Titelbild: Nebel über dem See
10 Jahre nach Fukushima
Umschau
(Siehe zu diesem Thema auch das Webinar:
https://ccnr.org/GE_Webinar_transcript_2020_rev.pdf
In der Geschichte der zivilen Nutzung der Kernenergie markierte jedes der drei grossen Reaktorunglücke (Three Mile Island 1979, Tchernobyl 1986 und Fukushima 2011) einen gesellschaftlichen Schock, führte zur Hinterfragung der nuklearen Sicherheit und der Anpassung der Sicherheitsnormen an die Erfahrungen aus dem Unglück. Fukushima führte ausserdem in mehreren Ländern zu politischen Entscheiden die über die Verschärfung der Sicherheitsmassnahmen hinaus gehen, nämlich zur kurz- bis mittelfristigen Abwendung von der Kernenergie. Heute, kurz vor dem 10. Jahrestag von Fukushima, versuchen wir einen kurzen Rundblick auf den heutigen Stand und die Zukunftsvisionen der zivilen Nutzung der Kernkraft. Detailliertere Informationen hierzu finden sich namentlich im jährlich erscheinenden «Status Report» der «World Nuclear Industry» (letzte Ausgabe 2019: M. Schneider et al. 2020), sowie auf der Informationsplattform der World Nuclear Organisation (https://www.world-nuclear.org/). Strategiepapiere sind auf den Websites der verschiedenen Landesregierungen publiziert.
31 Länder betrieben im Juli 2019 insgesamt 417 Kernreaktoren, d.h. 21 weniger als im Rekordjahr 1989. Der nukleare Anteil an der weltweiten Elektrizitätsproduktion betrug im Jahr 2018 10.15%, gegenüber 17.5 % im Jahr 1996 (Allzeitmaximum, ähnlich wie 2011 vor dem Unglück in Fukushima). Die Produktionszahlen brachen nach der Katastrophe von Fukushima ein, stiegen seither aber wieder etwas an, namentlich aufgrund der Zuschaltung der neu gebauten chinesischen und russischen Kernkraftwerke. Weltweit stehen heute gemäss Statusreport in 16 Ländern 46 Kernkraftwerke im Bau, davon 10 in China und 7 in Indien. Das älteste der auf der Liste aufgeführten Bauprojekte startete in der Slowakei im Jahr 1985. Nur wenige Länder verfügen allerdings über eine eigene nukleare Industrie, welche Kernkraftwerke planen, mit eigenen Reaktoren bestückt bauen und betreiben (Zahlen 2019):
- China ist führend: 47 laufende Reaktoren Ende 2019, wovon 37 im Verlauf der letzten 10 Jahre ans Netz gingen und 10 weitere Kernkraftwerke im Bau.
- Es folgt Russland mit 39 laufenden Kernkraftwerke, wovon 10 neue Kernkraftwerke seit 2010 ans Netz gingen; 5 Werke sind aktuell im Bau.
- Auch Südkorea verfügt über die eigene Reaktorlinie mit dem OPR-1000 und dem APR-1400, welcher auch als Exportmodell gilt. Ein mit vier APR-1400 Reaktoren bestücktes Kernkraftwerk ging eben in den Vereinigten Arabischen Emiraten ans Netz. 4 Reaktoren sind aktuell in Südkorea im Bau.
- Frankreich baut im eigenen Land einen EPR (Flamanville), sowie weitere Reaktoren in Finland (Olkiluoto) und England (Hinkley Point).
- Auch Kanada hat noch immer die Kapazität zum Bau von Candu Schwerwasserreaktoren. Der indische PHWR-700 Reaktor ist dem CANDU Reaktor vergleichbar. Indien baut derzeit 7 neue Reaktoren, darunter auch zwei Reaktoren russischer Bauart.
Andere Länder kaufen Reaktoren mehr oder weniger «ab Stange».
Im geographischen Europa betreiben folgende Länder heute noch Kernkraftwerke: Belgien, Bulgarien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Schweiz, Spanien, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Ungarn und die Niederlande. Die folgenden Europäischen Länder verfolgen eine kurz- oder mittelfristige Ausstiegspolitik: Deutschland, Schweiz, Belgien, Spanien. Italien, Österreich und Irland traten dem Verein der Betreiberländer bewusst nicht bei. Polen und Litauen haben neu Projekte für Kernkraftwerke.
Interessant ist selbstverständlich die Geschichte Japans. Bis zur Katastrophe von Fukushima vom 11. März 2011 betrieb das Land 54 kommerzielle Kernreaktoren. Bei der Katastrophe wurden drei Reaktoren durch Kernschmelze zerstört. Die meisten andern Reaktoren wurden darauf provisorisch abgestellt. Seither versucht die Regierung mit wechselhaftem Glück, diese Anlagen wieder hochzufahren. Heute dürften acht Reaktoren wieder am Netz sein.
Nuklearstrategien
Bei der Betrachtung der offiziell deklarierten nationalen Strategien fällt die Diskrepanz zwischen den offiziellen Erklärungen und der Realität auf.
Hier das (extreme) Beispiel der USA:
In den USA werden derzeit 96 kommerzielle Reaktoren betrieben, welche zwischen 1971 und 1989, also in einer Zeitspanne von 18 Jahren ans Netz gingen. Seit dem Hochschalten des letzten Reaktors gingen somit 31 Jahre ins Land. Seit 2013 werden in Vogtle zwei neue Reaktoren des Typs Westinghouse AP 1000 gebaut (Reaktor der sogenannten 3. Generation). Ihre Inbetriebnahme ist für 2021 und 2022 geplant, aber noch unsicher. In seinem Strategiepapier «Restoring America’s Competitive Nuclear Energy Advantage» schreibt nun das Department of Energy (DOE, ohne Datum, unsere Übersetzung eines Auszugs):
«Erstens wird die US-Regierung mutige Maßnahmen ergreifen, um die Uranbergbauindustrie wiederzubeleben und zu stärken, die Uranproduktion generell zu unterstützen, die Abhängigkeit von ausländischen Urananreicherungskapazitäten zu beenden und die derzeitigen Anlagen aufrechtzuerhalten, strategische Schwachstellen im gesamten Kernbrennstoffkreislauf zu beseitigen und eine erstklassige Belegschaft wiederherzustellen, damit die USA davon profitieren und auf dem internationalen Markt konkurrieren können.
Als nächstes wird die US-Regierung die amerikanische technologische Innovation und die Investitionen in fortgeschrittene nukleare Forschung, Entwicklung und Demonstration (RD&D) nutzen, um den technischen Fortschritt zu beschleunigen und die amerikanische Führungsposition im Bereich der Kernenergie zurückzugewinnen.
Und schließlich wird die US-Regierung auf Märkte vorstoßen, die derzeit von russischen und chinesischen staatseigenen Unternehmen beherrscht werden, und unsere Position als weltweit führender Exporteur von Spitzentechnologie im Bereich der Kernenergie und damit von strengen Nichtverbreitungsstandards wiedererlangen. Wir werden die nukleare Glaubwürdigkeit Amerikas wiederherstellen und das amerikanische Engagement demonstrieren, auf umkämpften Märkten zu konkurrieren und Amerika als den verantwortungsbewussten Kernenergiepartner der Wahl neu zu positionieren.»
Und unser Kommentar: Die Realität ist eine strenge Braut. Ob es um die Stahlindustrie, die Modernisierung der Automobilindustrie oder die Wiedererweckung der auf dem Uranzyklus basierenden Nuklearindustrie geht: Der aktuellen US-Administration geht jeglicher Sinn für die Realitäten ab. Typischerweise ist im besagten Strategiepapier eine der wichtigeren geplanten Entwicklungslinie jene der Kleinen und Mittleren Reaktoren (SMR’s, siehe unten).
Frankreich: Interessant ist auch der Fall Frankreichs, dem Land dessen Elektrizitätsproduktion (seit dem Abschalten von Fessenheim) zu 75% von seinen Kernkraftwerken abhängt. In unserem Blogbeitrag vom 21. Juli 2020 zum 19 Milliarden teuren EPR von Flamanville haben wir bereits auf die Schwierigkeiten hingewiesen, den Kraftwerkpark von heute 56 Kernkraftwerken weiter aufrecht zu erhalten und zu erneuern. Die Frage wird in Frankreich heute allmählich etwas umfassender und ehrlicher als früher diskutiert. Der Bericht «Stratégie française pour l’énergie et le climat, programmation pluriannuelle de l’énergie, 2019-2023, 2024 – 2028» gibt diesbezüglich interessante Hinweise. Hier einige Auszüge (Übersetzung durch die Blogautoren):
S. 3: «Der Anteil der Kernenergie wird schrittweise verringert, um unsere Stromerzeugungsquellen zu diversifizieren . . . Die Verringerung des Verbrauchs und der Übergang zu nachhaltigeren Energien wird die Luftqualität verbessern und ganz allgemein die Auswirkungen des Energiesektors auf Umwelt und Gesundheit verringern. Sie ist aber auch von wirtschaftlichem Interesse, indem sie unsere Abhängigkeit von Importen und damit vom Weltmarktpreis für fossile Brennstoffe verringert.». . .
S. 5: «Nukleare Stromproduktionskapazität: 4 bis 6 Kernreaktoren sollen bis 2028 abgeschaltet werden, darunter die in Fessenheim. Schließung von 14 Kernreaktoren bis 2035, wenn ein 50%iger Anteil der Kernenergie am Strommix erreicht ist.». . .
S. 28, 29: «Über diese erste Phase hinaus verfolgt die Regierung das Ziel, den Strommix zu diversifizieren, um eine 50%ige Atomstromerzeugung zu erreichen. Mit dieser Diversifizierungspolitik wird auf verschiedene Herausforderungen reagiert: Ein stärker diversifiziertes Elektrizitätssystem kann, wenn es gelingt, die Integration eines größeren Volumens variabler erneuerbarer Energien zu bewerkstelligen, ein Elektrizitätssystem sein, das widerstandsfähiger gegen externe Schocks ist, wie z.B. einen Rückgang der Produktionskapazität von Reaktoren nach einem Zwischenfall oder einem allgemeinen Fehler, der zur Nichtverfügbarkeit mehrerer Reaktoren führen würde; der größte Teil der Kernkraftflotte wurde in einem kurzen Zeitraum von etwa 15 Jahren aufgebaut. Es ist daher wünschenswert, die Abschaltung bestimmter Reaktoren der bestehenden Flotte vorwegzunehmen, um etwa einen „Klippen“-Effekt zu vermeiden, der weder in Bezug auf die sozialen Auswirkungen noch für das Produktionssystem nachhaltig wäre. Diese Vorausschau ist auch notwendig, um Investitionen in neue Stromerzeugungskapazitäten zu verteilen . . . Das Ziel, bis 2025 einen Anteil von 50 % Kernkraft an der Stromerzeugung zu erreichen, scheint unmöglich zu sein, es sei denn, wir riskieren eine Unterbrechung der Stromversorgung Frankreichs, oder die Wiederaufnahme des Baus fossil befeuerter Kraftwerke, was unseren Klimaschutzzielen zuwiderlaufen würde. Die Regierung hat sich daher das Ziel gesetzt, den Anteil der Kernenergie am Strommix bis 2035 auf 50% zu erhöhen. Dies steht im Einklang mit unseren Klimaverpflichtungen . . .
„Um das Ziel von 50 Prozent der Stromproduktion bis 2035 zu erreichen, legt die Regierung daher die folgenden Richtlinien fest:
- 14 Kernreaktoren werden bis 2035 abgeschaltet, darunter die Reaktoren im Kraftwerk Fessenheim;
- EDF hat der Regierung vorgeschlagen, die Abschaltung von Reaktorpaaren an den Standorten Blayais, Bugey, Chinon, Cruas, Dampierre, Gravelines und Tricastin zu untersuchen. Bevorzugt werden Abschaltungen von Reaktoren, die nicht zur Abschaltung irgendeines Standorts führen; das allgemeine Prinzip ist die Abschaltung der 12 Reaktoren (mit Ausnahme von Fessenheim) spätestens am Ende ihres fünften 10-jährlichen Besuchs.
- . . . . 2 Reaktoren könnten auch in den nächsten fünf Jahren, in den Jahren 2025-2026, unter den folgenden kumulativen Bedingungen abgeschaltet werden . . . .
Darüber hinaus wird die Strategie der Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen während der Laufzeit der Planung und darüber hinaus bis in die 2040er Jahre beibehalten, wenn ein großer Teil der Anlagen in La Hague das Ende ihrer Lebensdauer erreicht haben wird. Zu diesem Zweck und als Ausgleich für die Abschaltung von 900-MW-Mox-Reaktoren wird eine ausreichende Anzahl von 1300-MW-Reaktoren «gemoxt», um die Nachhaltigkeit der französischen Kreislaufwirtschaft zu gewährleisten.»
Und schlussendlich zum Bau neuer Reaktoren und Kernkraftwerke:
S. 31: «Um eine Entscheidung über die mögliche Einleitung eines Programms für den Bau neuer Reaktoren zu ermöglichen, wird die Regierung bis Mitte 2021 ein umfassendes Arbeitsprogramm mit der Industrie durchführen, das folgende Punkte umfasst:
- Die Demonstration zusammen mit der französischen Industrie, dass sie in der Lage ist, ein industrielles Programm neuer Reaktoren zu meistern, das auf einer Arbeitshypothese von drei EPR-Paaren basiert, durch die Formalisierung eines konsolidierten wirtschaftlichen und sicherheitstechnischen Feedbacks bei der Inbetriebnahme der ersten EPR, insbesondere Flamanville 3, und der Phase der technischen und industriellen Mobilisierung von Hinkley Point C, sowie durch ein Programm zur Risikoreduktion des von EDF vorgeschlagenen neuen Modells des EPR2-Reaktors;
- Die Bewertung der voraussichtlichen Kosten des von EDF vorgeschlagenen neuen Reaktormodells EPR2 und der technische und wirtschaftliche Vergleich der Kernenergie mit anderen kohlenstoffarmen Stromerzeugungsmethoden unter Berücksichtigung aller direkten und indirekten Kosten (Netzausbau, Vollkosten der Lagerung, Entsorgung nuklearer Abfälle usw.).
- Die Analyse der möglichen Optionen für die Durchführung und Finanzierung eines Programms neuer Reaktoren für das französische Elektrizitätssystem, einschließlich der Frage des Modells für die wirtschaftliche Regulierung dieser neuen Reaktoren; die für die Validierung des Programms erforderlichen Maßnahmen; die Analyse der Optionen für die Finanzierung eines Programms neuer Reaktoren für das französische Elektrizitätssystem, einschließlich der Frage des Modells für die wirtschaftliche Regulierung dieser neuen Reaktoren; die für die Validierung des Programms neuer Reaktoren für das französische Elektrizitätssystem erforderlichen Maßnahmen.
. . . .
Außerdem erscheint es notwendig, bis zur nächsten Planungsperiode regelmäßig die alternativen Optionen zur Gewährleistung eines kohlenstofffreien Strommixes mit den erforderlichen Garantien für die Versorgungssicherheit zu prüfen. Im Hinblick auf alternative Optionen wird der Staat in die Forschung über Batterien, Wasserstoffspeicherung (als Teil des Wasserstoffplans), Power-to-Gas und Nachfragemanagement betrachten, um das französische Know-how und die industrielle Kompetenz auf diesem Gebiet zu nutzen und die Kosten zu senken.»
Unser Kommentar: Die Französische Regierung ringt nun schon seit Jahren um die Frage des langfristigen Anteils der Kernenergie an der Stromerzeugung und um den entsprechenden Kalender. Allmählich werden nun die Vorschläge konkreter. Viele Punkte bleiben allerdings offen, wie etwa die materielle Möglichkeit ein Bauprogramm für 3 EPR-Paare wirklich zu realisieren. In jedem Falle wird Frankreich mit seiner Nuklear-Strategie aber in Europa je länger desto mehr alleine dastehen.
SMR’s («Small Modular Reactors», Kleine und Mittlere Reaktoren)
Gemäss Definition der IAEA werden Reaktoren mit einer Leistung von weniger als 300 MWE Leistung als Kleinreaktoren und solche mit Leistungen von 300 bis 700 MWE als Mittlere Reaktoren bezeichnet. Die Idee des Baus und Betriebs von SMR’s ist so alt wie die Nutzung der Kernenergie. Kleine Reaktoren wurden nach dem Zweiten Weltkrieg durch die USA für den Betrieb von U-Booten und Kreuzern gebaut. Die UDSSR und Frankreich folgten bald nach. Die Britische Navy rüstete ihre Flotte nach dem zweiten Weltkrieg mit amerikanischen Kleinreaktoren aus.
Auch zivile Anwendungen wurden seit langer Zeit diskutiert. Indien etwa plante bereits in den 1990-er Jahren den AHWR-Reaktor, einen kleinen Schwerwasserreaktor. Zu einer eigentlichen «Mode» wurde die Idee der SMR-Reaktoren sodann ab etwa 2011. Im «Status Report 2019» der «World Nuclear Industry» werden die Programme folgender Länder erwähnt: Argentinien, Kanada, China, Indien, Russland, Süd-Korea, Grossbritannien, USA. Die Schlussfolgerungen sind allerdings nicht ausgesprochen ermutigend (S. 209, Übersetzung durch die Blogautoren):
„Obwohl die politischen Entscheidungsträger in vielen Ländern nach wie vor an SMRs interessiert sind, hat sich gezeigt, dass sie wirtschaftlich noch weniger wettbewerbsfähig sein werden als die großen Kernkraftwerke, die selbst immer weniger wettbewerbsfähig sind. Selbst wenn also im nächsten Jahrzehnt oder darüber hinaus einige wenige SMR-Projekte gebaut werden könnten, bezeichnenderweise als Ergebnis einer massiven Unterstützung durch eine oder mehrere Regierungen, ist es unwahrscheinlich, dass SMRs im zukünftigen Elektrizitätssektor auch nur irgendeine bedeutende Rolle spielen könnten“.
Träumer lassen sich allerdings auch durch diese Evidenzen nicht entmutigen (siehe Kästchen).
Quintessenz
Die zivile Nutzung der Kernenergie war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Industriezweig, welcher vor allem durch die westlichen Industrieländer, allen voran die USA betrieben wurde. Heute ist der Westen (ev. mit Ausnahme von Frankreich?) weg vom Fenster und treibt zumindest mittelfristig einer weitgehenden zivilen Ent-Nuklearisierung entgegen. Kernenergie kann weder den Bedarf an Elektrizität decken, noch das CO2 – Problem lösen (siehe auch: https://hans-josef-fell.de/atomrenaissance-weltweit-keine-chance-trotz-aller-propaganda/). Bei der Durchsicht des «Status-Reports» fällt auf, wie wenig Gewicht neuen Reaktorentwicklungen und der Entwicklung neuer Brennstoffe gegeben wird. Die Tendenz geht heute eindeutig in Richtung dezentralisierter und nachhaltiger Produktionssysteme für Elektrizität, vorausgesetzt, dass die Frage der Lagerung der Energie zufriedenstellend gelöst werden kann. Selbstverständlich kann man eine dereinstige Trendwende nicht ausschliessen, welches dann auch immer die Beweggründe sein werden (incl. Militärische Argumente). Und es bleibt, einmal mehr, die Frage der Entsorgung der Abfälle.
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Kästchen: zwei deutsche Wissenschaftler planen den Ausstieg aus dem Ausstieg In Kernenergie-Ausstiegsland Deutschland sorgte im Juli 2020 ein Artikel des ehemaligen Jülicher Physikers Rainer Moormann und der Osteuropa- und Technik-Historikerin und „Industrie-Anthropologin“ Anna Veronika Wendland in der angesehenen „Zeit“ für kurzzeitiges Aufsehen (Die Zeit, „Stoppt den Atomausstieg“, 15. Juli 2020). Die beiden Kernenergie-Befürworter erklären ihr Anliegen „vom Ausstieg aus dem Ausstieg“ auch in einem Interview von #SaveGER6 (https://www.youtube.com/watch?v=3XNQQJdAVnY). Die Argumentation lässt sich in 3 Punkten fassen: · es gibt für bestimmte Probleme bei der Erzeugung der volatilen erneuerbaren solaren und äolischen Energien noch keine Lösung, z.B. für die Langzeit-Speicherproblematik, insbesondere für die kalten Dunkelflauten im Winter · die entsprechenden Ersatz-Techniken (Power-to-gas erzeugte Methan/Wasserstoff-Technologie) stünden erst am Anfang und ein Ersatz der Kohlekraftwerke durch konventionelle Gaskraftwerke sei keine Alternative; · die Material- und Energieintensität des nicht zu Ende gedachten erneuerbaren-Systems laufe auf eine Materialschlacht heraus, die ökologischen Anforderungen nicht entspräche und die Frage aufwerfe, ob ein solches System überhaupt ökonomisch machbar sei. Als Lösung aus dem Dilemma propagieren die beiden Autoren einen Kurswechsel durch einen Weiterbetrieb der sechs noch laufenden Atomreaktoren über eine Zeitdauer von rund 10 Jahren – und dies in Staatsregie ab Dezember 2022. Wenn die Energiewende nicht gelänge, so müsste man danach – so Moormann – über CO2-freie Alternativen nachdenken, und da kämen nur Reaktoren der III-Generation und small– oder medium-size Reaktoren (IV Generation) in Frage. Die Fusion sei vielleicht dann am Horizont sichtbar. Die Autoren schliessen mit dem Appel, die ideologisch geprägten Fehlsteuerungen der Politik zu korrigieren und wissenschaftsbasierte Entscheidungen in der Zukunft zu treffen. Die Argumentation von Moormann und Wendland scheint wirklich aus einer anderen Zeit, als das Träumen über die nuklearen Potentiale noch gesellschaftlich in Mode war und die zerstörerischen Effekte dieser Technik nicht einmal thematisiert worden waren. Die jahrzehntelangen nuklearen Material-, Zerstörungs- und Vergiftungsschlachten – bis 80’000 Atomsprengköpfe, die rund 500 oberirdisch gezündeten Kernwaffentests, atomar verstrahlte Regionen, Gewässer, Landstriche und Menschen weltweit, katastrophale Hinterlassenschaften mit Uraniummüllhalden und einem bislang ungelösten Atommüllproblem über geologische Zeiträume – hätten in einem solchen Kontext zumindest Erwähnung verdient. Dass die beiden Autoren den seit 70 Jahren illusorischen Horizont „Fusion“ und die wirtschaftlich ruinösen neuen KKW-Generationen als Alternative der Zukunft propagieren, mutet besonders naiv an, vor allem wenn bedacht wird, was für ökologische und wirtschaftliche Folgeprobleme uns die bisher von militärischen Interessen gesteuerte „first nuclear aera“1 hinterlässt. 1 siehe Alvin Weinberg:The First Nuclear Era, The Life and Times of a Technological Fixer, AIP Press 1997 |
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Referenzen
DOE, Department of Energy: «Restoring America’s Competitive Nuclear Energy Advantage».
https://www.energy.gov/downloads/restoring-americas-competitive-nuclear-energy-advantage.
Hans-Josef Fell: Atomrenaissance? Weltweit keine Chance, trotz aller Propaganda! https://hans-josef-fell.de/atomrenaissance-weltweit-keine-chance-trotz-aller-propaganda/ .
HM Government: Long-term Nuclear Energy Strategy https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/168047/bis-13-630-long-term-nuclear-energy-strategy.pdf
Ministère de la transition écologique et solidaire: Stratégie française pour l’énergie et le climat, programmation pluriannuelle de lénergie, 2019-2023, 2024 – 2028, synthèse. https://www.ecologique-solidaire.gouv.fr/sites/default/files/20200422%20Synthe%CC%80se%20de%20la%20PPE.pdf
Schneider, M. et al. (2020): The World Nuclear Industry, Status Report 2019. Schneider Consulting, Budapest, Paris, 323 S. https://www.worldnuclearreport.org/-World-Nuclear-Industry-Status-Report-2019-.htm
World Nuclear Organisation: https://www.world-nuclear.org/
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