Die Volksinitiative lautet:
Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert:
Art. 90 Kernenergie
1 Der Betrieb von Kernkraftwerken zur Erzeugung von Strom oder Wärme ist verboten.
2 Die Ausführungsgesetzgebung orientiert sich an Artikel 89 Absätze 2 und 3; sie legt den Schwerpunkt auf Energiesparmassnahmen, effiziente Nutzung von Energie und Erzeugung erneuerbarer Energien.
II
Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt geändert:
Art. 197 Ziff. 92 (neu)
- Übergangsbestimmung zu Art. 90 (Kernenergie)
1 Die bestehenden Kernkraftwerke sind wie folgt endgültig ausser Betrieb zu nehmen:
- Beznau 1: ein Jahr nach Annahme von Artikel 90 durch Volk und Stände;
- Mühleberg, Beznau 2, Gösgen und Leibstadt: fünfundvierzig Jahre nach deren Inbetriebnahme.
2 Die vorzeitige Ausserbetriebnahme zur Wahrung der nuklearen Sicherheit bleibt vorbehalten.
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„Geplanter“ oder „wilder“ Ausstieg?
Wir sind uns alle bewusst: in einigen Jahren wird man auf dem Markt mit grösster Wahrscheinlichkeit keinen schweizerischen Atomstrom mehr finden:
- Entweder weil die Betreibergesellschaften ihr Produkt nicht (mehr) mit Verlust verkaufen wollen oder können.
- Weil die Werke zu unsicher für einen Weiterbetrieb werden und eine Abschaltung vor einem schweren Störfall erfolgt, oder
- Weil ein schwerer Unfall oder Zwischenfall in einem Kernkraftwerk im In- oder Ausland zum Aus führte.
„Einige Jahre“, wie viel ist das? 5, 10, 15 oder 20? Das weiss wohl niemand so genau. Vielleicht könnten AXPO und ALPIQ hierzu etwas genauere Einschätzungen geben; aber das werden sie kaum.
Im Widerspruch zur Aussage der zuständigen Bundesrätin müsste man einen derartigen Ausstieg als „wilden“ Ausstieg bezeichnen, da er vermutlich ohne geplante Begleitmassnahmen erfolgen würde.
Was die Volksinitiative vorschlägt, ist ein geplanter Ausstieg. Sie erlaubt, zumindest für die grossen Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt eine Planung, sei es im Hinblick auf das elektrische Leitungssystem, die Stilllegung und Vorbereitung des Rückbaus, die Anpassung der Aufsicht, die Anpassung der Strukturen, die Weiterführung der Anlagen und des Programms u.a.m. Auch Massnahmen im Strommarkt sind denkbar. Ob sie notwendig sein werden bleibt dahin gestellt, denn Strom wird immer noch aus der Dose „fliessen“:
- die Überkapazitäten auf der Produktionsseite sind heute in Europa gross und
- sogenannte Alternativenergie, v.a. Strom aus Sonnenenergie wird immer billiger und damit auch leichter zugänglich.
Zum Zustand des schweizerischen Atomparks
Was vielen Schweizern noch nicht voll bewusst ist, ist die Tatsache, dass die „Atomkraft“ Schweiz unter grossen Schwächen und Unsicherheiten leidet und früher verschwinden könnte, als allgemein angenommen. Der Reihe nach:
- Das Kernkraftwerk Mühleberg wird bekanntlich im Jahr 2019 stillgelegt, falls nicht vorher ein grösseres Ereignis eintritt.
- Das Kernkraftwerk Beznau 1 ist noch mindestens bis Anfang 2017 wegen defektem, bzw. geschwächtem Reaktordruckgefäss abgestellt. Sollte es nochmals ans Netz gehen, so sicher nur für kurze Zeit, denn die am Reaktordruckbehälter festgestellte Versprödung lässt sich nicht rückgängig machen. Mangels Teststücken kann die Versprödung auch nicht mehr experimentell nachgemessen werden. Eine Bewilligung zum Weiterbetrieb beruht folglich weitgehend auf spekulativen Annahmen, bzw. auf nicht validierbaren Modellen.
- Gemäss einem Bericht der AXPO[1] aus dem Jahr 2011 ist die Versprödung des Reaktordruckbehälters im Kernkraftwerk Beznau 2 weniger fortgeschritten als in Beznau 1. Die im Jahr 2010 durchgeführten Untersuchungen benutzten den zweitletzten Satz von Metallproben. Unterdessen sind weitere 6 Jahre ins Land gegangen und das Aus des Werks liegt in Sichtweite.
- Am schwierigsten ist die Situation wohl beim Kerkraftwerk Leibstadt, obwohl dieses erst im Jahr 1984 ans Netz ging. Das Werk basierte von Anfang an auf zahlreichen Kompromissen. Seit Beginn zeigten sich im Betrieb personelle Probleme (siehe hierzu auch https://de.wikipedia.org/wiki/Kernkraftwerk_Leibstadt). Diese wurden während einiger Zeit durch den Einsatz eines qualifizierten Sicherheitsbeauftragten gemildert. Heute leidet der Betrieb offensichtlich unter dem Generationenwechsel, sowie unter der für die Anlage zu hohen Reaktorleistung.
Zum Beleg: Jedermann hat wohl die Affäre der Bohrlöcher im Primärcontainment aus dem Jahr 2014 im Gedächtnis (siehe die Beiträge zum Thema auf www.ensi.ch); ein typisches Problem im Bereich Personal und Sicherheitskultur.
Heute liegt das Werk für ein halbes Jahr still, weil zahlreiche Brennelementhülsen korrodiert („verrostet“) sind. Theoretisch könnten hierfür Materialfehler oder eine falsche Kühlwasserchemie verantwortlich sein. In Tat und Wahrheit ist dies aber unwahrscheinlich. Mit grosser Wahrscheinlichkeit liegt der Grund nach Ansicht guter Kenner der Anlage eher in einem fehlerhaften Betrieb bei zu hoher Reaktorleistung. Dabei könne die Kühlung unregelmässig erfolgen und dadurch Brennelemente zu Schaden kommen. Um dies zu verhindern, müsste das Kraftwerk künftig mit tieferer Reaktorleistung betrieben werden.
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Zusatz vom 20. Dezember 2016:
-> Das ENSI präsentiert den Fall am 19. Dezember 2016 in zwei Internet-Beiträgen und bestätigt unsere Analyse:
Befunde an Brennelementen im KKW Leibstadt: ENSI stuft Vorkommnis mit INES 1 ein und prüft eingereichte Massnahmen
Dryout: Vermeidung von unzureichend gekühlten Brennstäben
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Zum Thema der Fragilität auch der konventionellen (nicht radioaktiven) Teile der Anlage sei an einen andern Störfall erinnert: Leibstadt erlitt am Ostermontag 2005 einen grösseren Schaden an einem Generator, welcher zu einem halbjährigen Betriebsunterbruch führte.
Aufgrund seiner Schwächen kann man nicht ausschliessen, dass KKL viel früher als allgemein angenommen vom Netz gehen wird.
- Das Kernkraftwerk Gösgen ist das einzige „moderne“ Kernkraftwerk, welches nach einem kohärenten Konzept geplant und gebaut wurde. Seine grösste Schwäche liegt heute wiederum im Personalbereich.
Man kann und muss also davon ausgehen, dass nicht nur Beznau 1 und 2, sondern auch Leibstadt jederzeit ohne Vorwarnung vom Netz gehen können. Gösgen hat so betrachtet heute die besten Karten. Aber wird dies genügen?
Generell zeigt dies, dass sich der Bundesrat und insbesondere die zuständige Bundesrätin schwer täuschen könnten, wenn sie im Falle der Ablehnung der Ausstiegsinitiative und der Annahme der Energiestrategie 2050 von einem „geordneten Ausstieg“ sprechen.
Schadenersatz
Es ist anzunehmen, dass Werke mit gültiger Bewilligung bei der Annahme der Ausstiegsinitiative auf Schadenersatz klagen werden, und dass sie nach gerichtlichem Entschluss oder politischem „Kuhhandel“ finanziell zumindest teilweise entschädigt werden. Man sieht heute die Haltung der Werke bei der Bemessung der Stilllegungs- und Entsorgungskosten für die Fonds[2], deren Anpassung sie mit allen Mitteln bekämpfen, obschon die Endkosten wie bekannt hoffnungslos unterschätzt werden (siehe unsern Blog-Beitrag vom 4. Mai 2015). Aber wie dem auch sei: Für die Unternehmen ist das finanzielle Risiko bei der Annahme der Volksinitiative klein, da sie via Kantone und Gemeinden schon heute weitgehend der Öffentlichkeit gehören. Bei einem geordneten Ausstieg wird diese Entschädigung in erster Linie durch den Steuerzahler, nach einem wilden Ausstieg wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten eher durch die Aktionäre der Werke, also durch die grossen Kantone und Städte des schweizerischen Mittellandes bezahlt werden, in Abhängigkeit ihres Aktienanteils. Diese Kantone und Städte haben also ein Interesse an einem geordneten Ausstieg, d.h. an der Annahme der Ausstiegsinitiative!
Langzeitrisiken
Sollte die definitive Stilllegung der Werke auf Grund der Annahme der Ausstiegsinitiative erfolgen, so ist die Frage nach dem Schadenersatz vermutlich das kleinste unter vielen grossen Problemen, namentlich im Blick auf die Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Es sind hauptsächlich deren sieben:
- die technisch wissenschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere die Frage, ob unsere heute verfolgten Konzeptionen und Planungen ausreichen, ein robustes Projekt für ein geologisches Tiefenlager umzusetzen. Anders gesagt könnte die Grundfrage lauten: hat die Schweiz heute eine hinreichend robuste Planung, die sie befähigt, einen Standortwahlprozess erfolgsversprechend durchzusetzen?
- die strukturelle Rahmenbedingungen, insbesondere bezüglich der Aufstellung der Institutionen, ihren Kompetenzen, ihrer Flexibilität und Lernfähigkeit sowie bezüglich der installierten und gelebten Sicherheits- und Fehlerkultur, dem Beizug von unabhängig denkenden Institutionen und der Qualitätssicherung.
- die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bei der Umsetzung des Standortsuchprozesses und der Durchführung des Programms. Die Grundfrage lautet: was heisst Partizipation und inwieweit sind die Betroffenen in Entscheidungsprozesse integriert.
- die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zur Finanzierung einer langfristig sicheren Entsorgung über viele Generationen.
- die Forschungs- und Entwicklungsprogramme. Hier stellt sich die Grundfrage bezüglich des vorhandenen und eingesetzten wissenschaftlichen Instrumentariums insbesondere die Frage, ob die heutige Forschung und Entwicklung die zu bearbeitenden Fragestellungen einer langzeitsicheren Entsorgung überhaupt und vollständig erkennt und Lösungen und Möglichkeiten zu deren Bearbeitung anbietet.
- das Krisenmanagement (Stör- und Unfälle, gesellschaftliche Verträglichkeit über lange Zeiträume) insbesondere über die nächsten 5 bis 10 Generationen, während denen das Programm der nuklearen Entsorgung umgesetzt werden soll. Die Grundfrage lautet: hat man das Mehrgenerationen-Hochrisikoprojekt heute im Griff?
- das analytische Instrumentarium, das heute zur Verfügung steht um dieses Mehrgenerationen-Hochrisikoprojekt zu entwerfen und zielführende planerische Massnahmen sowie die erforderlichen Realisierungsprogramme umzusetzen. Die Grundfrage lautet: ist ein solches Programm beherrschbar oder eine Nummer zu gross für den Menschen?
Wer diese enormen Herausforderungen, welche künftige Generationen zwingend schultern müssen, nüchtern betrachtet, wird sich fragen, wie das alles sicher zu bewerkstelligen sein wird. Auch in der Schweiz geht es darum bei der Ausstiegsinitiative letztlich nicht nur um den Einstieg in den Ausstieg, also das Abschalten der Kernkraftwerke, sondern auch um den Einstieg in das „Überrestprogramm“ der radioaktiven Abfälle, was die eigentliche Herausforderung anbelangt, vor der die Menschheit wirklich steht. In den Worten des Physikers Enrico Fermi, einer der „Genies“ unter den Atomphysikern: zum ersten Mal in der Geschichte werde der Mensch mit enormen Mengen von Radioaktivität zu tun haben und es sei nicht klar, ob eine Gesellschaft eine Energieform akzeptieren werde, welche so viel Radioaktivität hervorbringe und zudem noch für den Bau von Bomben verwendet werden könne.[3] Diese Warnung wurde leider von unseren Vorfahren nicht beherzigt. Auch nicht bei uns. Mit den rund 400’000 m3 hochradioaktiven Abfällen weltweit und den rund 1’600 m3 in der Schweiz stehen wir heute vor dem Entscheid, den Sachzwang noch weiter zu vergrössern oder endlich vernünftig zu werden und aus der nuklearen Energieerzeugung auszusteigen. Der Einstieg in eine langfristig tragfähige Entsorgungszukunft bleibt allerdings noch herzustellen. Sie gilt es nun zu planen.
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