Der Abtrag der geologischen Deck- und Schutzschichten über einem geologischen Tiefenlager für radioaktive Abfälle ist einer der bedeutenden Risikofaktoren für Entsorgungsanlagen in der Schweiz. Bei der Risikoanalyse für derartige Ereignisse die sich in der Zukunft zutragen könnten, vergleicht man mit der Gletschererosion während früheren Eiszeiten. Dabei stösst man allerdings an die in der Geologie oft angetroffene Schwierigkeit, dass über fehlende Schichten und Gesteinsvolumen nicht viel Sicheres ausgesagt werden kann. Diese Schwierigkeit besteht auch für die durch die Nagra vorgeschlagenen Lagerstandorte in der Nord- und Ostschweiz. Im ehemals durch den Rhonegletscher bedeckten Gebiet der Westschweiz gibt es wissenschaftliche Informationen, die einen Hinweis auf die Grössenordnung der Gletschererosion geben können. Diese sollen hier kurz dargestellt werden.
Einen erster Hinweis auf die Wichtigkeit der Tiefenerosion durch den Rhonegletscher findet man im weiten Genferseebecken, etwa zwischen Palézieux und Lausanne. Oberhalb Palézieux, nahe dem Dorf Ecoteaux, erforschte in den 1990-er Jahren ein Team von Geologen und eine Paleobotanikerin[1] alte Seesedimente. Als erstes fanden sie ein ehemaliges Seedelta (Abbildung 1), welches auf einen Seespiegel auf 800 m Höhe hinweist. Von diesem Delta aus blickt man gegen Westen über den Genfersee hinweg und gegen Norden entdeckt man den Faltenjura. Etwas unterhalb des Dorfes stehen in einem kleinen Tal die fein geschichteten sandigen Sedimente aus dem zugehörigen Seebecken an (Abbildung 2). Sie sind einer kompakten Grundmoräne eines alten Vorstosses des Rhonegletschers überlagert, welche ihrerseits über einem noch älteren Seesediment und einer ersten Grundmoräne gleich über dem Molassefels liegt. Der Molassefels liegt auf einer Höhe von 700 m.
Bis heute sind dies die ältesten Zeugen der Existenz eines Sees im Genferseegebiet. Untersuchungen an Sedimentproben zeigen, dass die Grundmoräne an der Basis der oberen Seesedimente von Ecoteaux zur Zeit einer Umkehrung des magnetischen Feldes der Erde entstand. Falls es sich um die letzte Umkehrung handelt, so wäre dies in der magnetischen Zeittabelle der Wechsel der sogenannten Matuyama zur Brunhes-Zeit, die sich gemäss der Internationalen Kommission für Stratigraphie vor 780’000 Jahren zugetragen hätte (ältere Datierungen gaben für diese Grenze 730’000 und 760’000 Jahre). Dies wäre also der Ausgangspunkt der Erosion.
Gehen wir der tiefsten Eintalung im Genfersee auf den Grund, so finden wir die Felsoberfläche im Seebecken vor der Stadt Lausanne etwas unter Meereshöhe (Abbildung 1). Sie stammt aus der letzten Eiszeit, vermutlich zur Zeit der letzten maximalen Ausdehnung des Rhonegletschers vor etwa 20’000 Jahren. Während dem Gletscherrückzug und in der Zeit bis heute lagerten sich über der Felsoberfläche wieder etwa 70 m Sedimente ab. Folgt man der Felsoberfläche im Oberteil des Genfersees und ins Rhonetal Richtung Wallis, so fällt diese vorerst auf 200 m unter das Meeresniveau, und sodann auf minus 400 m ab.
Generell stellen wir also fest, dass zwischen dem bei Ecoteaux sichtbaren ehemaligen Seegrund und der Felsoberfläche unter dem Oberteil des Genfersees etwa 1000 m Höhenunterschied bestehen. Diese entsprechen mit grosser Wahrscheinlichkeit der Erosion die der Rhonegletscher innerhalb der letzten 780’000 Jahre schaffte, was etwas mehr als 200 m Tiefenerosion für jede grössere Eiszeit entsprechen würde.
Diese Überlegungen sind trotz aller Wissenschaftlichkeit auch mit Unsicherheiten behaftet und beruhen auf Argumenten an einem einzigen Standort. Weitere Argumente zur Bestätigung oder eventuellen Relativierung sind deshalb notwendig. Eine solche Argumentation liefern Geomorphologen und Geochronologen, die mit Hilfe von „geologischen Thermometern“ zeigen, dass das Rhonetal in den Profilen von Visp und Martigny im Verlauf der letzten Million Jahre um 1 bis 1.5 km durch den Rhonegletscher erodiert wurde[2]. Das Ost-West verlaufende Rhonetal folgt der Achse der Alpen, in der sich die Erosion und die tektonische Heraushebung etwa im Gleichgewicht halten.
Die Beispiele aus dem Genferseebecken und dem Walliser Rhonetal können nicht einfach auf die Nord-und Ostschweiz, etwa auf die Standorte am Bözberg und im Weinland übertragen werden. Sie zeigen aber die Grössenordnung möglicher Tiefenerosion durch die Gletscher, die offensichtlich bei entsprechenden Bedingungen in einer einzigen Eiszeit ohne weiteres 200 m und mehr erreichen kann. Die Frage der Tiefenerosion an den durch die Nagra ausgewählten Standorten wird uns in kommenden Blog Beiträgen weiter beschäftigen.
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