brennstoff in sogenannten Mischoxid-Brennelementen zu verarbeiten und auf diese Weise zu „vernichten“. Damit entstand wiederum eine neue hochaktive Abfallmischung, die sich deutlich von den bisher verwendeten Brennelementen und ihren Abfällen unterschied. Sie enthält höhere Mengen an Transuranen wie Plutonium und die bei diesem Prozess erbrüteten oder durch radioaktiven Zerfall entstandenen „Brüder“ und „Schwestern“. Die Definition und Umsetzung neuer gesellschaftlicher Präferenzen hatte also letztendlich drei unterschiedliche Typen von hochradioaktiven Rückständen hervorgebracht, die heute vorliegen und die weltweit im Rahmen der Endlagerplanungen berücksichtigt werden müssen.
Stofflich sehen diese Abfälle wie folgt aus: Brennelemente bestehen aus einer Anzahl Brennstäbe, die durch den Reaktortyp definiert sind und in Kästen konfiguriert werden (z.B. 8 x 8 Brennstäbe [= 64] bei Leichtwasserreaktoren und 16 x 16 Brennstäbe und Steuerungsstäben [= 256] bei Druckwasserreaktoren). Diese Brennstäbe bestehen aus dünnen Röhren aus einer speziellen Zirkonium-Legierung (z.B. Zirkalloy-4), in welche die Stift grossen Pellets aus Uranoxid eingefügt werden. Die im Reaktor eingesetzten Brennstäbe weisen nach einer durchschnittlichen Betriebszeit von rund 3 Jahren folgende Zusammensetzung auf: das eingesetzte Uran hat sich von 100% auf etwa 96% verringert. Die weiteren vier Prozente bestehen aus erbrütetem und spaltbarem Plutonium, weiteren instabile Elementen der Uranfamilie (Transurane oder Aktiniden wie Americium, Curium usw.), die weiter zerfallen, sowie sogenannten Spaltprodukten, die durch die Zertrümmerung eines Urankerns entstehen. Gewichtsmässig machen die Spaltprodukte 2-3% des ursprünglichen Brennstoffs aus. Hinzu kommen aktivierte Produkte in den Hüllen sowie den Brennelementkästen. Wir sehen also, dass sich der hochaktive Abfall aus einem Gemisch aus verschiedenen Stoffen der Periodentabelle zusammensetzt.
Die Wiederaufarbeitung trennt nun über technisch anspruchsvolle chemische Verfahren Uran und Plutonium wieder ab (PUREX). Die verbleibende Mixtur von Spaltprodukten und nicht verwertbaren Transuranen ist der eigentliche hochradioaktive Abfall, der dann in ein spezielles Glas eingeschmolzen wird.
Wird das oben abgetrennte oder aus Bomben stammende Uran und Plutonium wieder zu Brennelementen verarbeitet und in Reaktoren eingesetzt, verändert sich die Abfallzusammensetzung in dem Sinne, dass im Abbrand nun sehr viel höhere Mengen an Transuranen zu finden sind. Die Zumischung von spaltbarem Plutonium liegt bei 7 bis 8%.[15] Die anteilmässige Zusammensetzung wurde im Rahmen dieser Ausführungen nicht weiter recherchiert.
Volumenmässig wird heute von Tonnagen von 300’000 bis 400’000 t Brennelemente weltweit ausgegangen. Die IAEA nennt etwa 176’000 t für die in Betrieb befindlichen Reaktoren bis zum Jahr 2006.[16] Hinzu kommen die wiederaufbereiteten hochaktiven Abfälle (85’000 t), was zusammen 260’000 t gibt. Bei einem jährlichen Zuwachs von ca. 10’000 t wären wir also heute bei einer Grössenordnung von 350’000 t hochradioaktiver Abfälle und abgebrannter Brennelemente.
In der Schweiz rechnet die Nagra laut Inventar 2008 mit 1’135 m3 Brennelementen und 115 m3 hochaktiven Abfällen.[17]
Zusammenfassend zeigt sich bei diesen ersten beiden Abfallkategorien folgendes Bild:
- der Abbau von tausenden von Uranminen und Uranmühlen in der Welt führt zu einer sehr grossen Menge an Abbauhalden mit Kubaturen von 1 Milliarde m3, die ein langfristiges und ernsthaftes Risiko für künftige Generationen darstellen, da sie häufig ungeschützt oder schlecht geschützt in der Landschaft liegen gelassen wurden;
- hochradioaktive Abfälle sind Abfall- und Stoffgemische mit einem äusserst breiten Stoffinventar und „Sortiment“ an anderen Stoffen;
- diese Abfall- und Stoffgemische können bei den hochaktiven Abfällen in drei grosse Gruppen eingeteilt werden, die politische, gesellschaftliche und technische Entscheide und Entwicklungen widerspiegeln
- die Brennelemente enthalten Uran (Thorium) und Plutonium als wiederverwertbare Stoffe. Es ist unklar, was mit diesen Stoffen in der Zukunft geschehen soll. Diese Mischungen aus Ressourcen und Abfällen stellen eine der grössten Unsicherheiten und Herausforderungen für die Planung von Endlagern dar, was heute nicht einmal im Ansatz durchdacht ist!
Wir werden in der nächsten Woche die drei weiteren Abfall-Kategorien behandeln und mit einer Synthese dieses Teils abschliessen.
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