Photo: Der Narrenspiegel am Rathaus in Nördlingen
Ein grosser Irrglauben der Kulturgeschichte war immer wieder der, zu denken, dass der Mensch „verbesserungsfähig“ oder „lernfähig“ sei. In der Antike probierten sich Generationen von Philosophen mit seiner moralischen Ertüchtigung. Ergebnislos, wie der antike Satiriker Lukian bissig bemerkte. Etwa in seinem „Lügenfreund“: „Kannst Du mir sagen, Philokles, was doch in aller Welt die Ursache sein mag, warum die meisten Menschen so gerne lügen, dass sie sich nicht nur selbst ein Vergnügen daraus machen, unglaubliche Geschichten zu erzählen, sondern auch ganz Ohr werden, wenn andere dergleichen Zeug zu Markte bringen?“ [1]
Die auf diese Epoche folgenden Kirchenväter zogen gegen solche und andere – etwas tiefer liegende – Praktiken rabiat zu Felde und erzogen die Menschen darum fortan nach vermeintlich göttlichen Prinzipien des Glaubens und der Moral – ein gescheitertes Unterfangen, wie wohl jeder mit Blick auf Rom und andere christliche Kirchen heute weiss. Nach etwas über mehr als 1’000 Jahre (ca. 40 Generationen) dieser Erziehungs-Kur fasste Erasmus von Rotterdam seine Erfahrungen zur menschlichen „Vollkommenheit“ nach dreijährigem Aufenthalt und Studium in Italien in seinem wundervollen „Lob der Torheit“ zusammen.[2] Er liess die Torheit selber berichten, über Selbstbetrug und Täuschung, über Dummheit, Eitelkeiten und all die anderen Maskenspiele des Menschen, was fürwahr sehr vergnüglich ist.
Aber jede Epoche hat nun mal ein Ende und so übernahmen die Aufklärer die Führung der gesellschaftlichen Fahrt auf Erden und predigten, dass Bildung und Aufklärung die grassierende Dummheit und die fehlende Moral beseitigen sollten. Bernard de Mandeville, Arzt, Frühaufklärer und Satiriker, liess in seiner Fabel über den „neoliberalen“ Bienenstock die Tierchen schon sehr „menschlich“ werden.[3] Es lebten jedenfalls im schönen „Bienenstock“ schon damals „Kuppler, Spieler, Parasiten, Quacksalber, Diebe und Banditen“, und auch bei den sogenannt Ehrlichen gab es schon „kein Fach und Amt im Land, wo Lug und Trug ganz unbekannt.“ [4] Mit einer nächsten gesellschaftlichen Spiegelung setzte Voltaire in seinem „Candide“ dem Irrglauben ein Ende, dass die beste aller Welten tatsächlich auf Erden zu finden sei, wie dies der Philosoph Pangloss (als alter ego Leibnitzs) bei jeder Gelegenheit blasiert verkündete. [5]
Nachdem dieses aufklärerische Programm nach wenigen Generationen ebenfalls definitiv im Morast der Amoral stecken blieb, und auch die paradiesisch anmutenden Programme der hegelschen und marxistischen Lehren ein krachendes Ende fanden, werden nun Stimmen wie jene des Philosophen Peter Sloterdijk laut, welche „Regeln für den Menschenpark“ [6] einführen wollen, in der Hoffnung, das unbotsmässige Verhalten dieses unbelehrbaren Gesellen doch irgend-wann-einmal zu zähmen, was die nächste Stufe einer Illusion darstellt. Die Erkenntnis, wonach der Mensch nämlich ein besonders Tier ist, mit grossen Fähigkeiten und einer begrenzt formbaren Moral, mag nämlich bitter klingen, aber sie ist eine Realität, die langsam doch etwas an Boden gewinnt. Der Historiker Philipp Blom schreibt dazu:
„Die Welt, ein Bienenvolk, dessen einzelne Mitglieder emsig lügend und betrügend dem Gemeinwohl dienen – die Schärfe von Mandevilles Fabel liegt nicht in ihren gereimten Beleidigungen, sondern in ihrer moralischen Intuition. Wir sind Tiere, suggeriert der Autor, wir leben nicht nach den Regeln einer abstrakten Moral, sondern nach unseren natürlichen Begierden. Es ist sinnlos zu versuchen, Menschen in etwas zu verwandeln, was sie nicht sind und nicht sein können. Homo sapiens ist ein cleverer Primat, aber er ist heute nicht klüger, als er es vor Jahrhunderten war – er hat nur grösseres Spielzeug.“[7]
Grösser und vor allem gefährlicher ist das Spielzeug, und wenn der clevere Primat weiterhin auf diesem Planet herumwandeln will, tut er gut daran, etwas von seiner Cleverness auch auf das Überleben der Spezies zu lenken. Zu den grossen Sorgen für das Überleben gehören – neben dem Artensterben und neuerdings auch dem Massensterben der Insekten, auch Micropollutants, Wasser- und Bodenverseuchung, Überfischung, Verpressung von giftigen Industrieabfällen in den Untergrund und Tiefuntergrund, Monokulturlandschaften und … und … und vieles andere mehr – auch der Umgang mit der atomaren Technologie, den radioaktiven Stoffen, dem Strahlenschutz und – last but not least – dem Atommüll sind dazuzurechnen. Es geht hier also nicht um Moral, sondern um ein klein bisschen mehr Grips, um etwas mehr Klugheit und Bescheidenheit bei der Fernsicht auf die Zukunft. Oder anders gesagt: um ein bisschen weitsichtigeres Steuerpersonal, um das grosse Narrenschiff[8] auf dem Plastikozean der Erde so zu steuern, dass nicht allzu viel Schaden entsteht beziehungsweise dieser sosolala in den Griff zu bekommen ist. Eines der Steuerprobleme mit Langzeitgefährdung und –Charakter betrifft natürlich das atomare Kapitel.
Dass eine verbesserte Spezies mit neuen Einsichten und Weitsichten die Steuerung der menschlichen Gesellschaft also übernehmen soll oder kann, ist wie gesagt wenig wahrscheinlich. Wie dann aber mit Risiken umgehen, die nicht nur unsere eigene Generation betreffen, sondern einen ganzen Rattenschwanz von Enkel- und Urenkelgenerationen mit einbeziehen? Wie können Sicherungen in das heutige Machtgefüge und die Entscheidungsstrukturen eingebaut werden, damit bessere Entscheide zustande kommen und wirksamere Korrekturmassnahmen als zuvor umgesetzt werden können?
Übersetzt auf die atomare Problemlage der Umweltbedrohungen im Allgemeinen und jene der Risiken im Umgang mit der radioaktiven Bedrohung im Speziellen könnte dies heissen, die Prinzipien einer „offenen Gesellschaft“ zu respektieren und möglichst zu integrieren,[9] also in erster Linie möglichst viel Transparenz und eine offene Diskussionskultur in einem grundlegenden historischen Transformationsprozess vorzuleben, der gegenwärtig abläuft. Und zwar nicht auf Papier. Es sind vor allem Strukturen und Prozeduren neu zu installieren, die eine verbesserte Lenkung von Programmen ermöglichen und Korrekturen zulassen, um vorhersehbare Abstürze zu vermeiden. Darum heisst ein Aus für gefährliche Technologien auch ein Aus, und nicht ein Verlängern des Aus.
Es braucht dazu also nicht grosse „revolutionäre“ Visionen von besseren Welten für die Zukunft. Was nötig ist, ist eine pragmatische und weitsichtige, mühselige und konstante Alltagsarbeit, um ein System umzugestalten und mit verbindlichen Regeln zu formen, welche ein besseres und risikoärmeres Management von solchen Programmen ermöglicht. Ein System, das auch Kritik zulässt, aufnimmt, in den Prozess integriert und neu entscheidet. Eine öfters beschwerliche Alltagsarbeit, die auch jeder Bauer in seinem Kuhstall täglich macht: das Ausmisten dessen, was nicht mehr zu gebrauchen ist. Dieses gründliche Ausmisten ist auch für die Atomtechnologie, und im Kleinen für das Schweizer Atom-Programm samt Entsorgungsstrukturen, längst fällig (siehe unser Blog-Beitrag vom 18. April 2016[10]). Wir laden darum die politischen Behörden dieses Landes ein, dieses grosse Ausmisten hierzulande einzuleiten – und zwar bevor es später sehr viel schmerzhafter zu uns kommt.
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