Es ist schon eigenartig: seit Jahren werden Bundesbehörden nicht müde, wissenschaftliches Vorgehen und Sicherheit an die oberste Stelle bei der schwierigen Suche nach einer Lösung für das Problem der radioaktiven Abfälle zu stellen. Auch Bundesrätin Doris Leuthard sprach bei ihrem Besuch in Marthalen am Mittwoch 11. November 2015 von „Sicherheit im Zentrum“ (Tagesanzeiger, 12. November 2015, S. 21)[1]. „Jemand muss das Lager nehmen“ war eine weitere der Kernaussagen der Bundesrätin. Der Prozess, so die Berichterstattung im Tages-Anzeiger, habe das Ziel, den sichersten Standort zu definieren.
Diese Aussage der Bundesrätin ist die Aussage einer Politikerin in einem politischen Prozess. Sie deckt die Anliegen einer politischen Agenda des Bundes ab, nicht aber die Anforderungen, die seitens der Wissenschaft an einen Standortwahlprozess zu stellen sind. Nicht vergessen werden sollten in diesem Zusammenhang die Erfahrungen bei der Standortwahl aller grossen Sondermülldeponien in der Schweiz und aller bisheriger Standortwahl-Programme für radioaktive Abfälle. Ausnahmslos wiesen die Standortwahlprozesse für Sondermülldeponien schwere Defizite auf (z.B. Kölliken, Bonfol, Monthey, Gamsenried). Mit den bekannten Folgen: entweder Absturz des Projektes oder bei der Durchsetzung einer Deponie auf schlechtem Untergrund die spätere Verschmutzung des Untergrundes und des Grundwassers und in der Folge Sanierungen in der Höhe von bis zu einer Milliarde pro Objekt (Deponie Kölliken, SMDK). Grund genug also, Sicherheit und politische Prozesse nicht zu vermischen. Wissenschaft und Sicherheit sind als oberste Maximen bei der Standortsuche zu betrachten.
Ein wissenschaftlicher Prozess sollte vom Grundsatz her immer offen sein. Das bedeutet, dass Ergebnisse nicht vorweggenommen werden dürfen. Dies deckt sich mit der Anforderung an Ergebnisoffenheit, die – zumindest formal – auch immer beschworen wird. Gerade die ausserordentliche Gefährlichkeit radioaktiver Abfälle und die enormen Schwierigkeiten, beziehungsweise oft die Unmöglichkeit, radioaktiv verseuchte Gebiete zu sichern und zu „sanieren“, sollten uns darum zu spezieller Vorsichtig bei der Umsetzung von Standortwahl-Programmen verpflichten. Es hilft dem Problem der radioaktiven Abfälle nicht weiter, Projekte umzusetzen, die später zu Absturzprojekten oder zu Sanierungsfällen werden. Nach dem radiologischen Unfall in der Waste Isolation Pilot Plant WIPP[2] vom Februar 2014 zeigen die Explosionen in der Deponie für schwachaktive Abfälle in Beatty[3] vom Oktober 2015 einmal mehr, dass mit diesen Stoffen nicht zu spassen ist. Sowohl die planerische Sorgfalt bei der Standortwahl, wie auch die Umsetzung eines risikobasierten Managements der Anlagen wurden in beiden Fällen mit Füssen getreten.
Genau aus diesen Gründen ist es so wichtig, wissenschaftliche Prozesse offen zu halten und Ergebnisse eines solchen Prozesses nicht vorwegzunehmen. Es ist durchaus denkbar, dass sich keiner der gewählten Standorte für die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle in der Nordschweiz eignet. Und dann? Will man den gleichen Fehler begehen wie in der Vergangenheit und ein Projekt entgegen wissenschaftlichen Unsicherheiten oder Zweifeln durchsetzen? Gegen jegliche Vernunft? Ist es nicht gerade ein Gebot dieser Vernunft, dieses Verfahren ergebnisoffen durchzuführen und bei Evidenzen und Zweifeln, die gegen ein solches Unternehmen sprechen, abzubrechen?
Der Standortwahlprozess für Etappe 3 muss schleunigst ergänzt werden. Und zwar bevor Feld-Untersuchungen, insbesondere Bohrungen, ausgeführt werden. Es gilt, das sehr wohl brauchbare Kriterien-Set des Sachplan-Konzepts so zu konkretisieren, dass klar entschieden werden kann, wann ein Standort weitergezogen werden kann und wann eben nicht. Dazu braucht es klare Ausschluss- oder Killerkriterien. Wir werden im Laufe der nächsten Wochen darum eine Diskussion um solche Kriterien anstossen und eine erste Auslegeordnung von Killerkriterien vornehmen.
Zunächst aber werden wir uns dem Kern des Problems annehmen, der zu einer Reevaluation der Standortvorschläge der Nagra geführt hat: den bautechnischen Fragestellungen. Also Konzepte der Erschliessung des Lagers, der Lagerauslegung, Charakteristiken der Stollen, bautechnische Verfahren, Fragen zum Verschluss und zur Rückholbarkeit.
Referenzen
[1] https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/-Jemand-muss-das-Lager-nehmen/story/20236370
[2] https://energy.gov/em/articles/doe-issues-wipp-radiological-release-investigation-report
[3] https://www.youtube.com/watch?v=ktjYk3NWam8; https://www.youtube.com/watch?v=8VHylGDOvwU
Madame Noyau
Eindrücklicher Dokumentarfilm zum WIPP Desaster: https://containmentmovie.com
Marcos Buser
Vielen Dank, Frau Noyau, ein guter Filmtip, freundliche Grüsse M. Buser