Programmführung und Aufsichtsfunktionen: ein kurzer historischer Rückblick
Schwache Führung und Aufsicht: ein unbestrittener Befund
Will man die Führungs- und Aufsichtsqualitäten der hierfür zuständigen Institutionen beurteilen, so kann man dies mit Leichtigkeit an den Erfolgen bzw. Misserfolgen der konkreten Entsorgungsprogramme messen. Denn der Ausgang eines Programms hängt auch direkt damit zusammen, wie gut die Führung beziehungsweise die Aufsicht tatsächlich funktionieren. Um es gleich vorwegzunehmen: in dieser „Disziplin“ gibt es keine Lorbeeren zu verteilen. In den letzten 70 Jahren ist weltweit kein einziges Entsorgungsprojekt erfolgreich umgesetzt worden. Selbst das über anderthalb Jahrzehnte als Vorzeigeprojekt gehandelte amerikanische „Tiefen-Endlager“ „WIPP“ erlitt schwere Havarien. Natürlich finden sich bei Bedarf immer technische oder geologische Gründe, weshalb ein Projekt havariert oder sonst gescheitert ist: der Abbau von Steinsalz ging zu nahe an die Flanke des Diapirs (Asse), das Grubengebäude war instabil (Morsleben), es kam zu Fehlern bei der Konditionierung von transuranhaltigen Abfällen (WIPP), die kristallinen Gesteine des Grundgebirges erwiesen sich als wasserdurchlässig und schlecht erkundbar (Projekt Gewähr in kristallinen Gesteinen der Nordschweiz), im Laufe der Standortuntersuchungen wird bekannt, dass alte Erkundungsbohrungen des Untergrundes nicht systematisch erfasst und dokumentiert worden waren (Endlager-Projekt in der Carey-Salzmine bei Lyons Kansas), usw. In einem zentralen Punkt stimmen aber alle Projekte überein: sie alle wurden von den offiziell zuständigen Behörden genehmigt. Und: Zu diesem Zeitpunkt gab es seitens der zuständigen Aufsichtsbehörden keine Vorbehalte. Dennoch ist das wiederholte Scheitern von Projekten offensichtlich für die zuständigen Institutionen kein genügender Anlass, die Gründe zu erforschen und zu analysieren. Sie machen weiter wie zuvor und bewilligen neue Projekte nach den einmal etablierten Prozeduren und den eingespielten Mustern. Dabei genügt ein Blick auf das Wirken der zuständigen Führungs- und Kontrollinstanzen, um sich ernsthafte Gedanken über deren Fachkompetenz zu machen.
Atomwirtschaft führt
Ob mehrheitlich staatlich, oder eventuell privatwirtschaftlich organisiert, eines war in der Regel von allem Anfang an klar: die Atomwirtschaft führt. Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden hatten im Aufbau der Nuklearindustrie (und haben heute in der Entsorgung der radioaktiven Abfälle) nur eine untergeordnete, zweitrangige Funktion. Und dies selbst in jenen Fällen, wo bzgl. Kapital anfangs mehrheitlich öffentlich-rechtliche Elektrizitätswerke beteiligt waren, oder heute noch sind. Die Werke wussten, wohin die Reise ging. Sie brauchten Genehmigungen für ihre Projekte und eine formale Kontrolle, unterhöhlten aber gleichzeitig den Einfluss der bewilligenden und kontrollierenden Institutionen. Letztere wagten es oft nicht, sich den mächtigen Werken entgegen zu stellen, und beliessen es bei formal korrekt geführten rechtlichen Prozeduren. Dies war bequem: Ging inhaltlich etwas schief, so war der Projektant dafür verantwortlich. Oder die hierzu bestimmte staatliche Dienststelle, die in vielen kernenergienutzenden Ländern die Verantwortung für die nukleare Entsorgung übernommen hatte oder hatte übernehmen müssen (Beispiel Deutschland: Amt für Strahlenschutz). Misserfolge und Konsequenzen von Schiffbrüchen waren vordergründig also nicht Sache von Bewilligungs- und Aufsichtsbehörden, weshalb von der Ergründung der Fehlschläge abgesehen werden konnte und alles beim Alten blieb (Beispiel: Projekt Wellenberg). Dieses System wurde trotz Debakeln nie in Frage gestellt. Die hierfür zuständigen Projektanten führten weiter und Genehmigungs- und Kontrollfunktionen blieben von untergeordneter Bedeutung.
Beispiel Schweiz
Die obige Rollenverteilung lässt sich im schweizerischen Atomprogramm gut nachzeichnen. Der Bund verfolgte stets eine liberale Wirtschaftspolitik. Beim Aufbau der Atomenergie begrenzte er seine Rolle eng, wie dies etwa Otto Zipfel, der Delegierte des Bundes für Fragen der Atomenergie schon 1957 klargestellte: „Auch bei uns in der Schweiz besteht kein dringender oder zwingender Anlass, dem Staate auf dem Gebiete der Atomenergie mehr Eingriffsrechte zuzubilligen als den Schutz von Leben, Gesundheit und Sachgütern, die Gewährleistung der inneren und äusseren Sicherheit und die Durchführung internationaler Verträge und Verpflichtungen“.[1] Genehmigungs- und Aufsichtsbehörden waren deshalb von allem Anfang an Teil einer definierten Prozedur: sie legten die Sicherheitsnormen nach internationalen Gebräuchen fest. Sodann führten oder bestimmten sie aber die Prozesse und Projekte nicht, sondern nahmen einzig Stellung zu Gesuchen, beziehungsweise winkten die von den Projektanten vorgelegten Projekte durch. Auch die Entsorgungsprogramme folgten diesem Muster; zuerst das Projekt „Gewähr“, dessen Schema die Nagra 1978 aus Schweden übernommen hatte, wie auch 25 Jahre später der „Sachplan geologische Tiefenlager“, dessen wissenschaftlich-technisches Gerüst grösstenteils auf Schreibtischen des Nagra-Hauptquartiers in Wettingen erarbeitet wurde. Die Behörden übernahmen solche Konzepte der Atomwirtschaft bereitwillig und setzten sich für deren Realisierung ein.
Rückblick auf die Entwicklung der Behördenstruktur in der Schweiz
Erwartungsgemäss blieb die allgemeine Strukturen der nuklearen Entsorgung in der Schweiz über viele Jahrzehnte bemerkenswert stabil. Wichtigere Anpassungen betrafen etwa die Schaffung und Erweiterung von Zwischenlagern (ZWILAG AG Würenlingen, Nasslager Gösgen, ZWIBEZ Beznau), um die Verzögerungen bei der Umsetzung des Entsorgungsprogrammes aufzufangen. Funktionen wurden neu definiert, etwa bei der Einsammlung und Behandlung der Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung. Wirklich relevante Veränderungen in den Strukturen und den Rollen der Beteiligten kamen aber nie zustande. Die zu Beginn definierte Arbeitsteilung blieb erhalten: die Stromwirtschaft betrieb und führte. Die Bundesbehörde unterstützte und winkte durch.
Bei den Bundesbehörden sind hingegen mehrere Entwicklungen zu erwähnen:
- Namensänderungen: Das „Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation“ (UVEK) ersetzte 1998 das „Eidgenössische Verkehrs- und Energiewirtschafts-Departement“ (EVED), das bis 1964 noch „Post- und Eisenbahndepartement“ hiess. Das „Amt für Energiewirtschaft“ mutierte zum „Bundesamt für Energiewirtschaft“ (BEW) und danach zum „Bundesamt für Energie“ (BFE). Das Amt ist aber weiterhin federführend für die Bundesaufgaben im Bereich der nuklearen Entsorgung.
- Anbindung der geologischen Expertise: Die „Arbeitsgruppe des Bundes für die nukleare Entsorgung“ AGNEB (beratende und koordinierende Arbeitsgruppe bestehend aus Vertretern der Bundesämter) veränderte sich nicht. Hingegen wurde die durch die AGNEB geschaffene „Untergruppe Geologie“ (UGEO) in die „Kommission für nukleare Entsorgung“ (KNE) und später in die „Expertengruppe geologische Tiefenlager“ (EGT) überführt. Die KNE wurde durch die „Eidgenössische Geologische Fachkommission“ (Fachkommission des Bundes für angewandte Geologie) zusammengestellt. Sie arbeitete als eigenständige ausserparlamentarische Kommission, bzw. als „Unterkommission“ und trat auch so in der Öffentlichkeit auf. Die EGT ist dagegen dem ENSI unterstellt und tritt auch in diesem Rahmen auf. Damit verlor sie im Vergleich zur KNE an Unabhängigkeit.
- Nukleare Sicherheit: Mitte 1960, kurz vor dem Inkrafttreten des neuen Atomesetzes, nahm die „Eidgenössische Kommission für die Sicherheit von Atomanlagen“ (KSA) ihre Tätigkeit auf. [2] Sie übernahm zu Beginn eine ähnliche Funktion, wie ihre amerikanische Schwesterbehörde Atomic Energy Commission (AEC). Von Beginn an vermischten sich dabei die Rollen von Staat und Stromwirtschaft: die Kommission war nicht nur Aufsicht über das im Aufbau befindliche schweizerische Atomprogramm sondern, nahm auch Begutachtungs- und Beratungsaufgaben wahr.[3] Kurz zuvor hatte der Bund die privatwirtschaftlich organisierte Reaktor AG übernommen, eine Interessengemeinschaft der Wirtschaft, Bankenwelt und der Wissenschaft im Bereich der Kernenergie. Gleich fünf „in den Bundesdienst übergetretene“ Mitarbeiter der Reaktor AG beorderte der Bund in die KSA, darunter auch den Präsidenten der Kommission. [4] Auch im Bereich der Entsorgung bahnten sich die personellen Verflechtungen frühzeitig an, wie die Ernennungen des späteren geschäftsführenden Präsidenten der Nagra oder des Chefs der Sektion Strahlenschutz im Bundesamt für Gesundheitswesen zeigten. [5] Die „Kontrolle des schweizerischen Atomprogramms lag“ von Beginn weg „fest in interessensgebundener Hand.“ [6]
Von der unabhängigen Aufsicht zur Sicherheitsagentur ENSI
Am Anfang ihrer Tätigkeit vertraute die KSA die konkreten Arbeiten der Kommission noch dem ihr angegliederten Sekretariat an. Als ab dem Jahr 1964 die Aufgaben wuchsen[7], setzte der Bundesrat zunächst eine „Sektion für Sicherheitsfragen von Atomanlagen (SSA)“ ein, welche das Sekretariat der KSA stärkte und unterstützte.[8] Im Laufe der Zeit wurde diese Sektion dann zur „Abteilung für die Sicherheit von Kernanlagen“ (ASK) erweitert, dann zur „Hauptabteilung“ (HSK) befördert, „der 1982 selbständige und umfassende Zuständigkeiten bei der Aufsicht … übertragen wurden.“ [9] Die HSK war dem Bundesamt für Energie (BFE), also der Bewilligungsbehörde untergeordnet (oder eher: „beigeordnet“).
Auf den 1. Januar 2009 erfolgte dann die offizielle Überführung der HSK in das „Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat“ (ENSI). Das ENSI ist im sogenannten „dritten Kreis“ der Bundesverwaltung untergebracht. Es untersteht in seiner Geschäftsführung einem eigens zu diesem Zweck geschaffenen Gremium, dem Ensirat und ist direkt dem Bundesrat unterstellt. Durch diese Ausgliederung des ENSI aus dem inneren Kreis der Bundesverwaltung erfüllte der Bundesrat einen Wunsch der internationalen Atombehörde IAEA.
Im oben beschriebenen Prozess verlor die KSA laufend an Bedeutung. Ihre Aufgaben wurden immer mehr von der Aufsichtsbehörde HSK übernommen. Demgegenüber entwickelte die sich die KSA immer mehr zu einer formellen „Zweitmeinung“. Sie lieferte der Bewilligungsbehörde einerseits eine eigene, unabhängige Expertise zu Bewilligungsgesuchen. Andererseits nahm sie auch Stellung zu den Gutachten der HSK.
Hinzu kam, dass mit einem der beiden Blogautoren ab dem Winter 2001/2002 ein unbequemer und hartnäckiger Wissenschaftler das Präsidium besetzte, just zu einem Zeitpunkt, da sich die Stromwirtschaft in der Schweiz wieder anschickte, Ersatzkernkraftwerke anzudenken und zu planen. Die von der Kommission beanspruchte Autonomie stand dadurch den Interessen der Nuklearbranche zunehmend im Wege. Es kam zu Konflikten. Die zuständigen Bundesbehörden erwogen, die inzwischen auf 13 Mitglieder angewachsene Kommission abzuschaffen. Doch regte sich im Parlament gegen diese Pläne Widerstand. Schliesslich einigte sich die Räte auf einen Kompromissvorschlag und die auf Ende 2007 aufgrund einer Änderung des neuen Kernenergiegesetzes (Art. 71) aufgelöste KSA wurde durch die neu geschaffene, 7 Mitglieder umfassende Kommission für die Sicherheit von Atomanlagen (KNS) ersetzt: mit eingeschränktem Pflichtenheft und gestutzten Ressourcen. In diese Kommission wurde der zweite Blogautor als kritische Alibifigur hineingewählt. Mit der Bildung der KNS war die Zweitmeinung in nuklearen Sicherheitsfragen weitgehend weg.
Heute agiert das ENSI weitgehend unkontrolliert für (Hoffnungsprinzip!) die nukleare Sicherheit der Schweiz: eine gefährliche Situation!
Fast alles bleibt beim Alten
Im Anschluss an das Debakel des Projektes Wellenberg für schwach- und mittelaktive Abfälle und mit dem Sachplan geologische Tiefenlager sollten strukturelle Reformen der Rolle und Funktionsweise der Bundesbehörden erfolgen, zum einen durch den Beizug der Kantone und ihrer Expertengremien, zum anderen über die Schaffung von Partizipationsgremien. Am Grundsatz der Aufgabenteilung änderte dies aber nichts. Die Werke bestimmen auch heute noch immer den Kurs und ihre Aktionäre wie Kantone und grosse Gemeinden stützten diesen. Ungeachtet des Anwachsens der Aufgaben und der Strukturen bleibt das Interessenskonglomerat der staatlich-parastaatlichen Allianz von Bund und „kantonalen“ Kernenergiebetreibern im Laufe der Zeit mehr oder weniger unhinterfragt bestehen.
Die Strukturen waren seit Beginn durch die Kernenergiebetreiber im Detail durchdacht. Ihre Entsorgungsstrategie (bzw. Nicht-Entsorgungsstrategie) verfolgt die Branche bis heute mit Hartnäckigkeit. An ihrem Ziel, die Rahmenbewilligung für End- oder Tiefenlager zum tiefsten Preis zu erhalten, hat sich seit dem Projekt „Gewähr“ 1985 nichts geändert. Den Planungsprozess kontrollieren die Betreiber und die für sie auftretende Nagra nach Belieben. Durch ihren Entscheid, diesen Prozess aus der eigenen Tasche und nicht aus dem Stilllegungs- und Entsorgungsfonds zu finanzieren, hat sich die Elektrobranche in diesem Prozess bis heute die lästige Bundesaufsicht vom Halse gehalten. Denn Konzepte machte und macht die Branche und nicht die Behörden. Diese kann bestenfalls in Stellungnahmen zum Prozess und Geschehen intervenieren, aber ohne Garantie, dass ihre Einwendungen berücksichtigt werden.[10] Dies war von Beginn weg auch die strukturell aufgestellte Mauer, an der die Branche jede Kritik zuerst auffahren liess. Das Überhören, das bewusste Nicht-Wahrnehmen anderer Entwicklungsmöglichkeiten, passt exakt zu einer solchen Strategie. Historisch kann man dieses Mauern gegenüber jeglicher Vernunft mit dem französischen Sprichwort spiegeln: „Il n’est pire sourd que celui qui ne veut pas entendre“ – „Es gibt keinen schlimmeren Tauben als jenen, der nicht hören will“. Und diese Haltung erklärt auch die Führungslosigkeit der Führung und die „Abnick“-Mentalität der Aufsicht, die in unseren nächsten Blog-Beiträgen behandelt werden.
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