Von der Verantwortung für die Zukunft (II): die atomare Megamaschine als Sinnbild der heutigen „Fortschritts“-Gesellschaft
Fragen zur Verantwortung sind unglaublich vielseitig und darum schwierig zu beantworten (Blog vom 24. Dezember 2017[1]). Erschwert werden Antworten auch wegen der Dauer von Risikoprozessen. Erstreckt sich die Wirkungskette eines Risikoprozesses nämlich über Generationen oder noch längere Zeiträume, so ist Verantwortung im klassischen Sinne kaum mehr anwendbar. Denn niemand kann Verantwortung über das Grab hinaus tragen. Die Übernahme von Verantwortung über solche Zeitspannen wird daher zum leeren Wort. Und darum braucht es einen anderen Zugang zur Frage und zur Bedeutung von Verantwortung.
Wie also kann Verantwortung für einen derart langen, Generationen übergreifenden Prozess überhaupt noch wahrgenommen werden? Auf welche Bereiche soll und kann sich Verantwortung erstrecken? Auf die Planung? Die Ausführung? Die Langzeitfolgen? Die Prozessführung – um nur einige Beispiele zu benennen? Und wie soll und kann diese institutionell wie auch individuell gelebt werden? Wie ist die Verantwortung eines jeden Protagonisten in dieser komplexen Maschinerie verteilt? Und wie jene von Institutionen, die ja eine andere „Lebenserwartung“ haben?
Es sind äusserst komplexe Fragestellungen. Die Philosophin Hanna Arendt hat sie in Zusammenhang mit dem Holocaust im Dritten Reich gestellt. [2] In ihrem Buch „Responsability and Judgment“ [3] sucht sie eine Antwort aus der Wirkungsweise von Systemen zu geben: „Wird ein politisches System beschrieben – wie es funktioniert, wie die Beziehungen zwischen den verschiedenen Regierungsteilen aussehen, wie die grosse bürokratische Maschinerie abläuft zu der auch die Befehlskanäle gehören, und wie zivile wie militärische und polizeiliche Dienste miteinander vernetzt sind, um nur einige der herausragenden Merkmale zu erwähnen, – so ist es unvermeidlich, dass wir alle Personen, die von einem System benutzt werden, bildlich gesehen als Zähne und Räder betrachten, die eine Administration am Laufen halten. Jeder Zahn, das heisst jede Person, muss entbehrlich sein ohne das System zu verändern, eine Grundthese, die allen Bürokratien, allen zivilen Diensten und allen (gemeinschaftlichen) Funktionen zugrunde liegt.“ In Friedenszeiten stellt diese Funktionsweise von Systemen keine unmittelbare Gefahr dar. Sie wird aber mörderisch, wenn Willkürregime Einzug halten.
Wer ist eigentlich noch verantwortlich?
Aber auch eine andere Gefahr tritt bei Grosssystemen auf, und dies nicht nur in Krisen- oder Willkürzeiten. Auch bei unseren Grosssystemen tritt in alltäglichen Situationen ein ähnliches Muster in Erscheinung, wenn sich Probleme ergeben und nach Rechenschaft gesucht wird. Niemand will verantwortlich sein, wenn etwas schief läuft. Und niemand ist voll verantwortlich, sind doch Pflichten und Pflichtenhefte und somit auch Verantwortungen für die einzelnen Prozessschritte in kleinste Teile zerlegt. Niemand fühlt sich darum mehr dafür zuständig, wenn im System Fehler und Probleme auftreten, – oder bildlich gesprochen – ein Zahn bricht oder ein Rad unerwartet zum Stehen kommt. Die Führung schützt sich, indem sie Fehlentscheide nach unten abschiebt und nach dem „fehlerhaften Zahn oder Rad“ Ausschau hält, indes sich untere Chargen auf Führungsmängel der Chefetage – etwa bei der Planung oder der strategischen Entscheide – berufen. Jedenfalls will niemand mehr für ein solches Problem verantwortlich sein, weshalb alle Beteiligten ihren eigenen Anteil kleinreden und die unangenehmen Diskussionen schliesslich möglichst rasch abbrechen und zudecken.
Verkompliziert wird die Frage der Verantwortung zusätzlich in Systemen, bei denen die menschliche Organisation mit der Technik verzahnt ist oder verschmilzt, wie das heute praktisch überall der Fall ist. Wo will man in solchen Fällen die Verantwortung anbinden? An einzelnen technischen Komponenten, welche zu einer gegebenen Zeit ausfallen und ein System zum Absturz bringen? An der Produktion der einzelnen Komponenten? An Materialfehlern und dem ungenügenden oder fehlenden Qualitätssicherungsprozesses? An einem falsch programmierten Algorithmus? An einer Fehlmanipulation in einem bestimmten Prozess, an der Gouvernanz eines Prozesses oder an Führungsproblemen? An blankem Opportunismus, an lähmender Bequemlichkeit oder nur an übersteigerter Angst? Und schliesslich ganz einfach an einer Migräne oder einem Glas Vodka zu viel beim Antritt zur Arbeit? Man sieht: die Fehlerquellen sind vielfältig und kaum einzugrenzen.
Wir möchten diesen Fragen in Zusammenhang mit den Langzeitrisiken komplexer Technologien nachgehen. Kaum eine andere Technik eignet sich dazu besser als die atomare „Megamaschine“[4], die alle Bestandteile und Funktionsweisen dieser Apparatur enthält: eine äusserst komplexe Technik mit lang ausgelegten und erträumten Laufzeiten über viele Generationen, die an millenaristische Zukunftsvorstellungen des Mittelalters erinnert – an Vorstellungen also, die an die biblischen Überlieferungen einer Herrschaft über die letzten 1’000 Jahre vor dem jüngsten Gericht anknüpfen. Eine Grosstechnik auch, die grosse und lang anhaltende Risiken während der gesamten Laufzeit des Prozesses schafft; die hochgradig gefährliche Hinterlassenschaften erzeugt, welche die Zukunft als Abfall- und potentielles Waffenprodukt langfristig begleiten; die als kapital- und wertschöpfungsintensive Technik vielen Wissenschaftlern eine materiell gut abgesicherte Lebensgestaltung mit spannender Tätigkeit bietet und darum stabile, zeitlich langlebige soziale und politische Netzwerke und Abhängigkeiten bilden kann. Und eine Technik schliesslich, die sich immer wieder damit rühmt, Verantwortung und Langzeitverantwortung wahrzunehmen (Figur 1), wie die folgenden Ausführungen zeigen.
Figur 1: Internetauftritt der Nagra
Wissenschaftlicher Millenarismus oder …
Alvin Weinberg war einer der besonders interessanten und erfolgreichen Architekten dieses Wahnsinnssystems, der – ungeachtet seiner Begeisterung für die neue Technik – auch deren Probleme sah und bis zu einem gewissen Punkt auch bereit war, grundlegende Fragen zu den Folgen dieses Tuns zu stellen. Viele der von ihm angedachten Entwicklungsstationen des atomaren Traums zeigen immer wieder die faustische Dimension der atomaren Technologie: Entscheidungen, welche eine ressourcenmässig hervorragend ausgestattete und politisch von höchsten staatlichen Stellen getragene Interessensgruppe von Wissenschaftlern, führenden Staatsbeamten und Industriemanagern dazu verleitete, langfristige Entscheidungen für die ganze Menschheit zu treffen. Der bekannteste Artikel von Weinberg, der 1972 in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Science“ erschien, schlug auch gleichzeitig hohe Wellen: Weinberg erklärte darin, dass – „we nuclear people“ – die nukleare Gemeinschaft also, einen faustischen Pakt abgeschlossen hätte, nämlich eine unerschöpfliche Energiequelle als Gegenleistung einer langzeitstabilen Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Die Hüte- und Wächterfunktion über das radioaktive Gefahrengut würde dabei einer „Atompriesterschaft“ übertragen.[5] Diesen Gedanken schrieb Weinberg in einem späteren Artikel über den „wissenschaftlichen Millenarismus“ fort, der 1999 in der Zeitschrift der amerikanischen philosophischen Gesellschaft erschien. Es war Weinberg klar, dass die nutzniessenden Generationen auch die Verantwortung für die gefährlichen Hinterlassenschaften übernehmen müssten.[6] Nur: wie sollte eine Übernahme einer solchen Langzeit-Verantwortung geschehen? Das Konstrukt das er dazu erschuf hiess „wissenschaftlicher Millenarismus“ – eine Aufgabe für wissenschaftliche Eliten, welche sich fortan um das langfristige Problem annehmen würde.
Aber Weinbergs Überlegungen waren eher Produkte einer biblischen Erziehung, denn eine wirklich praktikable Alternative, wie soziale Verantwortung über Generationen organisiert werden kann. Man würde irgendwie schon mit den Problemen fertig werden, führte Weinberg auch zum Abschluss seines Vortrags über den wissenschaftlichen Millenarismus aus: „Im Ganzen gesehen, bin ich ganz optimistisch über den Ausgang des wissenschaftlichen Millenarismus – denn wenn wir diese Probleme an allen Fronten anpacken, werden wir diese vier Katastrophen “ – gemeint waren der Ausstoss von Kohlenstoffdioxid, der Einschlag von Kometen, die Wasserstoffbombe und radioaktive Abfälle – „gewiss verhindern. Zumindest, werden wir – von unserer Generation – uns jeder Verantwortung gegenüber künftigen Generationen entbunden haben.”
… nukleare Zukunfts-Kolonisation
Immerhin – das muss man Alvin Weinberg zugute halten – hat er sich zumindest Gedanken zu der Frage der Langzeitverantwortung gemacht. Andere Vertreter der nuklearen Eliten waren da weit weniger zimperlich. Anlässlich der vierten internationalen Konferenz der Atomenergieagentur 1971 in Genf [7] entspann sich im Anschluss an eine Anzahl Vorträge eine Diskussion um die Langzeit-Folgen der Herstellung künstlicher Radioaktivität – und damit auch die Frage nach der sozialen Kontrolle solcher Anlagen. Ein Auszug dieser Diskussion gibt einen Einblick in das Denken dieser Generation von Atompromotoren[8]:
Benett Lewis: „ … das, was ich vorschlage, ist etwas ganz anderes, das heisst, dass man statt auf ein bestimmtes Entsorgungssystem besser auf das Faktum setzt, dass der Mensch die Kernenergie bis zum Ende der Zeiten nutzen wird.“
F.L. Culler: „Ich denke, dass ich die gleichen Schwierigkeiten habe mir vorzustellen, dass der Mensch die Kernenergie ewig nutzen wird, wie Sie sich vorstellen können, dass wir in der Lage sind, die Abfälle von der Umwelt fernzuhalten.“
Benett Lewis: „Wie könnten wir ohne Kernenergie auskommen?“
F.L. Culler: „Nun, es kann auch andere Energiequellen geben. Ich anerkenne, dass wir die Kernenergie nutzen müssen, aber glauben Sie, dass es notwendig ist, eine Institution zu haben, um die Abfälle während sehr langen Zeiträumen zu überwachen?“
Benett Lewis: „Dies ist genau der gegenteilige Standpunkt, den ich vertrete. Wir sprechen über ein aktives (Entsorgungs-)System, das Teil eines generellen Dispositivs für die (ewige) Produktion von Kernenergie darstellt.“
F.L. Culler: „Grundsätzlich würde ich dieser Ansicht nicht widersprechen. Diese Idee sollte untersucht werden, aber ich denke, sie ist auf die lange Sicht weniger sicher.“
H.J. Dunster: „Ich schlage einen Kompromiss nach britischem Muster vor. Ich mag die Idee nicht besonders, die künftigen Generationen dazu zu zwingen, eine permanente Überwachung solcher Anlagen an einem besonderen Standort sicherzustellen. Aber ich denke, dass man nicht notwenigerweise annehmen muss, dass der Standort für die Entsorgung immer eine aktiv zu betreuende Anlage bleiben wird. Wenn man Spaltprodukte in der Nähe der Wiederaufarbeitung lagert, wie wir das in Windscale zu tun gedenken, dann kann man jederzeit von einem Stadium des Vollzeitbetriebs zu einem Stadium übergehen, wo man nur noch den Standort überwacht und die Wartung (der Anlage) sicherstellen muss. Wenn die Spaltprodukte in flüssiger Form vorliegen, ist die Wartung eine simple Sache der chemischen Verfahrenstechnik. Wenn sie dagegen in schwer löslichem Glas eingeschlossen sind, dann wird es genügen, die Überwachung des Geländes zu gewährleisten.“
F.L. Culler: „Herr Dunster, muss man Überwachung und Wartung dieser Standorte über 3000 Jahre sicherstellen?“
H.J. Dunster: „Ja, gewiss: 3’000 Jahre ist kein unvernünftiger Zeitraum mehr für eine solche Sache. Aber wenn wir von einer halben Million Jahre reden, dann gebe ich zu, ändert das alles.“
F.L. Culler: „Ich glaube, dass der Zeitraum der betrachtet werden muss, bis das (radioaktive) Material wieder das Niveau natürlicher Radioaktivität erreicht, etwa zwischen 3000 und 10000 Jahren liegt. Es handelt sich also nicht um Zeiträume von hunderttausenden von Jahren. Aber ich kenne keine einzige menschliche Institution, die 1000 Jahre überdauert hätte.“
Benett Lewis: „Das ist etwas, das mit der Einführung des Buchdrucks vergleichbar ist. Der Buchdruck ist nicht verschwunden, er ist zwar nicht seit tausenden von Jahren da, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass wir diese Kommunikationsform aufgeben werden. Wir müssen nicht davon ausgehen, dass die Welt wieder in den Urzustand zurückfällt.“
H.J. Dunster: „Wenn die Welt in ihren Urzustand zurückfallen würde, dann sind dies nicht unsere grössten Probleme.“
F.L. Culler: „Aber haben wir das Recht diese Verantwortung zu übertragen, indem wir uns sagen, wenn die Sache schief läuft, wird sie derart schief laufen, dass es dann ein sekundäres Problem würde. Das ist übrigens notwendigerweise nicht wahr.“
An dieser Stelle schaltete sich Alvin Weinberg in die Diskussion ein, und warf W. Benett Lewis eine bedeutende moralische Kaltherzigkeit vor. Die Antwort, die er 1972 in seinem Artikel über die Kernenergie und die sozialen Institutionen schrieb, zeigt das ganze Dilemma der Kolonisation der Zukunft durch eine Hochrisikotechnologie auf. Eigentlich wusste auch Weinberg, dass eine Verantwortung für eine solche Technik nie der Zukunft übertragen werden könnte. Und damit sind wir auch wieder bei Hannah Arendt angelangt, die nach den organisatorischen und politischen Rahmenbedingungen von Machtausübung frug: den menschlichen Zähnen und Rädern einer Megamaschine, welche administrative und politische Systeme am Laufen halten. Und genau in diesen Bereichen muss die Übernahme von Verantwortung ansetzen, wie wir dies auch in unseren nächsten Beiträgen zu diesem Thema aufzeigen werden.
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