Photo: ein schweres Generationenproblem!
Szenarien
Darüber zu sprechen ist politisch nicht korrekt; es ist auch ethisch nicht vertretbar, fast unanständig: die „Null-Lösung“. Das würde heissen: Die Schweiz gibt ihren „Sachplan geologische Tiefenlager“ auf. Damit würde sie die sichere Beseitigung der radioaktiven Abfälle noch weiter hinaus schieben, als dies schon heute geschieht. Vielleicht wäre es gar ein Verzicht auf die geologische Tiefenlagerung?
Weshalb also doch darüber sprechen? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil verschiedene Fakten dafür sprechen, dass man das Szenario nicht ausschliessen kann. Zwei Szenarien illustrieren dies:
Szenario 1: Das Projekt steht im Widerspruch zu grundsätzlichen Sicherheitsansprüchen; die Rahmenbewilligung kann nicht erteilt werden, oder sie wird in einer nationalen Volksabstimmung abgelehnt[1]. Wir haben die Problematik X-fach in unseren Blog-Seiten erwähnt. Etwa die Tatsache, dass heute offensichtlich weder Nagra noch Ensi beabsichtigen, den Permokarbon-Trog im geologischen Untergrund der evaluierten Lagerstandorten zu erkunden denn, wie wir das kürzlich in einem Blog-Beitrag zu einem andern Thema schrieben: „Ja nicht den Heuhaufen durchsuchen, man läuft sonst Gefahr, eine Nadel zu finden!“ Und diese Nadel könnte im vorliegenden Fall schlicht darin bestehen, dass der besagte geologische Trog interessante Rohstoffe enthält (Kohlenwasserstoffe, Geothermie, ev. Erzvorkommen), die man nicht einfach mit einem Verbot, oder einer Auszonung vor Ausbeutung schützen kann. Späte Einsicht unserer Sicherheitsagentur, oder ein schlichter Befund, etwa im Rahmen einer Geothermiebohrung die auf mehr als nur Wärme stösst, könnten das Sachplanschiff in Seenot bringen.
Szenario 2: Der finanzielle Aufwand für die Realisierung des geologischen Tiefenlagers erweist sich als zu hoch. Wie wir in unserem Blog-Beitrag vom 16. Dezember 2016 gezeigt haben[2], zeigt der Kursor der Kostenstudie 2016 einen Aufwand von mindestens 24 Milliarden Franken für die Stillegung der Kernkraftwerke und die geologische Tiefenlagerung der radioaktiven Abfälle in der Schweiz; Tendenz: steigend. Und dies in einer Zeit, in welcher die geplante Geldquelle, d.h. der Gewinn bringende Verkauf von Strom aus Kernkraftwerken versiegt (Abbildungen 1 und 2). Was nun, wenn die aktuelle gute Wirtschaftslage einbricht und Kantone und Bund den Aufwand für die Steuerzahler für nicht verkraftbar halten?
Grundsätzlich wäre dann eine Lagerung im Ausland denkbar und gesetzlich auch zulässig.[3] Aber auch hier: Zu welchem Preis? Ausserdem ist es denkbar, dass auch das Projekt „Cigéo“[4] in Frankreich am Volkswiderstand scheitert, ebenso wie der neue Versuch zu einer Lösung in Deutschland[5]. Auch in Finnland ist es denkbar, dass die heute erkennbaren Wasserinfiltrationen ins Tiefenlager zu einem politischen Thema[6] werden.
Alles rein negative, unwahrscheinliche Fiktionen? Vielleicht nicht; man kann die Szenarien in Anbetracht der Entwicklungen innerhalb und im Umfeld der verschiedenen nationalen Programme und Projekte nicht ausschliessen. Verbieten wir uns also nicht, darüber nachzudenken.
Figur 1: Börsenstrompreis am EEX (European Energy Exchange) von Januar 2007 bis Januar 2016 (https://www.stromsparer.de/strompreisentwicklung/)
Figur 2: Entwicklung der Stilllegungs- und Entsorgungskosten in der Schweiz (unter Verwendung der Kostenstudie 2016 der Swisselectric[7])
Die Schweiz ohne Tiefenlager
Gehen wir also davon aus, dass der Sachplan geologische Tiefenlager im Jahr 2050 (vorher? nachher?) fest sitzt. Die seit 1978 (Projekt Gewähr) erarbeiteten Resultate der Nagra erweisen sich als ungenügend und zur Lösung der Aufgabe nicht zielführend. Es ist also damit zu rechnen, dass weitere Jahrzehnte und im schlechtesten Fall Jahrhunderte vergehen werden, bis die radioaktiven Abfälle endlich sicher entsorgt sind, falls sie dies überhaupt je sein werden. Welches sind die konkreten Folgen? Hier eine kurze Aufzählung:
- Lagerstandort: Wir können (optimistisch!) davon ausgehen, dass praktisch alle Abfälle, also schwach, mittel und hoch radioaktive Abfälle in Würenlingen, hinter den dicken Betonmauern der Gebäude des Zwilag[8] gelagert sind. Auch die Abfälle aus dem Abbruch der fünf kommerziellen Kernreaktoren haben den Weg nach Würenlingen gefunden, oder sind auf dem Weg zum Zwilag. Einzig Abfälle aus Medizin, Industrie und Forschung liegen ausserhalb des Zwilag, im weit weniger robusten Bundeszwischenlager.
- Zustand der Abfallgebilde: Die Abfallgebilde der verschiedenen Abfälle waren für eine wenige Jahrzehnte dauernde Lagerung vorgesehen. Nun zeigen die Gebinde je länger je mehr Schwächen. Geringe Mengen von radioaktiven Stoffen dringen nach aussen; die Abfälle müssen neu verpackt, zum Teil auch vorgängig neu behandelt werden (z.B. thermische Behandlung der Harze aus den Filteranlagen der Kernreaktoren). Brennstoffstäbe können deformiert werden; man wird sie je länger desto weniger leicht aus den Behältern für die Zwischenlagerung herausholen und in Endlagerbehälter umfüllen können.
- Zustand der Lagergebäude: Aus dem Autobahnbau haben wir gelernt, dass Betonbauten einige Jahrzehnte überleben. Auf die Länge werden sie porös,und rissig. Karbonatisierung zersetzt den Beton und führt zur Oxydation des Betoneisens. Wie lange es dauern wird bis diese Prozesse die Gebäude des Zwilag schwächen werden, ist schwer abschätzbar. Werden es 50, 80, 100 oder gar 200 Jahre sein? Geschwächte Gebäude werden bei Erdbeben, aber auch bei Überflutungen (aussergewöhnliche Hochwasser der Aare) weniger Widerstand leisten. Früher oder später besteht akute Gefahr, dass radioaktive Stoffe in die Umwelt, beispielsweise ins Grundwasser gelangen.
- „Einwirkung Dritter“, Flugzeugabsturz, Kriegsereignisse: Ob langfristig eine Garantie gegen Schäden und die Freisetzung radioaktiver Stoffe durch gezielten Flugzeugabsturz besteht, wird weiterhin vom generellen Zustand der Lagergebäude (Dachkonstruktion) und den verwendeten Mitteln zum Anflug, ev. auch zur Bombardierung abhängen. Ein ewig heisses Eisen in der Debatte um nukleare Sicherheit . . .
Gegen „Einwirkung Dritter“, im Sinne von Terroraktionen, muss das Lager permanent durch eine bewaffnete Polizeikraft bewacht werden. Wie stark diese Kraft sein muss, wird von künftigen Bedrohungsszenarien abhängen. Als grösste Bedrohung kann man aus heutiger Sicht Sabotage und Diebstahl von radioaktivem Material zur Herstellung schmutziger Bomben vermuten. Aber was wird dies im Jahr 2050 sein?
Glaubten wir in Mitteleuropa die Kriegsgefahr nach dem 2. Weltkrieg und dem Kalten Krieg für langfristig gebannt, so sehen wir heute, d.h. nach dem Jugoslawienkrieg, der schwankenden Europäischen Union, den unberechenbaren Regenten in Ost und West, dass ein bewaffneter Konflikt früher oder später sehr wohl selbst in Zentraleuropa nicht ausgeschlossen werden kann. In diesem Falle, wie schon in den andern oben erwähnten Fällen, kann aus heutiger Sicht einzig ein Lager im geologischen Untergrund Schutz bieten.
- Wissen und können: Schon heute ist es schwierig, kompetente Wissenschaftler und Ingenieure für Fragen der geologischen Tiefenlagerung in der Schweiz zu finden. Auch im Bereich des Strahlenschutzes sind kompetente Personen selten geworden. Diese Situation dürfte sich künftig noch verschärfen und damit das Problem des Erhalts der Sicherheit noch schwieriger gestalten.
- Verantwortung und Aufsicht: Im Jahr 2050 stehen alle Kernkraftwerke still. Der Rückbau ist teilweise abgeschlossen, oder liegt in den letzten Zügen. Die Elektrizitätsgesellschaften (falls sie dann noch existieren . . .) stellen ihre letzten Mitarbeiter frei. Das Pflichtenheft der Sicherheitsagentur (heute das Ensi) ist an einem Tiefpunkt angelangt. Es stellt sich die Frage nach der Neuorganisation der Aufsicht in einer Situation, in welcher sich kaum noch jemand in diesem Lande für nukleare Sicherheit interessiert.
- Finanzierung: Und das für die Sicherung der Aufgaben benötigte Geld? Es wird an allen Ecken und Enden fehlen, Stromproduzenten werden nicht mehr mitfinanzieren (siehe oben) und die Risikospirale wird sich noch beschleunigen.
Der Generationenkonflikt
So sind wir denn gewarnt! Ohne sichere Entsorgung wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus einem Zwischenlager Radioaktivität in die Umwelt gelangen. Wir hinterlassen unsern Kindern und Kindeskindern mit einer „Null-Lösung“ eine Zeitbombe im eigentlichen Sinne des Wortes, ohne doppelte Bedeutung! Die „Null-Lösung“ ist also keine!
Uns ist heute bewusst: Die Entwicklung der zivilen Kernenergie ohne vorherige Lösung des Abfallproblems war eine unsägliche Dummheit! Es gälte heute, zumindest das Mögliche zu tun, um die Schäden die aus diesem Handeln entstehen, wenn nicht zu korrigieren, so doch nach bestem Wissen und Gewissen so klein wie möglich zu halten.
Kommentar verfassen