In Anbetracht der Veröffentlichung des Abschlussberichts der deutschen Endlagerkommission für hochradioaktive Abfälle [1] verschieben wir unsere Berichterstattung über die Fragen der Behältermaterialien und der Lagerauslegung um eine Woche.
1. Der Bericht der Kommission
Am 5. Juli 2016 war es endlich soweit: die Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe stellte ihren gegen 700 seitigen Bericht nach zweieinhalb jähriger intensiver Arbeit der Öffentlichkeit vor. Die Kommission, welche aus 34 Mitgliedern bestand, setzte sich aus Vertretern des Bundestags, des Bundesrats, der Wissenschaft und der Gesellschaft zusammen (S. 18). Alle wichtigen gesellschaftlichen Positionen waren in der Kommission vertreten.
Die voluminöse Schrift, welche im Auftrag des Bundestags (Gesetzgeber) erarbeitet wurde, ist unterteilt in 10 grössere Blöcke, die eine Vielzahl von Fragen in Zusammenhang mit der Entsorgung radioaktiver Abfälle thematisieren. Eingeleitet wird die Schrift durch eine Präambel, welche die Grundsätze bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle zusammenfasst, insbesondere die Grundsätze der Nachhaltigkeit, der Verantwortung und der Gerechtigkeit. Dann folgen eine umfangreiche Zusammenfassung des Berichtes sowie der Bericht selbst. Der Bericht ist in 10 Kapitel gegliedert.
Kapitel 1 fasst den Auftrag der Kommission zusammen und führt die Arbeitsweise der Kommission aus. Wir erfahren, was in den 34 Plenarsitzungen alles diskutiert wurde. Im zweiten Kapitel werden die Ausgangsbedingungen für die Kommissionsarbeit dargelegt. Hierzu erfolgt ein historischer Rückblick auf die Geschichte der Atomenergie von den frühen Zeiten des Atombombenbaus bis hin zum derzeitigen Ausstieg. Die nächsten Ausführungen widmen sich der Suche nach Endlagerstandorten und leuchten die Probleme bei der Entstehung der verschiedenen Abfälle und ihrer Zwischenlagerung aus. Hinzu kommen umfangreiche Betrachtungen zur Konfliktentstehung, der Konfliktbearbeitung, der Konfliktvermeidung und dem Konfliktmanagement als Grundlagen für Überlegungen zu partizipativen Verfahren. Im dritten Kapitel geht es um das Prinzip Verantwortung, den Fragen des Fortschritts und des langfristigen Gemeinwohls, ethischen Grundsätzen und der Zukunftsverantwortung. Die Reversibilität der Entscheide wird explizit bejaht: „Das Prinzip der Reversibilität von Entscheidungen resultiert aus zwei ethischen Argumenten. Das eine ist der Wunsch nach Möglichkeiten der Fehlerkorrektur im Falle unerwarteter Entwicklungen, das andere das generelle zukunftsethische Prinzip, zukünftigen Generationen Entscheidungsoptionen offen zu halten oder sie zu eröffnen. Es ist ein zentrales Prinzip, um im Fall von erkannten Fehlern oder anderen Entwicklungen, die einen Neuansatz nahelegen oder erfordern, umsteuern zu können. Fehlerkorrekturen oder Umsteuerungen aus anderen Gründen systematisch als Möglichkeiten vorzusehen und nicht „alles auf eine Karte zu setzen“, beugt Sorgen vor, im Falle von Havarien oder neu auftretenden Risiken diesen einfach ausgeliefert zu sein, weil es dann keine andere Option mehr gäbe. So gesehen ist dieses Prinzip verantwortungsethisch geboten.“
In den Kapitel 4 und 5 werden die Erfahrungen mit den bisherigen Endlagerprojekten in Deutschland und in den kernenergienutzenden Ländern weltweit Revue passiert. Danach werden die Entsorgungsoptionen beleuchtet: die früher betrachteten Konzept der antarktischen Endlagerung im Eis, die Weltraumentsorgung, die Entsorgung in den Ozeanen, die verschiedenen Bergwerkslösungen, dann die diversen Lagerungsmöglichkeiten an der Oberfläche, tiefe Bohrlöcher, Transmutation sowie der Stand der Rückholbarkeit und Bergbarkeit von Abfällen. Empfohlen wird schliesslich als die heute beste Option, das „Endlagerbergwerk mit Reversibilität/ Rückholbarkeit/ Bergbarkeit“ als pioritäre Option weiter zu verfolgen.
Erst dann geht der Bericht in Kapitel 6 auf das Standortsuchverfahren ein und definiert die diversen Etappen des Entsorgungspfades. Das Standortsuchverfahren, das auf den Seiten 256 bis 267 beschrieben wird, umfasst drei Etappen. Wir lesen:
- „Phase 1: Start mit der „weißen Landkarte“ Deutschlands. Ausschluss von Regionen nach Maßgabe der vereinbarten Ausschlusskriterien und Mindestanforderungen. Vergleichende Analyse auf Basis vorhandener Daten nach Maßgabe der festgelegten Abwägungskriterien und den repräsentativen vorläufigen Sicherheitsuntersuchungen bis hin zur Identifizierung einer Anzahl von möglichen Standortregionen für eine übertägige Erkundung
- Phase 2: Übertägige Erkundung der in Phase 1 identifizierten, möglicherweise geeigneten Standortregionen. Vergleichende Analyse und Abwägungen nach Maßgabe der vereinbarten Ausschlusskriterien, Mindestanforderungen und Abwägungskriterien sowie weiterentwickelter vorläufiger Sicherheitsuntersuchungen. Ergebnis ist eine Auflistung von Standorten, die untertägig untersucht werden sollen.
- Phase 3: Untertägige Erkundung der als Ergebnis der Phase 2 ausgewählten Standorte. Vertiefte Untersuchung im Hinblick auf die Anforderungen an eine sichere Endlagerung. Umfassende vorläufige Sicherheitsuntersuchungen. Abwägende Vergleiche zwischen den möglichen Standorten mit dem Ziel, den Standort mit bestmöglicher Sicherheit zu identifizieren. Diese Phase wird abgeschlossen mit der Festlegung des Endlagerstandortes durch den Deutschen Bundestag und Bundesrat.“
Im Wesentlichen werden möglicherweise geeignete Standorte mit Hilfe von bestehenden Datensätzen und provisorischen Sicherheitsanalysen festgelegt. Erst in Phase 3 sind geologische Untersuchungen an den verbleibenden Standorten geplant. Sie sollen zusammen mit weiteren Sicherheitsanalysen zur Auswahl DES Standorts führen.
Hinzuweisen bleibt, dass in Phase 2 sozioökonomische Potenzialanalysen unter Beteiligung der regionalen und überregionalen Öffentlichkeit erfolgen sollen.
Im weiteren Verlauf des Kapitels 6 des Berichtes werden dann die verschiedenen Phasen der Erschliessung des Standorts, des Baus und Betriebs, der Beobachtung und des Verschluss’s des Endlagers definiert. Es folgt ein Teilkapitel über die Prozessgestaltung als selbsthinterfragendes System. Wir lesen:
„Die Herausforderung der Endlagerung hoch radioaktiver Abfälle ist eine extrem langfristige Aufgabe, sie ist hoch sicherheitsrelevant und die Zahl der entsprechenden Fachleute aus den beteiligten Wissenschaften ist durchaus überschaubar. Von daher ist es nicht nur naheliegend, sondern verpflichtend, der Sicherstellung von selbstkritischen und über die Zeiten wach bleibenden Strukturen hohe Priorität zu geben. Die Ziele einer solchen Struktur sind:
- Fehlentwicklungen verhindern
- nicht erwartete Entwicklungen frühestmöglich erkennen
- die offene Kommunikation darüber und Prozesse zum Umgang mit diesen Entwicklungen anstoßen
- Anzeichen von institutioneller oder personeller Betriebsblindheit frühzeitig erkennen und im Keim ersticken
Die Herausforderung kann nur dadurch bewältigt werden, dass Maßnahmen und Vorkehrungen auf verschiedenen Ebenen vorgesehen werden, die gegenseitige Korrekturen und Kritik erlauben – der Gesamtprozess muss als selbsthinterfragendes System aufgebaut werden.“
Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird dann die Methodik der Sicherheitsanalyse und danach die Entscheidungskriterien vorgestellt. Wichtige Kriterien sind in der Tabelle 1 aufgeführt. Danach wird die geowissenschaftliche Datenlage und Qualität behandelt. Es folgen weitere Teilkapitel zu Anforderungen an die Dokumentation, an die Behältermaterialien und an den Stand von Wissenschaft und Technik. Zudem wird die Priorität bei der Umsetzung der diversen Endlager festgelegt. Höchste Priorität hat das Endlager für hochradioaktive Abfälle.
Kapitel 7 befasst sich mit der Öffentlichkeitsbeteiligung, ihrer Struktur, den Akteuren und Gremien und dem Ablauf der Öffentlichkeitsbeteiligungen, die sehr detailliert ausgelegt und behandelt werden.
Kapitel 8 evaluiert das Standortauswahlgesetz aus diversen Perspektiven, z.B. der Organisationsstruktur, bezüglich des Rechtsschutzes, des Exportverbots oder dem Zugang zur Information usw. Kapitel 9 geht noch einmal auf wenigen Seiten der Frage der Technikentwicklung nach. Der Bericht schliesst mit Kapitel 10 und Sondervoten einzelner Mitglieder der Kommission.
2. Würdigung des Berichtes aus Sicht der Verfasser dieses Blogs
Der Bericht als Ganzes ist als Kompromissvorschlag einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft zu verstehen, bei der die Frage nach der Nutzung der Atomenergie immer noch im Hintergrund, dort aber im Vordergrund steht. Ein Bekenntnis zum definitiven Ausstieg aus der Atomenergie war und konnte auch nicht die Aufgabe der Kommission sein. Aber solange eine Gesellschaft immer noch um einen Grundsatzentscheid zu einer total umstrittenen Technologie kämpft, ist nicht mit visionären Lösungsentwürfen für die nukleare Entsorgung zu rechnen.
Und genau dies spiegelt der Bericht auch in seiner Gesamtheit wieder: ein vorsichtiges sich Herantasten an einen Prozess der Standortsuche, eine Slalomfahrt, was wesentliche Entscheide oder Vorentscheide bei der Standortsuche betrifft und generell wenig bis sehr wenig „Fleisch am Knochen“, wie der Standortauswahlprozess konkret aussehen und Tiefenlager für die diversen radioaktiven Abfälle errichtet werden sollen. Ein Detail spricht in diesem Zusammenhang für sich: wenn sich die im Berichtstitel erwähnte „Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ im Bericht zu schwach- und mittelaktiven Abfällen, Abfällen aus der Urananreicherung oder Abfälle aus Forschung und Landessammelstellen… äussert, ist dies kein Qualitätssiegel für die Qualitätssicherung des Berichtes beziehungsweise den Reviewprozess. Und schon gar nicht für den Auftrag. Fünf wichtige Haken oder Schwachstellen des Berichtes seien im folgenden kurz ausgeführt:
- Wie bereits erwähnt ist der Auftrag nicht klar: für welche Abfälle ist dieser Bericht tatsächlich gedacht? Sehr deutlich kommt dies bei den Ausführungen zum Standortsuchverfahren zum Ausdruck, die keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Typen von hochradioaktiven und den sehr variablen anderen Abfalltypen machen. Fragen zu den Reaktivitäten der diversen Abfälle im Gesteinsverbund und den daraus zu ziehenden Konsequenzen für die Konditionierung der Abfälle und dem Suchverfahren selber werden nicht aufgeworfen.
- Das Suchverfahren selber darf als äusserst mager und minimalistisch bezeichnet werden (9 Seiten von gegen 700 Berichtsseiten). Es geht kaum über das hinaus, was bereits im Schweizer Suchverfahren bekannt ist: Die Illusion, von einer weissen Karte Deutschlands in zwei weiteren Riesenschritten zu einem Endlagerstandort zu finden. Einmal mehr werden Sicherheitsanalysen zum Massstab der Standortsuche bestimmt, statt in erster Linie auf die konkrete Erkundung von Standorten mit Hilfe von Untersuchungsprogrammen zu setzen, etwa seismische Untersuchungen, Bohrprogramme, mikroseismische Netze, regionale Hydrogeologie usw. Dass auf diesem Wege ein geeigneter Standort gefunden werden kann, ist zu bezweifeln. Das Standortsuchverfahren, das sich weitgehend an das schweizerische Modell des Sachplans geologische Tiefenlager anlehnt, ist als Minimalvariante eines Standortsuchprozesses anzusehen, der weit hinter den Vorstellungen der Suchverfahren geologischer Tiefenlager der 1970er oder 1980er Jahre zurückbleibt (siehe Abbildung 1 aus DOE [1979]: Management of commercially generated radioactive waste, Vol. 1 & 2, Department of Energy, Washington, DOE/EIS-0046-D).
- Eine besonders auffällige Schwachstelle ist die rasche Festlegung auf das heutige Konzept der Endlagerung in Bergwerken, die ohne weitere Analysen zu den möglichen Konfigurationen bei der Lagerauslegung erfolgt. Das Lagermodell folgt den bekannten KBS-Modellen der 1970er/1980er Jahre und wurde nicht weiterentwickelt. Varianten für die Lagerauslegung wurden nicht angedacht. Eine Analyse der Fehlschläge bei bisherigen Projekten der Tiefenlagerung zeigt aber, dass die Sicherheit des Bauwerks essentiell von dessen Konzeption abhängt. Es sei auf die Studie eines der Blog-Autoren verwiesen, die im Auftrag von Greenpeace Deutschland erstellt wurde.[2]
- Der Bericht zeigt nicht auf, wie das erforderliche und fehlende Wissen bei der Standortsuche beschafft werden kann. Seit Jahrzehnten weisen die Autoren dieses Blogs auf den diesbezüglich vorbildlichen Entwurf eines Berichtes des amerikanischen Energiedepartements und des geologischen Landesdienstes (USGS) hin, wie eine umfassende Forschungs- und Entwicklungsplanung erfolgen sollte. Der „Earth Science Technical Plan for Mined Geologic Disposal of Radioactive Waste“ aus dem Jahr 1979 zeigte auf, welche Methodik bei der Ermittlung der Wissensdefizite angewendet werden sollte und wie diese Wissensdefizite mit Hilfe von spezifischen Untersuchungsprogrammen ausgeräumt werden können.
- Die Fehlerkultur wird im Bericht aufgeführt und die Grundsätze der Korrektur im Prozess bejaht. Dennoch bleiben diese Ausführungen vage und schliessen nicht die Erfahrungen mit ein, die bei der Behandlung eines solchen Themas erforderlich wären: das umfangreiche Schriftentum zur Sicherheitskultur der Internationalen Atomenergieagentur, teils auch der Atomenergieagentur NEA der OECD bzw. der Erfahrungen in Risikobereichen ausserhalb der Kernenergie (z.B. Flugzeugindustrie, Umgang mit gefährlichen Organismen). Es fehlt auch die entsprechende Struktur zur Qualitätssicherung der Sicherheitskultur. Ohne die Installierung einer Institution mit entsprechenden ausgestatteten Ressourcen und Befugnissen ist zu befürchten, dass sich die bisherigen Erfahrungen bei Standortsuche und schlecht durchdachten und umgesetzten Projekten wiederholen.
Der Bericht der Endlagerkommission, der am 5. Juli der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, hat bereits hohe Wellen geworfen. Zum einen, weil einige Mitglieder der Kommission den Bericht nicht oder nur teilweise mittragen, so etwa der Vertreter des BUND oder der „Linken“. Zum anderen, weil bereits zwei Länder (Bayern, Sachsen) zum Bericht auf Distanz gegangen sind. Die Reaktionen auf die Veröffentlichung des Berichtes zeigen dasselbe Bild, das bereits vor der Einsetzung der Kommission in Deutschland Realität war: eine tief gespaltene Gesellschaft, die keine Einigkeit im Umgang mit diesen gefährlichen Abfällen finden kann.
Wie war doch die Reaktion der schweizerischen Institutionen und Öffentlichkeit auf die Veröffentlichung der Konzeptionen der Kommission „Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle“ (EKRA) doch unterschiedlich. Die gesamte schweizerische Gesellschaft – Wissenschaft, Politik, Opposition, Öffentlichkeit – begrüsste 2000 und 2002 die Ergebnisse der beiden Berichte der kleinen, mit 7 Wissenschaftlern bestückten Kommission. Man kann sich fragen, warum dieses Konzept eine derart breite und solide Anerkennung fand. Die Antwort ist: die Konzepte wurden ohne irgendwelchen politischen Druck und ohne Rücksicht auf partikuläre Interessen von unabhängig denkenden Wissenschaftlern entwickelt, die allen relevanten Entscheidungsgruppen klar machten, dass nur eine den Prinzipien der Sicherheit und Unabhängigkeit verpflichteten Konzeption in die Lage versetzen würde, die Akzeptanz für die Umsetzung eines Entsorgungsprogramms sicherzustellen. Diese einmalige Chance hat die Endlagerkommission in Deutschland leider verpasst.
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