Vom Atomgesetz zum Entsorgungsnachweis für hoch radioaktive Abfälle
Nach der Annahme des Bundesbeschlusses zum Atomgesetz durch das Volk im Frühjahr 1979, startete die Nagra das „Projekt Gewähr“, mit Untersuchungen im tiefen kristallinen Grundgebirge der Nordostschweiz, zur Sondierung von Entsorgungsmöglichkeiten für hoch radioaktive Abfälle (HAA).
Die Wahl des kristallinen Grundgebirges war von Beginn an umstritten: bemängelt wurde von Geologen insbesondere, dass das Grundgebirge von mächtigen Sedimenten überdeckt war und daher die Erkundung des Untergrundes einen extremen Aufwand bedeutete. Es war auch zu befürchten, dass keine hinreichend robusten Erkenntnisse über die wirklichen Verhältnisse im Untergrund gewonnen werden könnten.[1] Die Untergruppe Geologie, ein Beratergremium von Hochschulprofessoren der zuständigen Bundesadministration, schloss sich dieser Ansicht an.[2] Auch die damalige Abteilung für die Sicherheit von Kernanlagen (ASK) und heutiges Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) hegte Zweifel am Kristallin. Die Sicherheitsbehörde und damit auch die oberste politische Behörde, der Bundesrat, verlangten deshalb eine Ausdehnung der Untersuchungen auf Sedimentgesteine. So entstand das Projekt Opalinuston. Die Verantwortlichen der Nagra wehrten sich noch lange und vehement gegen diesen Entscheid. Zwar wurden auf Druck der Behörden die ersten geologischen Synthesen zu möglicherweise geeigneten Sedimentenschichten im Tiefuntergrund der Schweiz erarbeitet. Aber das Sedimentprogramm kam erst in den 1990er Jahren wirklich in Fahrt, bei gleichzeitiger Zurückstellung der Option Kristallin. Nach intensiven seismischen Untersuchungen im Zürcher Weinland und einer Sondierbohrung in Benken, lieferte die Nagra im Jahr 2002 dann die Berichte zum Entsorgungsnachweis ab, der 1985 fällig gewesen wäre. Sie war dabei sehr optimistisch und enthusiastisch über ihre Resultate im Weinland und schrieb daher in ihren Schlussfolgerungen:
„Der Detaillierungsgrad, welcher dem Projekt Entsorgungsnachweis zu Grunde liegt, erfüllt die Anforderungen der heutigen Phase des Entsorgungsprogramms und ist eine gute Basis für den Nachweis der sicheren Entsorgung von BE / HAA / LMA in der Schweiz (. . .) und für die Fokussierung künftiger Arbeiten auf das Wirtgestein Opalinuston und das potenzielle Standortgebiet im Zürcher Weinland (. . . . ).“
Dieser Ausdruck des Willens die Standortsuche für ein Lager für diese gefährlichste Abfallkategorie auf abgekürztem Weg auf das Zürcher Weinland zu beschränken, kam nur gerade drei Monate nach der Ablehnung des Sondiergesuchs am Wellenberg durch das Nidwaldner Volk (siehe die Beiträge vom 16. und 19. Juni zum „Fall des Wellenberg“). Der Vertrauenskredit der Entsorgerorganisation war auf einem Tiefstand, ebenso wie jener des „Departement Leuenberger“, dem UVEK. So kann man sich sehr wohl erklären, dass der Bundesrat im Juni 2006 zwar den Entsorgungsnachweis (d.h. den Beweis der Machbarkeit eines geologischen Tiefenlagers) annahm, aber mit der Ablehnung des Antrags 2 – der direkten Auswahl des Standorts „Zürcher Weinland“ gleichzeitig signalisierte, dass keine überstürzte Entscheidungen bei der Standortwahl erwünscht waren. So musste ein Verfahren her, das nochmals breit, objektiv und transparent sowohl die Frage des Wirtgesteins, als auch jene der Standortregion angehen sollte. Mit diesem Ansinnen lancierte der Bund den Sachplan geologische Tiefenlager. Erste Ideen und Dokumente gehen auf das Jahr 2004 zurück.
Panne N° 1: Hilf Dir selbst, so hilft Dir Gott
Aber schon während der Vorbereitungsphase gab es Hinweise, dass mit gezinkten Karten gespielt wurde. An der Redaktion des Sachplans waren namentlich das Bundesamt für Energiewirtschaft (BFE) und die Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) beteiligt. Die Kommission für die Sicherheit der Kernanlagen (KSA) begutachtete Textentwürfe. Nun zeigte sich aber, dass Entwürfe zu wesentlichen Teilen des Sachplans durch die Nagra geschrieben oder redigiert worden waren. Dies führte zu einem diplomatischen Intermezzo zwischen der KSA und den anderen Bundesbehörden. Viel dürfte dies aber am Verhalten und dem Umgang dieser Behörden mit der Nagra kaum geändert haben: Diese schrieb die Spielregeln, bzw. den Ablauf des Sachplans anstelle des verantwortlichen Bundesamtes zum Teil gleich selbst. Problematisch daran ist, dass diese im Hintergrund ablaufenden Schreib-Aktionen der Nagra nie kenntlich gemacht wurden, sondern durch Pannen ans Tageslicht kamen. Ende 2007 wurde die (zu aufsässige) KSA abgeschafft, bzw. durch die kleinere und mit weniger Mitteln ausgestattete Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) ersetzt.
Am 2. April 2008 verabschiedete der Bundesrat den Konzeptteil des „Sachplan geologische Tiefenlager“, jetzt unter dem Regime des Kernenergiegesetzes vom 31. März 2003.
Der Sachplan geologische Tiefenlager
Der Sachplan sieht die Standortwahl in drei Etappen vor. Dabei stützt sich das Vorhaben auf einen Katalog von 13 Sicherheitskriterien und eine Liste mit zahlreichen zu berücksichtigenden andern Indikatoren. Drei Etappen sind geplant:
- Etappe 1: Auswahl von potenziellen Standortgebieten auf der Basis einer „weissen Karte Schweiz“
- Etappe 2: Auswahl von mindestens zwei Standorten
- Etappe 3: Standortwahl und Rahmenbewilligungsverfahren
Etappe 1: Auswahl von potenziellen Standortgebieten
Im Oktober 2008, ein halbes Jahr nach der Inkraftsetzung des Sachplans, deponierte die Nagra die Dokumentation zu den Standortgebieten für die Tiefenlager. Sechs Standortregionen wurden für ein Lager für schwach und mittel radioaktive Abfälle (SMA) vorgeschlagen:
Südranden
Zürich Nordost (Weinland)
Nördlich Lägern
Jura Ost (Bözberg)
Jura Südfuss
Wellenberg
Die Standorte Weinland, nördlich Lägern und Bözberg waren auch für ein Lager für hoch radioaktive Abfälle vorgesehen. Diese sehr allgemeinen Vorschläge schlugen wenig Wellen und alle Standorte wurden in Etappe 2 weiter gezogen.
Etappe 2: Auswahl von mindestens zwei Standorten
Die Etappe 2 war die eigentliche Neuerung gegenüber früheren Vorgehensweisen. Der Sachplan sah folgendes Programm vor:
„Die Entsorgungspflichtigen erarbeiten in dieser Etappe unter Einbezug der Standortregionen und abgestimmt auf die bautechnische Machbarkeit Vorschläge zur Anordnung und Ausgestaltung der notwendigen Oberflächeninfrastruktur, ordnen die untertägigen Teile des Lagers an und schlagen pro geologischem Standortgebiet mindestens einen Standort vor. Für die vorgeschlagenen Standorte führen die Entsorgungspflichtigen quantitative provisorische Sicherheitsanalysen durch (Anhänge I und III).“
In jeder Standortregion wurde eine Regionalkonferenz gegründet, welche die Vorschläge für Oberflächenstandorte und weitere sozio-ökonomische Fragen öffentlich debattierte. Die Arbeit der Konferenzen, welche ihre Arbeit in der zweiten Hälfte 2011 aufnahmen, wurden durch das BFE begleitet. Die unzureichenden seismischen Abklärungen wie auch die vorerst mangelnde Berücksichtigung von Gewässerschutzaspekten durch die Nagra führten zu wichtigen Verzögerungen. Viele grundlegende Aspekte, wie etwa das generelle Vorgehen von oben nach unten (von der Oberfläche zum Tiefenlager), die riskante räumliche Abkoppelung von Oberflächenstandort und Tiefenlager, das Fehlen von Sicherheitsvergleichen zu Rampen und Schächten und viele andere zentrale Fragestellungen, wurden in der Debatte nicht aufgenommen.
Panne N° 2: Das Spiel ist längst entschieden
Wessen sich die Mitglieder der Regionalkonferenzen nicht bewusst waren: Das Spiel war längst entschieden. Am 7. Oktober 2012 publizierte die Sonntagszeitung das Nagra-Arbeitspapier AN 11-711 zur Explorationsstrategie im Rahmen des Sachplans.[3] Dieses offizielle Papier zeigt, auf welche Weise die Nagra möglichst direkt zu den Standorten im Zürcher Weinland und am Bözberg kommen wollte. Das Papier wurde am 18.11.2011, also etwa gleichzeitig mit der Arbeitsaufnahme der Regionalkonferenzen vom Nagra-Verantwortlichen unterzeichnet. Während Bewohnerinnen und Bewohner in sechs Regionen um sinnvolle Entsorgungsstandorte debattierten, arbeitete in Wettingen ein Fachgremium der Nagra an einer Strategie um eben diesen Regionalkonferenzen das Gras unter den Füssen weg zu schneiden. Die Behörden zeigten sich vor der Öffentlichkeit entsetzt über das Papier (bzw. wohl eher darüber, dass es an die Öffentlichkeit gelangt war), und BFE-Direktor Steinmann versprach an einer Pressekonferenz, die Nagra würde nun an die „Kandare“ genommen; was daraus wurde, hat sicher noch jedermann in Erinnerung: am 30.Januar 2015 schlug die Nagra zwei Standorte für je ein Lager vor, nämlich den Bözberg und das Zürcher Weinland. . . . jene Standorte, die in der Aktennotiz im Jahr 2011 selektioniert worden waren.
2015: Ring geschlossen
Die obige Geschichte zeigt, dass eigentlich das Sachplanverfahren nicht als ernsthafte Anstrengung gemeint war, um die nukleare Entsorgung transparenter, ehrlicher und sicherer zu gestalten. Ansonsten hätten die Behörden das Verfahren mit eigenen Fachleuten entwickelt, der Nagra das Verfahren vorgeschrieben und die Umsetzung mit Kompetenz und Weitsicht geführt und kontrolliert. Stattdessen liessen die Behörden der Nagra die Möglichkeit, die durch den Bund aufzuerlegenden Bedingungen selbst festzulegen und sodann erst noch davon abzuweichen. So ging es letztlich nur darum, nach dem Wellenberg Debakel das Volk durch ein Prozess-„Simulakrum“ (Wikipedia: „Bild, Abbild, Spiegelbild, Traumbild, Götzenbild, Trugbild“) zu versichern. Das BFE amtete dabei vor der Öffentlichkeit als „Prozess-Führer“, das ENSI als „Fachkontrolle“. Die Fäden wurden aber woanders gezogen, nämlich bei der Atomwirtschaft, und ihren PR-Agenturen. So ging die Standortsuche von Bözberg und Zürcher Weinland aus, um ebendahin wieder zurückzukehren.
Wir haben in diesem Blog schon etliches zur Geologie der beiden Standorten geschrieben. Hier geht es daher nicht in erster Linie um fachliche und sachliche Fragen, sondern darum, wie mit einem Problem dieser Tragweite, wie es die sichere Lagerung der radioaktiven Abfälle ist, umgegangen wird. Das kostbarste Gut, das einem Prozess zur Verfügung steht, nämlich das Vertrauen, kann nur durch kompetente, verantwortungsbewusste, ehrliche und loyale (!) Institutionen getragen und umgesetzt werden kann. Einmal mehr ist das schweizerische Entsorgungsprogramm auf den alt bekannten Geleisen weiter gefahren. Trügerisches Verhalten, fachliche Inkompetenzen, politisches Kalkül etc. bestimmen den Fortgang des Prozesses. Dies ist einmal mehr schlicht und einfach unklug und kurzsichtig! Ein Entsorgungs-Projekt nach dem anderen wird in die Wand gefahren. Und so weist heute schon wieder alles darauf hin, dass der Sachplan den Weg des Wellenbergs und der vorgängig gescheiterten Projekte nehmen könnte. Eine traurige Erkenntnis, nach 40 Jahren sogenanntem „Standortsuchverfahren“.
Referenzen
Bundesamt für Energie 2008: Sachplan geologische Tiefenlager, Konzeptteil. BFE, Bern
Buser, M. 1980: Demokratie und Atomindustrie: ein Butterschaf fällt unter die Wölfe …, Smog 2, 2. Februar 1981.
Buser, M. & Wildi, W. 1981: Wege aus der Entsorgungsfalle, Schweizerische Energie-Stiftung Zürich.
Buser, M. & Wildi, W. 1984: Das Gewähr-Fiasko, Schweizerische Energie-Stiftung 1984
NAGRA 2002: Project Opalinus Clay Safety Report: Demonstration of disposal feasibility for spent fuel, vitrified high-level waste and long-lived intermediate-level waste (Entsorgungsnachweis). NTB 02-05, Wettingen.
NAGRA 2008: Vorschlag geologischer Standortgebiete für das SMA- und das HAA-Lager: Begründung der Abfallzuteilung, der Barrierensysteme und der Anforderungen an die Geologie Bericht zur Sicherheit und technischen Machbarkeit. Technischer Bericht NTB 08-05, Wettingen.
[1] Buser, M. (1980); Buser, M. & Wildi, W. (1981); Buser, M. & Wildi, W. (1984).
[2] Bundesamt für Energie (1983): Bemerkungen zum Zwischenbericht der Nagra, 24. November 1983: “Angesichts dieser Komplikationen ist die Eignung des Schweizerischen Kristallinsockels schwer in Frage zu stellen. Es ist vielleicht Zeit andere Formationen … ins Auge zu fassen ….”
[3] Einer der beiden Autoren des vorliegenden Beitrags (MB) spielte das Dokument der Presse weiter, nachdem er über mehr als 9 Monate die zuständigen Behörden vergeblich auf Missstände in der Abwicklung des Sachplanverfahrens aufmerksam gemacht hatte. Das von der Bundesanwaltschaft gegen ihn eröffnete Verfahren wegen Amtsgeheimnisverletzung wurde im Juni 2014 eingestellt, und es wurde ihm bescheinigt, korrekt gehandelt zu haben.
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