
Den Beitrag der letzten Woche haben wir dem Problem nachgewiesener und möglicher Materialfehler bei den Dampferzeugern in französischen und schweizerischen Kernkraftwerken mit Druckwasserreaktoren gewidmet und den Umgang der Sicherheitsbehörden der beiden Länder mit dieser Problematik dargestellt und verglichen. In der Schweiz betrifft dies die Kernkraftwerke Beznau und Gösgen. Wie wir bemerkt haben, ist die Reaktion des ENSI abwartend und alles andere als fordernd, in auffälligem Gegensatz zur Reaktion der französischen Sicherheitsbehörden. Die ENSI-Aufsicht wartet und hält sich bedeckt, auch was andere, ähnliche Probleme, wie etwa die erwiesenen Materialfehler im Druckgefäss des Kernkraftwerks Beznau 1 und den damit verbundenen langen „Revisionshalt“ betrifft.
Diese passive Haltung ist im Zusammenhang mit der Aufsichts-Philosophie zu sehen, die der heutige ENSI-Direktor vor rund viereinhalb Jahren wie folgt darlegte: es gäbe – so sagte dieser – zwei Wege, Sicherheit zu beurteilen: „Entweder ‚Die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich sicher’ oder ‚die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich unsicher’.“ [1] Um sodann der Schönwettervariante den Vorzug zu geben: «Wir gehen von der Arbeitshypothese aus: Die Schweizer Kernkraftwerke sind grundsätzlich sicher. Diese Hypothese untermauern wir in einem laufenden, internen Prozess fortdauernd mit Daten und Fakten.» Eine unglaublich naive Vorstellung in einem Hochrisikobereich, wo wichtige Prinzipien der Aufsicht nicht wirklich, oder jedenfalls viel zu wenig ernst genommen werden. Dazu gehört etwa das grundsätzliche Hinterfragen, sowie die unvoreingenommene Inspektion und Prüfung draussen in den Werken und in der Umwelt, auch mit eigenen wissenschaftlichen und technischen Abklärungen. Dabei wäre ausserdem die Erfahrung in die Festlegung der Überwachungspraxis mit einzubeziehen, dass die Atombranche in der Vergangenheit immer wieder für gefährliche Versteckens- und Manipulationsspiele zu gewinnen war.[2]
Hier zwei weitere Beispiele zu diesen grundlegenden Schwächen in der Aufsicht. Wir konzentrieren uns und dabei auf Fälle der letzten Jahre, die immer ein ähnliches Handlungs-Muster aufzeigten, wenn Probleme in Werken auftauchten.
Der erst der betrachteten Vorfälle geschah Mitte 2014, in Zusammenhang mit dem KKW Leibstadt. Damals wurde bekannt, dass das Werk Halterungen für Feuerlöscher direkt am Containment angebracht und dabei diese Sicherheitsbarriere durchbohrt hatte.[3] Der eigentliche Skandal liegt nicht im Vorfall selbst, der auch der Werkleitung und den Qualitätssicherungsprozessen im Werk kein gutes Zeugnis ausstellt. Für die Aufsichtsbehörde ist aber die Tatsache bedenklich, dass sie gegen sechs Jahre brauchte, um dieses Sicherheitsdefizit überhaupt zu entdecken! Und dass sie im Nachhinein die eigenen Fehler nicht offen anerkannte.[4] Das Verstecken der eigenen Fehler widerspricht fundamental der Praxis der Fehlerkultur, wie sie von internationalen Agenturen wie der Atomenergie-Agentur gefordert wird (siehe z.B. die Reihe der INSAG-Berichte der Internationalen Atomenergie-Agentur). Aber dieses Handeln steht auch im Widerspruch zu den schönen Leitsätzen und dem Selbstbild, welches das ENSI von sich selber vermittelt, wenn es etwa im Leitsatz 3 schreibt: „Wir hinterfragen uns und unser Handeln. Differenzen werden offen angesprochen und gemeinsam gelöst.“[5] Dass das ENSI nach dieser Aufsichtspanne gegen den Betreiber des Kernkraftwerks Leibstadt Anzeige bei der Bundesanwaltschaft erstattete[6], macht das eigene Defizit nicht besser.
Wäre es bei dieser einmaligen Panne geblieben, könnte dem ENSI Verständnis entgegengebracht werden. Denn wir machen alle Fehler. Das Problem ist aber, dass sich diese Fehler wiederholen und somit zu einer Unternehmenskultur werden. Es fehlt dieser Aufsicht die innere Unabhängigkeit[7], wie dies auch das nächste Beispiel zeigt, das am 14. Dezember 2016 bereits von www.energisch.ch kommentiert wurde. [8] Es geht um die Fabrikation von grossen Stahlkomponenten der KKW durch die französische Schmiede Creusot-Forge, Areva NP, beziehungsweise um die Manipulation und Fälschung von Herstellungs-Unterlagen. Mit Blick auf die Erfüllung von Qualitätssicherungsstandards erhält jede durch das Schmiedewerk erzeugte Komponente eine vollständige Dokumentation über den Herstellungs- und Prüfprozess. Nun stellte die französische Sicherheitsbehörde Autorité de Sûreté Nucléaire asn 2015 im neu gebauten Block 3 des Europäischen Druckwasserreaktors EPR Flamanville (Normandie, F) fest,[9] dass die Schmiedeteile in der Bodenkalotte des Reaktordruckbehälters und gewissen Teilen des Deckels zu hohe Kohlenstoffgehalte aufweisen, was die Stahlqualität beeinträchtigt und Versprödung (Brüchigkeit) fördert. Die asn verlangte daraufhin Rechenschaft von der Mutterfirma areva, und damit begann ein nicht enden wollendes Kapitel über die Entdeckung einer jahrzehntelangen systematischen Manipulation und Fälschung des Herstellungs- und Dokumentationsprozesses. Zunächst musste areva in einem internen Audit 430 Abweichungen in Dokumenten feststellen. Aber nachdem die aufgeschreckte Aufsichtsbehörde hartnäckig blieb, stehen bei areva jetzt 6’000 Herstellungsdokumente zur Überprüfung an! Überprüft wird neuerdings bis in die 1960er Jahre. Am 25. Oktober 2016 informierte asn den Parlamentarischen Dienst für die Evaluation wissenschaftlicher und technologischer Auswahlprozeduren OPECST (Office parlementaire d’évaluation des choix scientifiques et technologiques) und informierte, dass die Staatsanwaltschaft eingeschaltet worden sei.[10] Das Fazit ist erschreckend: zum einen wegen der Anzahl der gefundenen z.T. bedenklichen Mängel an Guss- oder Schmiedefehlern in den KKWs Flamanville 3, Fessenheim 2 und Gravelines 5, zum anderen bezüglich der systematischen und jahrzehntelangen Praxis von Manipulationen und Fälschungen des Prüf- und Dokumentationsprozesses. Auch hier ist die gleiche Feststellung angebracht: die französische Aufsicht liess sich jahrzehntelang an der Nase herumführen. Eine Fehlleistung die nur dadurch zu erklären ist, dass auch asn ihre Aufsichtsfunktion immer unter Schönwetterbedingungen ausführte. Auch diese Aufsichtsbehörde ist in der Pflicht zu erklären, wie eine derartige Unterlassung über Jahrzehnte überhaupt möglich war. Und sie wird ebenfalls nicht darum herumkommen, ihre Aufsichtsfunktion anzupassen.
Und wie betrifft der Fall die Schweiz? Die KKW Beznau und möglicherweise Gösgen[11] wurden ebenfalls mit Schmiedeteilen von Creusot-Forge beliefert und die Dokumentationsfälschungen und Manipulationen am Herstellungsprozess könnten ja grundsätzlich die beiden Werke ebenfalls betreffen. Das ENSI schrieb am 17. August 2016 dazu, dass die Schweizer KKW-Betreiber auf Nachfrage des ENSI bestätigten, dass „kein Schmiedeteil für die Hauptkomponenten eines Schweizer Kernkraftwerks von den Unregelmässigkeiten betroffen ist.“ [12] Die Aufsicht wendete sich also an die Betreiber und diese an areva und bekam im August 2016, lange bevor die Tragweite der Dokumentationsmanipulation bekannt wurde, die beruhigende Antwort, alles sei in Ordnung. Warum hat das ENSI diese Abklärungen nicht via asn eingeleitet? Müsste die Antwort der Betreiber im Lichte der Entwicklungen vom Herbst 2016 nicht zumindest verifiziert und von der asn bestätigt werden? Auch in diesem Fall nimmt das ENSI ihre Überprüfungsfunktion mit einer unglaublichen Naivität und Gutgläubigkeit vor, die angesichts der Risiken aus solchen Anlagen nicht vertretbar ist.
Genau an diesem Punkt zeigt sich das eigentliche Problem unserer Schweizer Aufsicht, das nicht nur im Falle der Dampferzeugerproblematik zu Tage tritt , sondern auch bei den Dryout-Problemen bei den Brennelementen des KKW Leibstadt[13] oder bei möglichen Dokumentationslücken bei Herstellungsunterlagen des Werks Beznau 1: Das Aufsichts-Defizit ist systemisch angelegt. Die Aufsicht ist nicht gehalten, sich in Prozesse einzumischen. Die Industrie führt. Die entscheidungsschwache Behörde dient im Wesentlichen der Industrie zu. So wurden die Weichen seit Beginn der Atomtechnologienutzung in unserem Land gestellt. Und so funktionierte eben auch die Aufsicht: nicht als „Auf-Sicht“, nicht als Institution also, die den „Über-Blick“ über das Geschehen hat und aufpasst und eingreift, sondern als zahme Behörde, welche die Betreiber zunächst anfragt, ob sie überhaupt darf. Dass dieses Modell zu keiner guten Entwicklung führen kann, sollte wesentlichen Akteuren in diesem Prozess – ENSI-Rat, Bundesrat und Parlament – ernsthaft zu denken geben.
Diese Praxis findet schlussendlich ihre Krönung in der Informationspraxis. Man informiert, aber weder vollumfänglich, noch wirklich korrekt, wie wir dies im letzten Blog dargestellt haben. ENSI-Version zur Situation in Frankreich: „Es hat sich gezeigt, dass auch die Dampferzeuger mit einem erhöhten Kohlestoffanteil robust genug sind und kein Risiko darstellen“. Korrekte Version: Die französische Behörde ASN formulierte „Forderungen an EDF, betreffend zusätzlicher zu realisierender Kontrollen, neuer oder verstärkter Kompensationsmassnahmen (Blog-Autoren: bzgl. durch Materialfehler geschwächte Teile) beim Betrieb der Anlagen und ergänzender Versuche und andere Studien welche mittelfristig durchzuführen sind.“[14] Mit etwas Professionalität hätte hier der Vizedirektor des ENSI einfach die französische Behörde zitieren und seine Informationsquelle offenlegen können, so wie wir dies in unserem Blog stets versuchen. Dann hätte aber auch jedermann gleich sehen können, dass ASN und ENSI nicht dieselben Ansprüche an sich selbst stellen. . . .
[1] Gegenseitiger Respekt ist Dreh- und Angelpunkt der Arbeit des ENSI, https://www.ensi.ch/de/2012/07/08/gegenseitiger-respekt-ist-dreh-und-angelpunkt-der-arbeit-des-Ensi/
[2] siehe etwa Ford, Daniel (1982): The Cult of the Atom: the Secret Papers oft he Atomic Energy Commission, Simon & Schuster; Alley, W., Alley, R. (2013): To Hot Too Touch – The Problem of High-Level Nuclear Waste, Cambridge University Press; Walker, Samuel J. (2009): The road to Yucca Mountain, University of California Press London; Mazuzan, George, Walker, J. Samuel (1984): Controlling the Atom, University of California Press
[3] ENSI (2014): Bohrlöcher im Primärcontainment des Kernkraftwerks Leibstadt, siehe https://www.ensi.ch/de/2014/07/07/bohrloecher-im-primaercontainment-des-kernkraftwerks-leibstadt/
[4] siehe auch https://www.ee-news.ch/de/article/29893/bohrloecher-im-akw-leibstadt-ensi-will-sich-aus-der-verantwortung-stehlen&page=
[5] ENSI (2014): Leitbild, https://www.ensi.ch/de/wp-content/uploads/sites/2/2014/07/ensi_leitbild_charte_de_lifsn.pdf
[6] ENSI (2014): Strafanzeige wegen Beschädigung von Containments in Beznau und Leibstadt, https://www.ensi.ch/de/2014/11/06/strafanzeige-wegen-beschaedigung-von-containments-in-beznau-und-leibstadt/
[7] siehe zu Brillen-PR und Aufsichtsfunktion, https://www.nuclearwaste.info/pr-und-aufsichtsfunktion/
[8] https://energisch.ch/ausschuss-schmiedeteile-faelschung-blindes-vertrauen-und-beznau/4853/
[9] https://www.asn.fr/Informer/Dossiers/Anomalies-de-la-cuve-de-l-EPR-et-irregularites-usine-Creusot-Forge-d-AREVA
[10] Office parlementaire d’évaluation des choix scientifiques et technologiques, siehe https://www.asn.fr/Informer/Actualites/Audition-par-l-OPECST-l-ASN-a-fait-le-point-sur-les-anomalies-detectees-sur-les-ESPN; siehe auch https://bfmbusiness.bfmtv.com/entreprise/les-falsifications-sont-unepratique-historique-chez-areva-1052559.html; oder https://www.asn.fr/Informer/Actualites/Irregularites-concernant-des-composants-fabriques-dans-l-usine-Areva-de-Creusot-Forge; oder asn (2016): anomalies et irrégularités sur les équipements sous pression nucléaires, OPECST, 25 octobre 2016, https://reporterre.net/IMG/pdf/asn-pre_sentation_a_l_opecst-oct_2016.pdf; oder https://www.lemonde.fr/economie/article/2016/04/20/alerte-aux-certificats-falsifies-dans-le-nucleaire_4905333_3234.html
[11] Das KKG stellt diese Version in Abrede – aber es bleiben Zweifel bestehen, ob nicht Schmiedeteile durch den ebenfalls beteiligten Subcontractor Japan Casting and ForgingCorporation gefertigt wurden
[12] ENSI (2016): Unregelmässigkeiten im Schmiedewerk Le Creusot betreffen Schweizer Kernkraftwerke nicht, 17. August 2016, https://www.ensi.ch/de/2016/08/17/unregelmaessigkeiten-im-schmiedewerk-le-creusot-betreffen-schweizer-kernkraftwerke-nicht/
[13] zu den Dryout-Problemen: https://www.ensi.ch/de/2016/12/19/dryout-vermeidung-von-unzureichend-gekuhlten-brennstaben/
https://www.ensi.ch/de/2016/12/19/kkl-befunde-an-brennelementen-verstaerkte-oxidation-an-huellrohren-von-brennstaeben-vom-12-august-2016/
[14] https://www.asn.fr/Informer/Actualites/Situation-des-generateurs-de-vapeur-dont-l-acier-presente-une-concentration-elevee-en-carbone.
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