Bild: Vom Winde verweht! (Zitat Margareth Mitchell; Street Art, Pisa)
„Alter schützt vor Torheit nicht“
(nach W. Shakespeare)
Gelegentlich werden wir Blog-Autoren darauf angesprochen, welchen Ausweg wir denn aus der sich abzeichnenden Sackgasse des Sachplans nukleare Tiefenlagerung sähen. Denn Kritik allein werde ja das Problem der sicheren Entsorgung der radioaktiven Abfälle nicht lösen[1].
Zunächst ist daran zu erinnern, dass dieser Blog nicht am Anfang unserer Beschäftigung mit der nuklearen Entsorgung steht. Während Jahren und Jahrzehnten beschäftigten wir uns als Studenten, später als Geologen in unseren professionellen Funktionen mit der Entsorgungsfrage und publzierten auch darüber. Wir wirkten im Laufe der Zeit auch in folgenden Fachkommissionen und Aufsichtsgremien bei der Suche nach Lösungen mit: Kommission für die nukleare Entsorgung (KNE), Kommission für die Sicherheit der Kernanlagen (KSA), Expertenkommission Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle (EKRA), Kantonale Fachkommission Wellenberg (KFW), Aufsichtskommission internationales Forschungs-Laboratorium Mont Terri, Beirat nukleare Entsorgung, Kommission für nukleare Sicherheit (KNS). Fünf dieser Organe standen während mehreren Jahren unter dem Präsidium des einen oder andern Blogautors. Dass wir uns am Ende unserer beruflichen Tätigkeit aus den letzten beiden dieser Organe zurückzogen, um uns wieder ausserhalb der offiziellen Gremien zu nuklearer Sicherheit und Entsorgung zu äussern, hat gute Gründe. Wir mussten vermehrt feststellen, dass in Fragen der nuklearen Sicherheit die schweizerische Politik und die Umsetzung von Sicherheitsanliegen massive Rückschritte erlitten hatten: Schwächung der nuklearen Aufsicht, Führungsprobleme, blinde „administrative“ Umsetzung von Planungsprozessen sowie fehlende oder unterentwickelte Diskussions- und Sicherheitskultur. Dies sind nur einige Beispiele für die Defizite im heutigen System der nuklearen Entsorgung.
Nachdem die Schweiz beschlossen hat, aus der Atomenergie auszusteigen, wird vermehrt sichtbar, wie sehr die Presse, politische Parteien und selbst Umweltorganisationen der Analyse und Kritik der nuklearen Unsicherheit müde geworden sind – und dies eben jetzt, wo die Stilllegung der ältesten Kernreaktoren immer dringender wird und sich grundlegende Fragen zur Weiterführung des Atomprogramms Schweiz unter völlig neuen Rahmenbedingungen stellen.
Auch in unserem Blog geht es uns, wie schon immer, um die nukleare Sicherheit und die Lösung der Entsorgungsfrage. Nur eben („Alter schützt vor Torheit nicht“) im Sinne von geordneten, wissenschaftlichen Verfahren mit dem Ziel nachhaltiger Lösungen, jedoch nicht – wie seit Jahrzehnten – mit politischen Kompromissen, die nachträglich scheitern. Im Vordergrund steht dabei die Analyse der Prozesse, dann das Hinterfragen der Strukturen und ihrer Akteure. Aus den Erkenntnissen ziehen wir Schlüsse und vermitteln Verbesserungsvorschläge.
„Wem die Schuppen nicht von Augen seynd gefallen“
(Lehmanns Sprichwörter 53, 54)
Heute reicht hin- und zuschauen nicht mehr, um die Unzulänglichkeiten in der nuklearen Aufsicht zu erkennen, ebenso in der Prozessführung im Sachplanverfahren wie auch in der Führung des Entsorgungsprogrammes als ganzem. Statt von den Augen zu fallen, kleben die Schuppen an ihnen. Je länger je mehr verstricken sich die Nagra als Entsorger, das Ensi als Sicherheitsbehörde und das BFE als leitendes Amt in Widersprüchen. Diese betreffen die Vergangenheit (z.B. das Wellenberg-Verfahren), eigene Aussagen (z.B. Vorschläge Standortgebiete oder Bohrgesuche Nagra[2]) oder längst bekannte Fakten (v.a. geologische Fakten). Treten Schwierigkeiten in der Prozessführung auf, wird der Planungsprozess stillschweigend angepasst. Werden Fristen nicht eingehalten, wird ohne Begründung verlängert. Werden fachliche Einwände laut (z.B. Anlagen über Grundwasser, Erkundungsvorgehen), mauern die zuständigen Institutionen, bis der fachliche und politische Gegendruck so gross wird, dass das Vorgehen von den verantwortlichen Institutionen angepasst werden muss.
Kürzlich wurde das geschilderte Reaktionsmuster anhand der Zurückstellung des Standorts „Nördlich Lägern“ einmal mehr dokumentiert. Dieses völlig kontraproduktive Mauern hat bereits weitere Verzögerungen des Sachplans um mindestens ein Jahr zur Folge. Doch schon bahnen sich die nächsten Schwierigkeiten bei der Eingabe der Bohrgesuche für Etappe 3 an. Die Muster wiederholen sich von Mal zu Mal. Sie offenbaren systemische Defizite sowohl bei den Strukturen wie bei der konkreten Umsetzung.
Das Ensi als Institution ist seit den späten 1960er Jahren (damals als Abteilung für die Sicherheit von Kernanlagen ASK, später als Hauptabteilung HSK) im Entsorgungsprozess eingebunden. Die Nagra stiess anno 1972 als frisch gegründete Genossenschaft der Abfallproduzenten dazu und wurde rasch zur führenden Entsorgungsinstitution der Schweiz.
Das Bundesamt für Energie (BFE) schaute dem Entsorgungsprozess während Jahrzehnten zu, liess ihn aber unbesehen in den Händen der Abfallproduzenten, gemäss dem so genannten „Verursacherprinzip“. Erst das Scheitern des Nagra-Projektes am Wellenberg zeigte auch dem BFE auf, dass ein vermehrtes Engagement des Bundes erforderlich ist. So übernahm es im Grunde gegen seinen Willen im Rahmen des Sachplans geologische Tiefenlager formell Führungs- und Koordinationsaufgaben, zunächst während der konzeptionellen Phase 2005 bis 2007, danach ab 2008 bei dessen Ausführung. Die im Laufe der Jahrzehnte entstandenen Muster bei der (Nicht-)Führung des Prozesses sowie die damit einhergehenden Strukturprobleme bestehen jedoch nach wie vor. Das BFE verstand seine neue Rolle nie als eigentliches Führungs- und Koordinationsorgan. Auch im Sachplan sieht es sich bloss als Organisator und Begleiter eines politischen Prozesses. Doch diese bescheidene Rolle ist absolut ungenügend für die anspruchsvolle Aufgabe einer Standortsuche. Darum stösst das Amt – wie bei allen Institutionen im Entsorgungsbereich bekannt – laufend an seine Grenzen. Im Klartext: Das Amt ist in höchstem Mass überfordert.
Beim Ensi sind die Defizite in erster Linie strukturell. Wie wir im Blog vom 1. Mai 2017 zeigten, überwacht und begutachtet die Sicherheitsagentur passiv. Sie akzeptiert die Rolle der Nagra als Gesamtplaner des Entsorgungsprogramms und wartet zu, bis die Genossenschaft wieder um einen Planungsschritt weiter ist und Unterlagen dazu vorlegt. Das ENSI traut sich nicht, eigene planerische Vorgaben gegen den Willen der Genossenschaft zu formulieren. Dies mag auch daran liegen, dass die Kompetenzen des ENSI im Planungsprozess gesetzlich nur schwach abgestützt sind. Man muss fragen, ob es überhaupt ein Aufsichtsmandat hat, oder ob es bloss Berichte der Nagra begutachtet und kommentiert. Die gesetzlich schwach abgestützte Position des Ensi mag einen Teil der Passivität erklären, mit der es an seine Aufgaben herangeht. Doch wie beim BFE haben sich Haltungen und Reaktionsmuster als eigentliche Alltagskultur herausgebildet, die auf vorsichtigem Abwarten und zögerlichen Reaktionen beruht. Damit aber kann das Ensi seine Aufgabe als Sicherheitsbehörde definitiv nicht erfüllen.
Die Nagra als Generalplaner von geologischen Tiefenlagern ist eine Institution der Kernenergieproduzenten. Seit 1972 führt sie in deren Auftrag die Programme für die Entsorgung radioaktiver Abfälle in der Schweiz durch – mit äusserst geringem Erfolg, wie unser Blog in diversen Beiträgen aufzeigt. Einst behauptete die Nagra, über genügend Finanzmittel zu verfügen, um alle notwendigen Forschungsarbeiten durchzuführen. Heute bewegen sich ihre Arbeitgeber an der Grenze zur Pleite. Sie werden wohl längerfristig einzig über Bundes-Subventionen und „auf Befehl“ hoch gehaltene Strompreise für kleine Konsumenten überleben können („Marktwirtschaft“ . . .).
Nach der voraussichtlichen Aufgabe der Kernenergie vor dem Ende des Sachplans geologische Tiefenlager (voraussichtlich zwischen 2030 und 2035) wird der Bund die Nagra als Schweizerische Entsorgungsagentur für radioaktive Abfälle übernehmen müssen. Bisher ging es der Atomindustrie und ihrer Nagra in erster Linie darum, die Rahmenbewilligung für Tiefenlager zu erhalten, um sich die Möglichkeit zur Produktion von Atomstrom auch in Zukunft offen zu halten. Die Konsequenzen dieser Strategie sind offensichtlich: Die Nagra nahm immer Abkürzungen vor (z.B. AN11-711 zu Bözberg und Zürcher Weinland), führte wesentliche Programmteile in willkürlicher Ordnung durch (Festlegung der Sondierstandorte bevor 3D-Seismikresultate vorliegen) und vergass oder blendete ganze Programmteile aus (z.B. Untersuchung des Permokarbon-Trogs).
So kommt es, dass wir heute in vielen Fragen feststellen müssen: „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“ (J.W. Goethe, Faust).
„Wege aus der Entsorgungsfalle“
Dies ist kein Sprichwort aus Goethe’s Faust, sondern der Titel eines Buches, welches die Blog-Autoren vor 36 Jahren publizierten[3]. In vielen Punkten sind das Buch und seine Argumente auch heute noch von höchster Aktualität. In andern hat sich die Situation weiter entwickelt. Die Empfehlungen aus dem Jahr 1981 können darum nicht mehr ohne Anpassung übernommen werden. Wir verzichten hier darauf, all die Punkte nochmals aufzuführen und beschränken uns im vorliegenden Beitrag auf zwei Aspekte:
- Das Verhältnis zwischen den heutigen Kenntnissen zur Geologie der Schweiz und der geplanten Entsorgung im Rahmen von Projekt Gewähr (1978) und dem EKRA-Konzept (2000).
- Die Frage der Institutionen, die offensichtlich nicht in der Lage sind, die Entsorgung aus ihrer Falle zu erlösen.
Die seit der Publikation der „Wege aus der Entsorgungsfalle“ im Jahr 1981 gewonnenen Kenntnisse zur Geologie der Schweiz erschweren durchwegs Projekte für die sichere langfristige Lagerung radioaktiver Abfälle. Einige Beispiele:
- Dank der präziseren Lokalisierung der Erdbebenherde hat sich gezeigt, dass der Wellenberg selbst Bebenherde beherbergen kann[4]. Dies war eines der wesentlichen Elemente, das zur Disqualifizierung des Standorts führte.
- Bereits im Jahr 1983 wies die Tiefbohrung Weiach nach, dass der geologische Untergrund der Nordschweiz nicht einfach, wie von der Nagra früher angenommen, aus einem Massiv von Gneis und Granit besteht, sondern, dass darin ein tiefer, geologisch komplexer Permokarbon-Trog verläuft[5]. Dieser Trog war bereits von deutschen Geologen in den frühen siebziger Jahren postuliert worden, doch wurden deren Arbeiten von der Nagra bis zur Bohrung in Weiach im Jahre 1981 nicht einbezogen. Der Permokarbon-Trog könnte ein ernster Stolperstein bei der Planung eines Tiefenlagers werden. Er war auch in späteren geologischen Perioden aktiv; seine Ränder spielten etwa bei der Jurafaltung eine aktive Rolle. Der Trog beherbergt zudem auch Georessourcen wie Kohlenwasserstoffe, Geothermie[6] und eventuell auch metallische Rohstoffe.
- Die Glazialerosion hat vielerorts tiefere Auskolkungen verursacht, als ursprünglich erwartet[7]. Dadurch müssen eventuelle Lagerstandorte in grösserer Tiefe zu liegen kommen, als ursprünglich geplant war[8]. Damit ergeben sich neue Herausforderungen bzgl. Stabilität, Dimensionierung und Nutzung der Entsorgungsanlagen.
Die Konsequenzen dieser Erkenntnisse sind einschneidend. Sie passen aber nicht ins einfache Bild der administrativen Abwicklung des Sachplans. Die wichtigste Konsequenz liegt darin, dass wir heute nicht mehr auch nur halbwegs sicher sein können, für hoch radioaktive Abfälle und abgebrannte Brennelemente in der Schweiz einen langfristig wirklich allen Ansprüchen genügenden Lagerstandort zu finden. Eigentlich müsste die Lagerstrategie aufgrund dieser Erkenntnisse angepasst werden, selbst wenn dies den ursprünglichen Vorstellungen der Planer nicht mehr entspricht.
Unser zweiter Punkt ist ein Dauerbrenner. Er betrifft die Notwendigkeit, die Institutionen zu reformieren. Schon seit Jahrzehnten weisen wir darauf hin: Die Entsorgerorganisation Nagra, die nun seit 45 Jahren erfolglos Standorte sucht (!), muss aus ihrer Bindung an die Abfallproduzenten gelöst werden. Wenn sie je ein akzeptables Resultat vorlegen soll, muss sie aus den wirtschaftlichen Abhängigkeiten herausgelöst und als wissenschaftliche Institution positioniert werden. Ihr Arbeitsprogramm muss dem Fortschritt der Entsorgungsplanung angepasst werden, ebenso das laufende Budget. In diesen beiden Punkten ist ebenfalls eine von den Stromproduzenten unabhängige Überwachung notwendig.
Die Aufsichtsbehörde steht seit nunmehr 10 Jahren ohne Aufsicht da, d.h. seit der Auflösung der Kommission für die Sicherheit der Kernanlagen KSA. Die Konsequenzen sind desaströs (auch wenn dies die IAEA nicht so sieht!). Zur Korrektur der Situation sehen wir keine andere Lösung, als die heutige Kommission für nukleare Sicherheit (KNS) wieder so weit aufzubauen, dass sie dem Vier-Augen-Prinzip in der Aufsicht entsprechen kann.
Wesentlich ist, eine Prozessführung und -koordination einzuführen. Auf welche Art dies geschehen soll, ist uns noch nicht vollständig klar. Vermutlich ist eine Verbesserung im Rahmen des BFE kaum möglich, da hier die entsprechenden Fachkenntnisse schwer anzusiedeln sind. Denkbar ist die Schaffung einer ad-hoc Organisation, welche die entsprechenden Fachkompetenzen aus der zivilen Gesellschaft einbringen könnte.
In den nächsten Beiträgen werden wir uns also dieser Fragen annehmen: Wie muss ein Planungsprozess aussehen, dass er erfolgreich umgesetzt werden kann? Was bedeutet dies, wenn wir vermehrt mit unsern Nachbarn zusammengehen? Welche Strukturen sind dafür notwendig? Wie sind die Kompetenzen zu verteilen und gesetzlich abzusichern? Wie sieht eine Prozessführung aus, wie eine Aufsicht, wie eine ausführende Institution? Welche Rolle spielen die Sicherheits- und die Fehlerkultur? Welche Sicherungen müssen in einem derart heiklen politischen Prozess eingebaut werden? Dies sind heikle und vielschichtige Fragen, denen wir in den nächsten Wochen nachgehen werden.
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