Ver-Ant-Wort-en …
Die Frage der Verantwortung hat Philosophen seit jeher beschäftigt. Verantwortung, lateinisch „responsabilitas“, ging historisch zunächst vor allem mit der individuellen Bereitschaft einher, für seine Handlungen einzustehen und auf Rückfragen, ob Taten und Versprechen denn tatsächlich erfüllt wurden, zu antworten. „Ver-Antworten“ bzw. „Re-spondere“ oder etwas frei assoziert „geloben“, „ver-sprechen“ verschmilzt sprachlich in diesen Begriffen. Sowohl in der germanischen wie in der lateinischen Welt ist Verantwortung also eng mit „Sprache“, „Sprechen“ „Versprechen“, „Wort“ und dem Beteuern, das „Wort zu halten“, verknüpft. Aber nicht mit dem effektiven Tatbeweis, also dem Erfüllen der Tat.
Auch stellten sich Philosophen wie etwa der Stoiker Seneca schon früh Fragen zur Übernahme ziviler Verantwortung oder der Verantwortung für das Gemeindewohl. Aber das Weltbild der Antike wie auch das ihm folgende christliche Weltbild waren noch Welten, in denen Götter oder Gott herrschten. Die Menschen dienten höheren Mächten zu. Ihre Verantwortung lag darin, die gesetzten göttlichen und sozialen Regelwerke der Gemeinschaft zu respektieren. Erst die Aufklärung sprengte diese Beziehung zu transzendenten Welten und übertrug den Menschen eine neue für sein Handeln bestimmte direkte Verantwortung. Damit löste sich der Begriff der Verantwortung aus der individuellen Verankerung und ging in eine gesellschaftliche Rechenschaftspflicht der Machträger über. In die Rechenschaftspflicht einer Gemeinschaft, die einen Kanon von Grundwerten und –normen vertritt und die auch Ethik genannt werden kann. Eine ungeheuerliche Aufgabe. Nur: kann Verantwortung diese ihm übertragene Rolle überhaupt erfüllen?
… oder Ver-Ant-Tat-en ?
Die neuere philosophische Ergründung und Auseinandersetzung mit der Verantwortung ist eng mit einem Kreis von Denkern verbunden, die durch ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit dem zweiten Weltkrieg oder den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus erschüttert worden waren und über Jahrzehnte in einem komplexen Beziehungsnetz verstrickt waren. Prägende Denker waren insbesondere Hans Jonas[1] und Günther Anders[2], Hannah Arendt[3], aber auch Emmanuel Levinas[4], Robert Jungk[5] und viele weitere. Die Philosophie um das Thema der Verantwortung bekam vor allem mit Günther Anders eine besondere Wendung. Anders koppelte Verantwortung auch an die Entwicklung von Technik, da diese dem Menschen völlig neue Mittel in die Hand gibt und damit auch universell zur Bedrohung werden kann. Sinnbild dafür ist die Atombombe und das atomare Wettrüsten, das jegliches vernünftige Denk- und Handlungsmuster sprengt. Anders verwendete dafür den Begriff des promethischen Gefälles[6], für das er folgendes Gleichnis prägte: „Insofern sind wir invertierte Utopisten: während Utopisten dasjenige, was sie sich vorstellen, nicht herstellen können, können wir uns dasjenige, was wir herstellen, nicht vorstellen.“ Und damit meinte er die Folgen unseres Handelns. Und er diagnostizierte als Ursache für diese Blindheit das, was er „überschwellig“ nannte. Eine Schwelle, die ein Erkennen der Folgen mehrheitlich verunmöglichte und dasjenige ausschloss, „was zu gross ist, als dass es noch eine Reaktion, z.B. einen Hemmungsmechanismus, auslösen könnte.“[7] Wer an dieser Analyse zweifelt, der denke an die atomare Aufrüstung, die völlig losgelöst von jeglichem gesunden Menschenverstand (und trotz aller Abrüstung) in den vergangenen Jahrzehnten Dimensionen erreicht hat, die eine multiple Zerstörung des höheren Lebens auf Erden jederzeit möglich macht.
Wir erleben in unser immer stärker technisierten Welt , in der die Werkzeuge des Menschen von immer komplexeren und undurchsichtigeren Algorithmen gesteuert werden, eine Abkehr von der Wahrnehmung und von umfassender Übernahme von Verantwortung. Denn die Verantwortung ist zersplittert, atomisiert, wie die Gesellschaft selber, in Zeit und Raum verdünnt, auf unzählige Schultern verteilt. Vom Physiker der die theoretischen Grundlagen für die Atomphysik legte, von den Wissenschaftlern, die die Technik entwickelten, den Ingenieuren, Chemikern und anderen Wissenschaftlern, die sie dabei unterstützten, den militärischen Behörden, die sie einsetzbar machten bis hin zu den einfachen Menschen, die sie ausführten. Hundertausende, Aber-hundert-tausende, ja viele Millionen wirkten bei solchen Grossprojekten als Zuträger mit. Gefangen in ihrer Zeit, wie auch wir es in der Unseren sind. Aber wer trug schlussendlich die Verantwortung für die damaligen Desaster?
Auch andere Risikobereiche und Wissenschafts- und Technikdisziplinen stehen vor einem ähnlichen Dilemma. Nehmen wir das Beispiel der Landminen, die in vielen fernen Ländern weitab der Produktionsstätten und zu irgendeinem Zeitpunkt Menschen töten oder verletzen. Wer ist da noch verantwortlich? Für Minen in Angola? In Afghanistan? Im früheren Jugoslawien? Wer übernimmt die Verantwortung für die Blindgänger, die im zweiten Weltkrieg über Deutschland abgeworfen wurden, nach ihrer Widerfindung Jahrzehnte später nicht immer erfolgreich entschärft werden können und weitere unschuldige Menschen töten?[8] Bei diesen Betrachtungen tritt auch die Dimension der Zeit zu Tage – Entwickler, Konstrukteur und Hersteller, Befehlshaber, die Einsatztruppen usw. – sind mit allergrösster Wahrscheinlichkeit allesamt unter dem Boden. Doch ihre „Geschöpfe“ richten weiterhin tödliches Unheil an. In diesem einen und einfachen Beispiel widerspiegelt sich auch die gesamte Risikotechnologie und die Komplexität der Verantworlichkeitszuweisung. Zeitlich gesehen am dramatischsten in der Folge an die Herstellung hochtoxischer Waffen- und Abfallprodukte (Figur 1).
Figur 1: Ein Beispiel für die Wirkungsdauer – die Isolationszeiten radioaktiver Abfälle (Isolationszeiträume)
Die Sprache scheitert bei dem Versuch, diese Situation mit Worten zu fassen. Niemand kann eine derartige komplexe Verantwortungskette mehr stemmen, und damit – im Sinne des Wortes – verantworten. Es ist nicht nur eine Frage der anders’schen „Überschwelligkeit“, die versagt, es ist auch eine Frage der Ohnmacht, welche das Individuum vor diesem Hintergrund ergreift. Der Wortsinn der Verantwortung entleert sich dadurch von selber. Der ethisch an einen solchen Wahnsinn anzulegende Massstab ist schon lange nicht mehr das Wort, das Versprechen, wie wir gesehen haben, sondern die Tat, die Erfüllung bzw. Nicht-Erfüllung und damit die Konsequenzen und Auswirkungen dieser Tat. Man müsste also von „Ver-ant-tat-en“, oder „Ver-ant-wirkung-en“ sprechen, um dieser völlig absurden Dimension von Wirkungsketten sprachlich gerecht zu werden. Keiner der heute Lebenden kann das, was bisher als Verantwortung verstanden wurde, in die Zukunft tragen. Verantwortung ist in ihrer Zeit und in ihrem Raum gefangen. Alles was darüber hinweggeht, ist im wahrsten Sinne ver-ant-wort-ungs-los. Unfassbar. Und darum auch nicht mehr benennbar. Worte reichen nicht mehr aus, um Rechenschaft über das eigene Handeln abzulegen und damit abgegebene Versprechen einzulösen. Wir sind als Individuen überfordert. Alle. Auch die Sprache ist es. Hoffnungslos überfordert. Selbst wenn ein roter Punkt das Gegenteil suggerieren will (Figur 2)!
Figur 2: Logo der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra), farbliche Umrandung durch die Blogautoren
Und wie weiter?
Aber auch die Menschen und ihre Gemeinschaften, Strukturen und Institutionen scheinen von dieser Entwicklung überfordert zu sein. Das übergeordnete System Mensch-Maschine samt Schnittstellen beginnt sich zu verselbständigen. Dass die weltweiten Börsen von Algorithmen gesteuert werden und der Handel mit Wertpapieren einer solchen Automatisierung folgt, zeugt davon, wie weit die Menschen und ihre Organisationen Verantwortung an Maschinen und Programme delegiert haben. Aber auch die Steuerung von industriellen Prozessen geht zunehmend in den „Zuständigkeitsbereich“ der Maschinen über. Wissenschaft und Prognostik setzen immer mehr auf Modellierungen, deren Systemgrenzen oft unscharf und deren Wert darum fragwürdig bleiben. Doch diese Entwicklung ist gesetzt und offensichtlich unumkehrbar.
Was also machen mit einer Verantwortung, die so in die Zukunft verlagert wird, dass sie gar nicht mehr wahrgenommen werden kann? Die klassische Vorstellung der Übernahme von Verantwortung, wonach Individuen oder Institutionen für ihr Handeln geradestehen, ist im besagten Risikofeld zweifelsohne nicht mehr anwendbar. Es gibt aber eine zweite Verantwortungsebene, die sich in diesen Fällen geradezu aufdrängt. Es ist die Verantwortung der Prozesssteuerung von zeitlich lang dauernden Risikodossiers. Hier gilt es anzusetzen, wenn die Frage der Verantwortung aufgeworfen wird. Prozesssteuerung ist eine proaktive Aufgabe, bei der ein Risikoprozess aktiv begleitet wird und alle denkbaren Massnahmen zu seiner Risikoverminderung ausgeleuchtet und umgesetzt werden sollten. In unserem speziellen Falle im Umgang mit hochgradig gefährlichem radioaktivem Material heisst dies, alle strukturellen, technischen und wirtschaftlichen Massnahmen zum Schutz von Mensch und Umwelt zu treffen. Dazu gehört auch, dass Organisationsstrukturen und Sicherheitsprozesse installiert werden, die es möglichst gewährleisten, dass Schwachstellen erkannt und beseitigt werden. Wir werden uns in kommenden Blog-Beiträgen solchen Fragen zuwenden.
[1] Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Suhrkamp
[2] Anders, Günther (1980): Die Antiquiertheit des Menschen, Band II, Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, C.H. Beck; derselbe (1984): Die atomare Drohung, Radikale Überlegungen zum atomaren Zeitalter, C.H. Beck; derselbe (2011): Die Zerstörung unserer Zukunft, Ein Lesebuch, Diogenes usw.
[3] Arendt, Hannah (2003): Responsability and Judgment, Knopf Doubleday Publishing Group
[4] Levinas, Emmanuel (1998): L’Éthique comme philosophie première, Rivages Paris
[5] Jungk, Robert (1977): Der Atomstaat, Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit, Kindler
[6] Prometheus: Titane, Menschenfreund und Feuerspender, Opfer des Zeus
[7] Anders, Günther (1984/1993): Die atomare Drohung, Beck’sche Reihe, S. 96.ff
[8] Spiegel on-line (2014): Unfälle mit Blindgängern seit 1990, 03. März 2014, www.spiegel.de › Panorama › Gesellschaft › Zweiter Weltkrieg; siehe auch https://www.youtube.com/watch?v=-rXL7wEPImU
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