Photo: Kaltzeit
Dass das Klima und die damit zusammenhängenden hydrologischen und hydrogeologischen Zyklen einen wichtigen Einfluss auf ein Tiefenlager in hunderten von Metern Tiefe und auf die Langzeitsicherheit einer solchen Anlage haben könnten, ist eine allgemein akzeptierte Erkenntnis. Weniger bewusst – und auch weniger reflektiert – ist uns hingegen der Zusammenhang zwischen Klima, Gesellschaft und nuklearer Entsorgung. Dies lässt sich unter anderem damit erklären, dass die zuständigen Institutionen die Probleme der nuklearen Entsorgung über Jahrzehnte unterschätzten, beziehungsweise Umsetzungs- und Zeitpläne vorlegten, die jenseits jeglicher vernünftiger Planung lagen (und zum Teil noch liegen). Langsam beginnen sich die wirklichen Zeitspannen abzuzeichnen, während denen sich die Gesellschaft mit ihrem radioaktiven Legat abzuplagen haben wird. Es handelt sich dabei nicht mehr um Jahrzehnte, sondert um hundert, zweihundert und mehr Jahre, bis der Verschluss eines Tiefenlagers erfolgt sein wird – eine Zeitspanne, in der klimatische Veränderungen eine tiefgreifende Wirkung auf menschlichen Gesellschaften und Kulturen haben können.
Was Geschichte alles erzählt
Noch im 20sten Jahrhundert wurde Geschichte als eine Darstellung und Interpretation von Ereignissen, Entwickungen, Zeugnissen und Dokumenten angesehen, die nur selten und zögerlich in einen Gesamtzusammenhang mit der Entwicklung des Planten Erde gestellt wurden. Historiker erzählten gut recherchierte Geschichten von Völkern, Gesellschaften und ihren Taten, währenddessen Geologen und Klimatologen andere, aber im Aufbau ähnliche Naturgeschichten über die Erde, das Wetter und das Klima zusammenstellten. Diese Welten waren getrennt und lebten eigenständig und isoliert vor sich her. Erst in den letzten Jahrzehnten begannen wissenschaftliche Disziplinen vermehrt um sich zu schauen und entdeckten Reichtum, Vielfältigkeit und Nutzen anderer Weltbetrachtungen. Sie lieferten den Beweis für die Richtigkeit und Wichtigkeit von inter- und transdisziplinärer Forschung. Namentlich Beispiele von naturwissenschaftlicher, historischer und geisteswissenschaftlicher Forschung rund um das Klima bezeugten die Pertinenz dieses Ansatzes.
Als die Wikinger …
Um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen: Die Expansion der Wikinger nach Island und „Grünland“ (Grönland), dem Nordosten Englands, der Atlantikküste Frankreichs und der Normandie, nach Nordafrika und Sizilien, wurde zunächst als klassische Eroberungsgeschichte eines barbarischen Volkes aus dem hohen Norden geschildert. Warum gerade so ein kleines Volk aus dem hohen Norden derart erfolgreich expandierte, blieb unbeantwortet. Erst als das mittelalterliche Klimahoch in die Interpretation der Fakten mit einbezogen wurde, wurde ein Kontext sichtbar, aus dem sich eine kohärente Erklärung für diese unglaubliche Expansion ergab. Wärmeres Klima hiess längere Sommer, bessere Ernten, rasches Bevölkerungswachstum und vor allem: die mittelalterliche Wärmephase setzte Kräfte frei, die bisher durch den Überlebenskampf der Völker gebunden waren. Interpretationen dieser Art erlaubten es endlich, klimatische und historische Entwicklungen zu einem stimmigen Gesamtbild zu vereinen.
Klimatische Faktoren können inzwischen auch weiter zurückliegende historische Entwicklungen erklären: Trocken- und Dürrekatastrophen im babylonischen Mesopotamien führten etwa zum Niedergang des älteren akkadischen Reiches; globale Kältephasen in der Folge von Vulkanausbrüche in Indonesien oder Papua-Neuguinea bescherten dem gesamten Mittelmeerraum (und vermutlich weit darüber hinaus) nach dem Jahr 530 schwere Missernten und in der Folge eine erste massive Pestepidemie. Der massive Kälteeinbruch der kleinen Eiszeit lässt sich mit Ereignissen wie dem dreissigjährigen Krieg in Verbindung setzen; auch die Cholera-Pandemie, die sich nach dem Ausbruch des Tambora 1816 und der während anderthalb Jahrzehnten folgenden weltweiten klimatischen Abkühlung breit machte, lässt sich mit den Folgen dieses Wandels in Verbindung setzen. Die Literatur zu solchen Ereignissen und Entwicklungen ist mittlerweile zahlreich, wie ein kurzer Blick in eine Bücherauswahl zeigt (siehe Kästchen).
Geschichte ist nicht kontextlos
Was viele dieser Beispiele erzählen und belegen ist, dass die Kulturgeschichte des Homo sapiens immer in übergeordnete Kontexte eingebettet war und ist. Dank neuen Messtechniken können klimatischen Schwankungen in den jungen Entwicklungsphasen der Erde sehr genau dokumentiert und in Verbindung zur gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung von Völkern gebracht werden. Was für die Vergangenheit gilt, dürfte aber auch für die Zukunft Gültigkeit haben. Dieses komplexe Auf und Ab der Warm- und Kaltzeiten und die Reaktion der Gesellschaften auf solche Herausforderungen werden sich in der Zukunft fortsetzen und Mensch und Gesellschaft in ihren Handlungen grundlegend prägen.
Neu in der Entwicklungsgeschichte des Menschen ist allerdings, wie dieser mit den gefährlichen Hinterlassenschaften seiner Vorfahren in einem sich rasch wandelnden Umfeld umgehen will. In der Fachliteratur finden sich diesbezüglich erst im letzten Jahrzehnt vermehrt Gedanken zu möglichen Entwicklungen dieser Art. Das abrupte Ende von Kulturen hat einige Wissenschaftler dazu veranlasst, nach den Zusammenhängen im Umfeld der Zusammenbrüchen zu suchen. Spezifische Risiken wie etwa das heute über die Erde verstreute ABC-Waffenarsenal, oder das weltweite Nuklearpotential inklusive Abfälle, wurden allerdings kaum in solche Risikobetrachtungen mit eingeschlossen. Den für die nukleare Entsorgung verantwortlichen Institutionen und Organisationen sind solche Gedanken ebenfalls fremd, weil sie von völlig falschen zeitlichen Umsetzungszeiträumen ausgingen und –gehen. Dabei sollte gerade ein Mehrjahrhundertprojekt wie das der nuklearen Entsorgung sich unbedingt solcher Fragen annehmen.
Dringend angegangen werden muss etwa die heutige Zwischenlagerung radioaktiver Abfälle, die in vielen Ländern der industrialisierten Welt immer noch schlecht geschützt an der Oberfläche praktiziert wird. Ein plötzlicher Kälteeinbruch wird Gesellschaften vor andere Probleme stellen, als die, nach Lösungen für ihre radioaktiven Abfälle suchen zu müssen. Dies ist zweifelsohne auch ein wichtiges Argument dafür, keine unnötige Zeit bei der Suche nach machbaren und verantwortungsvollen Lösungen der Tiefenlagerung zu verlieren. Bis es aber soweit ist, müssen die erforderlichen Sicherungen in ein solches System eingebaut werden: Zwischenlager müssen besser geschützt werden gegenüber sich verändernden gesellschaftlichen Entwicklungen und gegenüber globalen Umweltprozessen. Es sollten darum gezielt Forschungsprogramme angestossen werden um zu erforschen, wie mit solchen Risiken umgegangen werden könnte, falls solche kurzfristig über den Globus hereinbrechen sollten. Dass dies durchaus im Bereich des Möglichen liegt, lässt sich mit Blick auf die beiden global wirkenden Vulkanausbrüche des 19ten Jahrhunderts (Tambora 1816, Krakatau 1875) durchaus begründen.
Kästchen: Eine Auswahl weiterführender Literatur
Ronald D. Gerste, Wie das Wetter Geschichte macht, Katastrophen und Klimawandel von der Antike bis heute, Klett-Cotta, 2015.
Der Arzt und Historiker Gerste erzählt in dreissig kleinen Kapiteln Geschichten über Klima und Gesellschaft. Das spannend und süffig geschriebene Buch beginnt seinen historischen Streifzug in der römischen Warmzeit, geht dann zu Geschichten in einer kältere Zeitphase zu Ende des römischen Reichs über, setzt seine Betrachtungen in der mittelalterlichen Wärmephase fort und schliesst seinen Rückblick auf die letzten 2’500 Jahre mit kurzen historischen Schreckensgeschichten über den Klimawandel während der kleinen Eiszeit. Was wir da nicht alles erfahren: von Vulkanausbrüchen, Himmelverdunkelung und Hungersnöten im oströmischen Reich und einer Pestepidemie im frühen 6sten Jahrhundert; von der mittelalterlichen Wärmeperiode, der die Gletscher der Alpen schmelzen liess und die Wikinger nach Island und Grönland segeln liess; über die mehrfach gescheiterten Invasionen der Mongolen in Japan; dem Untergang der spanischen Armada in den sommerlichen Stürmen und Unwettern des Nordmeers; bis hin zur letzten Schlacht Napoleons, die in Regen und Schlamm stecken blieb; dem Jahr ohne Sommer und dem Ausbruch des Tambora; dem im Eis endenden Vormarsch der nazideutschen Wehrmacht; oder der kalifornischen Dürre im Jahr 2015. Ein kurzweiliges, informatives Buch, ideal als lockere Ferienlektüre.
Wolfgang Behringer; Kulturgeschichte des Klimas, von der Eiszeit zur globalen Erwärmung, dtv, 2011
Der an der Universität des Saarlandes tätige Historiker und Professor legt ein sehr gut dokumentiertes kleines Buch über den Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft dar. Nach einem Einstieg in die Quellen der Klimageschichte und die klimatischen Evolutionen während der Erdgeschichte, leuchtet Behringer die ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen des Klimawandels in der jüngeren Geschichte aus. Das gesellschaftliche Wirken wird in den Kontext von Wetterkapriolen wie von Hitze- und Kälteperioden gesetzt. Das äusserst sorgfältig referenzierte Buch vertieft die Geschichten, die man bereits aus dem Buch von Ronald Gerste kennt. Behringer schlägt eine Brücke zwischen dem klimabedingten wirtschaftlichen und soziologischen Wandel und den Erklärungsmustern der europäischen Gesellschaft: die „Sündenökonomie“ des Hochmittelalters hinterlässt nicht nur tiefe Spuren in der Gesellschaft selber, sondern bahnt auch den Weg in die Moderne, in dem der Wandel in der Organisation der Gesellschaften auch eines geistesgeschichtlichen Unterbaus bedürfen. Behringers Buch ist ein Muss für all jene, die sich vertieft mit einer gesellschaftskritischen Darstellung von Klimawandel und Kulturgeschichte auseinandersetzen möchten.
Wolfgang Behringer; Tambora und das Jahr ohne Sommer, Wie ein Vulkan die Welt in die krise stürzte, C.H. Beck, 2015
In einem weiteren Buch geht Behringer der Tambora-Eruption im Jahr 1815 nach und zeichnet im Detail die weltweiten klimatischen Folgen des Ausbruchs nach, vor allem aber die politischen und sozialen Implikationen dieses Ereignisses in der Welt. Ein ausgezeichnetes Buch, das den gesellschaftlichen Folgen dieses Vulkan-Ausbruchs anhand zeitgenössischer Quellen detailliert nachgeht.
Philipp Blom, Die Welt aus den Angeln, eine Geschichte der kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart, Hanser, 2017
Der Historiker Philipp Blom, bekannt auch für seine Studien zu den Vor- und Zwischenkriegsjahren um die beiden Weltkriege, schärft das bereits von Behringer gezeichnete Bild des Klimawandels und seiner wirtschaftlichen, sozialen und geistesgeschichtlichen Auswirkungen. Seine Geschichte spielt ausschliesslich in dem Zeitraum, der als kleine Eiszeit benannt wird und umfasst vor allem die Spanne zwischen den Jahren 1570 bis 1700. Blom beleuchtet nicht nur den bereits bekannten Motor der Sündenökonomie Behringers, er weitet die Bedeutung dieser Krisenzeit auf die Hinterfragung der geistesgeschichtlichen Grundlagen der Gesellschaft aus. Die göttliche Vorsehung wird zunehmend hinterfragt und mit ihr der Glaube und alle historisch tradierten Fundamente. Die Schriften Bauch Spinozas ziehen den alteingesessenen Weltbildern den Boden unter den Füssen und öffnen Türen für eine neue – und moderne – Betrachtung der Welt. Bloms Buch verbindet letztendlich die durch die kleine Eiszeit initiierten Veränderungen in einem grossen Bogen mit der geistesgeschichtlichen Entwicklung der europäischen Kultur. Ein ausserordentlich spannendes, gut geschriebenes aber auch anspruchsvolles Buch, das nur empfohlen werden kann.
Heinz Wanner, Klima und Mensch, eine 12’000-jährige Geschichte, Haupt, 2016.
Der emeritierte Professor am Geographischen Institut der Universität Bern meldet sich mit einem Lehrbuch zu Wort, das die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Klimasysteme erklärt, die verschiedenen natürlichen Klimaarchive beschreibt und Möglichkeiten und Grenzen der Klimarekonstruktion aufzeigt. Er leuchtet danach die Klimageschichte des Holozäns – der letzten 12’000 Jahre zählenden geologischen Zeitstufe – aus und schlägt schliesslich die Brücke zu den gesellschaftlichen Auswirkungen solcher klimatischer Veränderungen. Wanner zeichnet die Knochenarbeit, dem Klimawandel nachzuspüren, akribisch nach und zeigt dadurch auf, dass die Geschichte des Klimas und die Geschichte von Prognosen mit grosser Vorsicht angegangen werden sollten. Seine abschliessenden Überlegungen zu den Auswirkungen des Klimawandels auf Gesellschaften und die raschen Veränderungen solcher Entwicklungen zeigen, wie wichtig es in der heutigen Zeit wäre, sich solch grundlegenden Gedanken zu widmen. Ein spannendes, wenn auch eher trocken geschriebenes Buch, das Geschichts- und Sozialwissenschaftler wie interessierten Laien einen guten Einblick in die Grundlagen der Klimageschichte gibt.
Sehr zu empfehlen sind zudem folgende Bücher:
Ein – leider vergriffener – Klassiker ist Christian Pfisters 1999 erschienenes Buch „Wetternachsage, 500 Jahre Klimavariationen und Naturkatastrophen, Paul Haupt, Bern“, in dem die Wetterverhältnisse und –Variationen nachgezeichnet und auch Katastrophen wie Überschwemmungen, Winterstürme, Lawinen und Erdrutsche behandelt werden. Eine spannende Lektüre mit wertvollen Grundlagedaten.
Wolfgang Glasers erweitertes Werk, im Jahr 2008 erschienen und mittlerweile ebenfalls vergriffen, „Klimageschichte Mitteleuropas, 1200 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen, 2. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt“ führt wie Pfister die Klimageschichte vor, allerdings etwas weiter in die Vergangenheit. Eine tolle Graphik ist die Abbildung 14, in der die Methoden der Klimabeobachtung seit der Antike zusammengetragen und zeitlich in Beziehung gesetzt werden. Wie Pfisters „Wetternachlese“ ein empfehlenswertes Buch.
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